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Es gibt da natürlich Bedenken, aber der Gedanke ist zu verlockend. Heraus aus dem engen Kreis der Höhle, andere Menschen sehen, eine Hochzeit zwischen zwei schönen jungen Menschen feiern. Lauter Neuigkeiten, die noch vor ein paar Tagen unerreichbar waren. Simon überlegt nur einen Tag, dann ruft er die Gruppe zusammen, um ihr Eugens Vorschlag zu unterbreiten.
Er selbst unterstütze diesen Vorschlag, sagt er noch.
Die meisten Mitglieder der Gruppe sind zuerst einmal erschrocken. Zu abenteuerlich ist diese Idee. Aber dann kommt die Neugierde auf, verbreitet sich in wenigen Minuten hektischen Palaverns. Als abgestimmt wird, sind alle dafür, zu fahren. Einige werden zurückbleiben müssen, weil sie mit Sicherheit unfähig sein werden, Rad fahren zu lernen.
Die ganze Gruppe geht mit großem Eifer ans Werk, denn in zwei Wochen soll die Hochzeit sein. Fahrräder sind in genügender Zahl vorhanden und werden hergerichtet. Simon hat nachgelesen und weiß jetzt sogar, wie man zerstörte Reifen flickt. Das Gummi wird elastisch gemacht, indem man es in warmes Öl legt, das jemand gefunden hat. Dann, als die Räder fertig sind, beginnt die ganze Gruppe das Fahren zu üben. Zu Simons Überraschung lernen alle Mitglieder, die an der Fahrt teilnehmen sollen, ziemlich schnell. Die Erwartung scheint sie anzuspornen.
Es gibt noch eine Überraschung. Robert, der Narr, der nicht sprechen konnte und dem die Koordination einfachster Bewegungen Schwierigkeiten machte, Robert lernt Rad fahren. An einem Spätnachmittag war es gewesen. Die, die geübt hatten, hatten ihre Fahrräder am Straßenrand abgestellt. Robert, der den Übenden vom Straßenrand aus zugesehen hatte, schlich sich an eines der Räder heran, stellte den Fuß auf das linke Pedal, schob hüpfend an und fuhr gleich darauf sicher und gewandt die Straße entlang. Simon wusste nicht, wie er sich die Sache erklären sollte. Er bestellte Robert zu sich. Der Narr grinste ihn aus seinem lippenlosen Gesicht an und schwieg. Erst als Simon ihn im Scherz fragte, ob er denn jetzt auch mit nach Nürnberg fahren wolle, hörte Robert auf zu grinsen und nickte heftig mit dem Kopf.
Simon war mehr als erstaunt. Robert verstand doch sonst nie. Er konnte einfache Arbeiten verrichten, ja, aber nur, wenn man sie ihm augenfällig demonstriert hatte. Vielleicht war das Kopfnicken nur Zufall gewesen?
Um das zu überprüfen, formulierte Simon die Frage um. »Du willst hierbleiben und nicht mit nach Nürnberg fahren?«, fragte er.
Sofort schüttelte Robert energisch den Kopf. Ganz offenbar wusste er wenigstens in diesem Fall ganz genau, was er wollte.
Simon sah keinen Grund, warum man Robert nicht mitnehmen sollte. Man baute noch ein weiteres Fahrrad für Robert. Stolz und sicher fuhr der Narr vor der erstaunten Gruppe die schwierigsten Kurven. Es war, als wollte er noch einmal beweisen, dass er sehr wohl imstande sein würde, die Fahrt zu den Hochzeitsfeierlichkeiten mitzumachen.
Es ist der 2. Oktober. Die Gruppe bricht auf. Simon, der wegen seines Asthmas nicht richtig in die Pedale treten kann, hat auf dem Rücksitz des einzigen Tandems der Gruppe Platz gefunden. Ein kräftiger Mann sitzt vor ihm und nimmt ihm die meiste Fahrarbeit ab. Die Zurückbleibenden, Narren, Kinder und fahruntaugliche Krüppel, haben zum Abschied gewunken. Genau nach Eugens Anweisungen sucht die seltsame Karawane ihren Weg.
Eugens Beschreibung ist gut. Ohne alle Probleme fährt die Gruppe an dem zu runden Klumpen zusammengeschmolzenen Nürnberg vorbei in den Süden. Am Mittag des 4. Oktober kommen sie, durch lautes Geschrei der fremden Gruppe willkommen geheißen, in deren Dorf an. Bewundernde Blicke folgen Eugen und Simon, als sie sich begrüßen. Das sind die beiden Männer, die dies möglich gemacht haben. Solche Männer werden es sein, die den Fortbestand der Menschheit ins Werk setzen. Tatkräftig, entschlossen, mutig.
Weil sie an dem Transport von Jolanda keine Verdienste haben erwerben können, haben es sich die Mitglieder der anderen Gruppe angelegen sein lassen, die Hochzeit so vorzubereiten, dass sie als ein unvergessliches, prachtvolles Ereignis gefeiert werden kann. Essen und Trinken, lange Tischreihen, feierliche Kleidung, alles ist vorhanden.
Am 7. Oktober, einem Samstag, findet die Hochzeit statt. Eugen, Simon und die besten Männer der anderen Gruppe haben sich zusammengesetzt, um eine Zeremonie auszuarbeiten, die dem Anlass entsprechen kann. Der Initiative Simons ist es zu verdanken, dass diese Hochzeit den Hochzeiten vor dem Krieg gleicht. Hier, mit zwei Menschen, die alle Eigenschaften, die die Menschen vor dem Krieg hatten, unverfälscht bewahrt haben, sollte die Vermählung möglichst so vor sich gehen, wie es vor dem Krieg üblich war. So hatte Simon argumentiert, und er hatte ›Vermählung‹ gesagt, ein Wort, das bis dahin nicht einmal Eugen gekannt hatte.
So hat man denn am Abend des 6. Oktober bereits gefeiert. Polterabend habe man diese Feier vor dem Krieg genannt, weiß Simon zu berichten. Am Morgen des 7. Oktober treffen sich alle im schönsten Haus des Dorfes. Vorne hat man einen großen Tisch aufgestellt. Das Brautpaar tritt durch die rückwärtige Tür des kleinen Saales und schreitet durch einen von allen Gruppenmitgliedern gebildeten Gang nach vorne. Aus einem Lautsprecher scheppert ein Marsch. Es ist die einzige Platte, die die Nürnberger Gruppe besitzt. Man ist stolz auf diese Musik, die sogleich eine gewisse Festlichkeit garantiert.
Jolanda hat ein weißes Kleid bekommen und dazu einen Schleier. Ihr Mann, der sie um mehr als zwei Köpfe überragt, trägt einen abgewetzten schwarzen Anzug und eine dunkelrote Schleife. Kaum jemand in dem Saal kann seine Rührung verbergen. Einige Frauen weinen.
Vorne, hinter dem Tisch und mit dem Gesicht zum Publikum, stehen Eugen, Simon und zwei Männer aus der Nürnberger Gruppe. Diese vier Männer haben in den Tagen zuvor die Einzelheiten der Zeremonie festgelegt. Ihre Kenntnisse der Geschichte haben ihnen dabei geholfen. Man war sich einig gewesen, dass es so, wie es bisher in den Gruppen üblich gewesen war, nicht zugehen durfte. Sonst waren die Mitglieder, die einen Geschlechtspartner gefunden hatten, zu den Anführern der Gruppen gegangen und hatten das einfach mitgeteilt. Die Anführer legten dann im Gespräch mit den zukünftigen Eheleuten fest, ob diese Kinder bekommen sollten. Wenn dies nicht geraten schien, wurde über mögliche Methoden der Empfängnisverhütung gesprochen. Das war alles.
Jetzt besann man sich in den Gruppen der Tradition. Wie war es früher gewesen? Da hatte man ein Fest veranstaltet. Freunde eingeladen. Nachdem sich die Frau und der Mann das sogenannte Jawort – was für ein schöner altertümlicher Ausdruck! – gegeben hatten, aß und trank man zusammen. So soll es dieses Mal wieder sein, denn die beiden, die da heiraten, sind neue Menschen, weil sie den alten Menschen so sehr ähnlich sind.
Jolanda und ihr zukünftiger Ehemann stehen jetzt vor dem Tisch. Simon ist zuerst an der Reihe. Er spricht von der Schönheit der beiden jungen Leute, er erinnert an die Zeit vor dem Krieg, deren Errungenschaften und Feste. Anschließend rühmt einer der Männer aus der Nürnberger Gruppe den Mut der Mitglieder der fremden Gruppe. Mehrmals spricht er von ›unseren Freunden aus den Bergen‹. Es hat den Anschein, dass er sich unter der Heimat der Höhlenbewohner ein furchtbares, hohes Gebirge vorstellt. Eugen erwähnt er gesondert und nennt ihn mutig und stark. Eugens Miene zeigt eine Mischung aus Ironie und Stolz.
Dann ist der Augenblick der eigentlichen Trauung gekommen. Zuerst tritt Jolanda einen Schritt vor, und Simon, der nun an der Reihe ist, bemüht sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben und das Keuchen zu unterdrücken. Er hat sich feierliche Formeln ausgedacht. Jeder Zuhörer spürt die kleine Erhabenheit dieser Stunde.
»Ich also will dich, Jolanda, fragen, ob es dein Wille ist, dich dem neben dir stehenden jungen Mann zu vermählen. Ist es so, dann antworte mit einem vernehmlichen Ja.«
In der allgemeinen Rührung und weil niemand diese Sprache überhaupt noch kennt, ist untergegangen, dass Jolanda offensichtlich ein wenig konsterniert ist. Die geschwungenen Sätze Simons fliegen über das Maß des ihr gerade noch Verständlichen kühn hinweg, verbreiten eine wolkige Stimmung in dem Raum, ohne auf ihre Beklemmung Rücksicht zu nehmen. In der Aufregung der vergangenen Tage sind in Jolandas Gesicht drei große Pickel gewachsen, haben sich rötlich angefüllt und blühen jetzt, in der entscheidenden Stunde, auf das Heftigste. Auch die kleinen Ungereimtheiten des Protokolls fallen niemandem auf. Nun, da Jolanda vorgetreten ist, steht sie nicht mehr neben dem schwarzhaarigen jungen Mann. Aber soll eine solche Kleinigkeit überhaupt beachtet werden? Nein, das wäre schamlos.
Jolanda öffnet ihren kleinen Mund. Er bleibt für einen Moment offen stehen, dann sagt sie mit ihrer schönen, klaren Stimme: »Jaaa!«
Sie hat das Ja ein wenig hingezogen. Der hinter ihr stehende Mann ist, kaum dass sie dieses Wort gesprochen hat, mit einem eiligen Schritt neben sie getreten. Der Repräsentant der Nürnberger Gruppe, der bis dahin geschwiegen hat, spricht jetzt im Wortlaut Simons Formel nach. Nur dass er für Jolandas Namen den des Jungen einsetzt: Patrick. Auch der Junge antwortet mit einem lang gezogenen Ja.
Gleich darauf bricht im Saal Jubel aus. Simon, der Zeremonienmeister, hat es so einstudiert. Jolanda und Patrick rühren sich nicht von der Stelle. Die Verwirrung ist den beiden Jungvermählten ins Gesicht geschrieben. Simon deutet die Miene der beiden als Ausdruck des Glücks, Eugen empfindet im Anblick der ganzen Szene ein Gefühl erregender Sonderbarkeit.
»Nun wollen wir feiern!«, sagt Simon und gibt dem Brautpaar einen Wink. Beide wenden sich um und schreiten mit bewusst langsamen Schritten zur Tür.
Die Zuschauer folgen. Draußen im Freien sind Tische und Bänke aufgestellt, und es beginnt das Hochzeitsessen, ein Mahl mit ungeahnten Überraschungen in der Speisenfolge. Von allem ist genug da, Bohnen, Salat, verschiedene Soßen und vor allem: Fleisch. Genießbares, zartes Fleisch. Dazu serviert man Einheimischen wie Gästen Apfelwein. Es ist mit einem Wort ein wunderbares, unvergessliches Fest. Eugen und Simon gehen, nachdem sie gegessen haben, zwischen den Tischen umher. Überall sagt man ihnen, wie unvergleichlich schön die Trauung am Morgen gewesen sei, wirklich unvergleichlich schön.
Es ist Eugen, der am Mittag bemerkt, dass Robert nicht unter den Hochzeitsgästen sitzt. Er fragt zuerst Simon. Auch der weiß nicht zu sagen, wann Robert sich entfernt hat. War er überhaupt bei der Trauung anwesend? Sie wissen es nicht. Sollte man das ganze Fest zerstören, jetzt, da die Stimmung ihren ersten Höhepunkt erreicht hat? Simon und Eugen beschließen, erst einmal unauffällig zu suchen. Sie vergewissern sich, dass Robert wirklich nicht bei den anderen sitzt, dann gehen sie durchs Dorf. Als sie den Narren nach einer halben Stunde noch nicht gefunden haben, wird Simon unruhig, während Eugen meint, dass Robert schon in der Nähe sein werde. Er habe sich doch nie von der Gruppe entfernt.
Eugen behält recht. Nach ungefähr einer Stunde finden sie Robert hinter einem Haus am Rande des Dorfes. Er sitzt ruhig auf dem Boden und blinzelt in die Sonne.
»Möchtest du nicht mit uns feiern, Robert?«, fragt Eugen.
Robert scheint die Frage verstanden zu haben. Langsam, ohne Simon und Eugen anzublicken, schüttelt er den Kopf. Er ist – ja, er ist ohne Frage traurig, und Trauer hat man zu respektieren. Die Trauer der Narren ist in nichts geringer als die der Verständigen. Robert wird, wenn das Fest geendet hat, wieder mit zurückfahren, gewiss. Jetzt soll er, wenn er es so will, hier allein bleiben dürfen.
Als Eugen und Simon schweigend zum Festplatz zurückgehen, sind sie sich, ohne dass sie darüber ein Wort verlieren müssten, darin einig, dass Roberts Trauer dem Tag nichts von seiner Feierlichkeit nimmt. Der Kontrast erhöht das freudige Gefühl, gibt der Festlichkeit eine gewisse Randschärfe und verhindert so, dass der Tag ins diffuse Wohlgefühl abgleitet.
»Wir werden hoffen dürfen«, sagt Simon endlich. Er fügt nicht hinzu, worauf sie hoffen sollen. Aber das ist auch nicht notwendig. Eugen grinst ihn von der Seite her an. In spöttischer, herzlicher Freundschaft.
1980 Ein Mann für Jolanda. Aus: SF-International 1. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Goldmann. Goldmann TB 23345.
Das Mädchen aus der weißen Zeit
»Georg, wir gehen jetzt«, rief Frau Klein und hob ihre Skier auf. Georg ging zur Tür seines Zimmers, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Sie fuhr zusammen mit seinem Vater und Katia, seiner Schwester, über das Wochenende zum Skilaufen. »Ja, tschüs denn!«
»Willst du nicht noch mit rauskommen und Vater und Katia Auf Wiedersehen sagen?«, fragte Frau Klein.
»Ach Gott, ihr fahrt doch nicht zum Südpol! Sag ihnen halt, dass ich mich hier verabschiedet habe.«
Frau Klein warf ihrem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu, so einen Ja-wenn-die-Kinder-älter-werden!-Blick, dann ging sie aus der Wohnung, und Georg trottete zur Haustür, um sie hinter seiner Mutter zuzumachen. Er fühlte sich sehr unwohl. Alle diese Bräuche! Guten Tag und Auf Wiedersehn, Mein Name ist – Gestatten Sie, dass – Dürfte ich Sie bitten – idiotisch! Die ganze Welt ging ihm auf die Nerven. Es war Zeit, dass er in sein Labor kam und nichts mehr von diesem ganzen Firlefanz hörte. Er nahm den Schlüssel vom Brett und ging hinunter in den Keller.
Hier im Keller, in seinem kleinen Labor, fühlte er sich wohl. Hier hatte er alle Bücher, Aufsätze, Tabellen, Werkzeuge und Materialien, um sich seine eigenen Dinge zu bauen. Das, was ihn interessierte. Seine Eltern und Katia verstanden davon sowieso nichts. Es war gut, dass sie weggefahren waren. So hatte er Zeit für sein entscheidendes Experiment. Die neue Chronobox war schon seit über vier Wochen fertig, und alle Tests waren erfolgreich verlaufen. Gegenüber der alten hatte er diese Box in vielen Punkten verbessert. Außerdem war sie jetzt so geräumig, dass er bequem selbst darin Platz hatte. Natürlich war sie nicht so groß wie die Riesenboxen in den Labors der Universitäten und der Industrie, aber das war egal. Die Technik beherrschte er jedenfalls. Georg betrachtete die Kontrollinstrumente. Die Box wurde seit dem Vormittag aufgeladen. Noch eine Viertelstunde ungefähr, dann war es soweit. Er setzte sich in den alten Sessel in der Ecke und stellte auf dem kleinen Rechner die Vibrationswerte ein. Alles andere konnte er vom Innern der Box aus steuern. Er wartete. Eine rote Lampe leuchtete auf und zeigte an, dass die Ladung für die Box ausreichend war. Jetzt – ja, jetzt war es soweit. Georg stand auf und mühte sich um Festigkeit und Entschlossenheit. Er zitterte trotzdem ein wenig. Angst war das nicht. Das Gefühl ähnelte jenem Schwindel, der einen überkommt, wenn man in großer Höhe über ein breites, festes Brett gehen soll. Wenn das Brett sich am Boden oder nur einen Meter darüber befände, dann wäre alles ganz leicht. Aber so?
Überlege nicht zu viel, sagte Georg zu sich selbst. Es ist alles in Ordnung. Er legte die Hand auf den schweren Würfel in der Mitte des Raums. Kaum mehr als einen Meter Kantenlänge hatte das Ding. Aber es würde genügen. Er hatte es ja schon ausprobiert. Er passte bequem hinein. Also, Luke auf!
Georg drückte auf den Knopf des elektrischen Flaschenzugs. Der Elektromotor straffte die Kette und hob langsam und gleichmäßig den schweren Deckel der Kiste hoch. Ungefähr einen halben Meter über der Box blieb der Lukendeckel dann stehen, und Georg stieg ein. Vor sich hatte er die schmale Konsole mit den Instrumenten. Die Innenbedienung für den Flaschenzug, die Anzeigen für die Vibrationswerte und die Zeit- und Raumkoordinaten, die verschiedenen Stellhebel zur Veränderung der Koordinaten während der Fahrt – und dann der rote Startknopf. Von oben tönte das Summen des Flaschenzugs, der die Decke auf die Luke herunterließ. Das harte Einrasten des zentnerschweren Stahlbetonteils, das die Umgebung schützen sollte – fertig? Ja, fertig, natürlich. Was würde geschehen, wenn er – vielleicht fand er nicht mehr zurück, oder die Reise wurde nicht richtig gesteuert? Inmitten seiner Zweifel und Überlegungen, plötzlich und sogar für sich selbst ein wenig noch überraschend, drückte Georg auf den roten Knopf. Für einen kurzen Augenblick geschah nichts, und er glaubte eben diesen kurzen Augenblick lang, dass nun gar nichts mehr geschehen würde.
Aber dann setzten die Vibrationen ein. Das Innere des Betonwürfels zerstob in weniger als einer tausendstel Sekunde. Dass er zu wenig Dämpfung habe, dachte Georg noch, dann verlor er das Bewusstsein.
Als Georg Klein aus der Ohnmacht erwachte, glaubte er zuerst, er befände sich noch immer im Innern der Chronobox. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein entscheidendes Experiment gelungen war. Nach einigen Überlegungen griff er nach oben und löste den Verriegelungshebel. Als die Luke daraufhin einen Spaltbreit aufsprang, wusste er, dass er nicht mehr in seinem kleinen Kellerlabor war: Blau. Blauer Himmel! Nein, doch nicht. Aber was? Georg richtete sich auf, indem er mit einer Hand die Luke ganz aufdrückte. Er stand in der inneren Schale seiner Chronobox. Die äußere, zentnerschwere Hülle war verschwunden, sie war im Labor zurückgeblieben. Hier war nur der dünne Metallmantel des Innenraums. Also war das Experiment doch gelungen. Aber was bedeutete das? Wo war er, und in welcher Zeit befand er sich? Georg hatte sich lange genug mit der Theorie der Raum-Zeit-Verschiebung beschäftigt und wusste, dass diese Fragen, auch wenn man sie fast zwangsläufig stellen wollte, völlig ohne Sinn waren. Er war außerhalb des Weltraums, in dem sich die Erde drehte. Deshalb war es sinnlos, zu fragen, wo er sich jetzt befand. Diese Welt hier war wirklich, und sie war es auch nicht. Wenn man, wie er, hier stand, dann war alles real und deutlich sichtbar. Für die anderen Menschen aber, für seine Eltern und für Katia zum Beispiel, existierte sie weniger als ein Traum in seinem Kopf. So war das nun einmal, auch wenn man es zuerst nicht so recht glauben konnte. Als Georg sich, noch immer in der inneren Schale stehend, die Umgebung besah, wunderte er sich. Alles hier war vertraut und doch wieder sehr merkwürdig. Das Gras und die Sträucher – er stand mitten in einem grünen Garten. Aber das Grün war dunkel, fast blau, und die Sträucher sahen seltsam unecht aus. Und außerdem das Licht! Auch das Licht war bläulich. Ganz weich und diffus war dieses Licht, sodass es keine Schatten warf, sondern alle Pflanzen dicht umschloss und sie, zumindest dem Anschein nach, dichter zusammenrückte, als es der Wirklichkeit entsprechen mochte. Nachdem er aus dem Würfel der inneren Chronobox ausgestiegen war, schaute Georg zuerst zum Himmel, um zu überprüfen, woher dieses überaus seltsame blaue Licht kam. Es gab nirgends eine Sonne, obwohl keine Wolken zu sehen waren. Das Blau wurde, wenn man hinaufsah, nur immer dichter. Es wölbte sich und fiel, irgendwo hinter Bäumen und Sträuchern, hinunter zum Horizont. Hier also war er gelandet. Es sah nicht so aus, als ob es hier viel zu entdecken gäbe. Vermutlich war diese Welt unbewohnt. Ein unbewohnter, gut gepflegter Garten, angenehm, aber langweilig. Leben konnte man hier, gewiss. Die Sensoren der Chronobox, die verhinderten, dass die Box auf einem unbewohnbaren, toten Planeten landete, diese Sensoren hatten gut gearbeitet. Aber gegen Langeweile gab es keine Außenfühler. Er konnte trotzdem zufrieden sein. Vielleicht war es richtig so. Zuviel Aufregung auf einmal war auch nicht gut. So konnte er, ohne dass er sich um seine Box Sorgen zu machen brauchte, zu einem Spaziergang aufbrechen und die nähere Umgebung erkunden.
In einer nicht allzu großen Entfernung – die genaue Distanz war wegen der ungewohnten Lichtverhältnisse nicht zu bestimmen – erhob sich ein Hügel aus dem ansonsten flachen Garten. Dahin wollte Georg zuerst gehen. Wenn er auf den Hügel stieg, hatte er einen guten Rundumblick über die kleineren Bäume hinweg. Er nahm ein kleines Peilgerät aus dem Innern der Box und machte sich auf den Weg. Das Peilgerät würde ihn sicher wieder zu seiner Chronobox zurückleiten, auch wenn er sich auf seinem Marsch zu dem Hügel weiter als erwartet entfernen sollte.
Nach einem Fußmarsch von ungefähr einer Viertelstunde langte er in der Nähe des Hügels an. Während des ganzen Weges war es ganz still gewesen. Diese vollkommene Stille, in der es nicht einmal das Rauschen von Blättern gab, war wohl das einzige Unheimliche hier. Aber dann, plötzlich, Georg wollte gerade an einem Baum vorbei zum Fuß des Hügels gehen, da hörte er ein vieltausendstimmiges Zwitschern, und gleich darauf stieg hinter dem Hügel eine bunte Wolke auf und breitete sich mit großer Schnelligkeit über diesen ganzen Garten aus. Jetzt war mit einem Male Leben überall, denn diese bunte Wolke hatte aus unzähligen kleinen Vögeln bestanden, die sich auf die Bäume niedergelassen hatten. Dort saßen sie jetzt. Die Kronen der Bäume hatten viele bunte Tupfen, und diese kleinen Flecken schrien und sangen eine seltsame, unabgestimmte, aber doch wieder zusammentönende Melodie.
War dieses Auftauchen der Vögel schon eine Überraschung, bei der Georg Klein stehen geblieben und dann, ohne nachzudenken, hinter einen nahestehenden Baum gelaufen war, so gewahrte er jetzt etwas noch viel Merkwürdigeres. Auf dem Hügel erschienen – Menschen. Zuerst nur einige, in kleinen Gruppen, dann immer mehr. Monströse Tiere, Ungeheuer, auf so etwas war Georg Klein gefasst gewesen. Er wäre erschrocken, gewiss, aber er hätte sich dann gesagt, dass er schließlich in einer völlig unbekannten Welt war. Aber dass er Menschen antreffen würde, unzweifelhaft zweibeinige, aufrecht gehende und miteinander sprechende Menschen, nein, das war nicht zu erwarten gewesen. Flucht? Diese Menschen sahen nicht so aus, als ob sie jemandem Anlass geben würden, vor ihnen die Flucht zu ergreifen. Sie gingen langsam, ein wenig stolzierend, machten gemessene, sparsame Handbewegungen und schienen im Übrigen an nichts anderem als an ihren Gesprächen interessiert. Dennoch war es natürlich unsicher, was diese Menschen tun würden, wenn sie einen Fremden anträfen.
Der unterste Ast des Baumes war nicht allzu hoch, und Georg ergriff ihn, schlang ein Bein um den danebenliegenden Ast und kletterte weiter nach oben. Hier konnte er sicher sein, dass ihn diese Menschen nicht so leicht entdecken würden. Er atmete, um sich zu beruhigen, lief durch und schaute durch eine Lücke im Blattwerk hinunter auf die blaugrüne Ebene und den Hügel. Die ersten kleinen Gruppen waren inzwischen schon ganz nahe herangekommen. Es war abzusehen, dass einige dieser Menschen direkt an dem Baum, auf dem Georg Klein saß, vorbeigehen würden. Jetzt, da sie nähergekommen waren, konnte man ihre Gesichter erkennen. Sie sind alle jung, ungefähr so alt wie ich, dachte Georg. Es gibt keine älteren Männer und Frauen unter ihnen. Das ist seltsam! Aber vielleicht folgen die Älteren später?
Inzwischen kamen keine neuen Menschen mehr über den Hügel, und alle die, die Georg jetzt sehen konnten, waren jung. Das war die eine Merkwürdigkeit. Die andere seltsame Sache: Alle diese jungen Leute trugen weiße Kleider, schneeweiße Kleider sogar, die nur einen Schimmer aus wechselndem Blau aufwiesen, wo der Stoff Falten warf. Diese Kleider waren bei den Jungen und den Mädchen vollkommen gleich geschnitten. Sie waren lang und ziemlich weit, allerdings nicht so weit, dass man nicht hätte erkennen können, dass diese Jungen und Mädchen athletisch und offenbar, trotz ihrer gemessenen Bewegungen, auch sportlich trainiert waren. In Haut- und Haarfarbe glichen sie den verschiedenen Rassen auf der Erde. Es gab dunkle, bläulich schwarze und hellhäutig blonde und dazwischen jeden Ton.
Eine Erklärung dafür, dass es hier, in einer anderen Welt und in einem anderen Kosmos, Menschen gab, die sich in nichts von den Menschen auf der Erde unterschieden, nein, eine Erklärung dafür würde er nicht finden. Das wusste Georg. Jedenfalls so lange nicht, als er nicht mit diesen Menschen selbst sprechen oder sich wenigstens durch Zeichen verständlich machen konnte. Er überlegte, ob er es wagen sollte, den Baum zu verlassen. Diese Jungen und Mädchen sahen wirklich nicht kriegerisch oder gefährlich aus. Aber konnte er sicher sein, dass sie ihn nicht doch angreifen würden, vielleicht sogar mit Mitteln, die es auf der Erde nicht gab?