- -
- 100%
- +
„Na ja, unser Garten wird wohl auch bald so aussehen“, sage ich und will mich zum Gehen wenden.
„Ach, Sie sind die Neuen in unserer Gemeinde. Sie haben da ein schönes Häuschen gekauft“, kommt von ihr und ich bemerke einen komisch klingenden Unterton.
„Ja. Wir wohnen seit ein paar Tagen hier“, murmele ich und beobachte die Frau sehr intensiv, denn mir wird gleichzeitig etwas mulmig.
„Dann auf eine gute Nachbarschaft. Ich bin Frau Büttner“, sagt sie und reicht mir die Hand.
„Hallo, ich bin Frau Schmieder“, antworte ich, zögere aber, ihre Hand zu nehmen.
Das tut sie stattdessen und ich breche fast gleichzeitig zusammen.
Schon wieder machen sich die stechenden Schmerzen in meinem Kopf breit und ich suche nur noch nach einer Sitzgelegenheit. Zum Glück ist ein paar Schritte weiter eine Bushaltestelle und da steht auch eine Bank. Blitzschnell lasse ich mich auf ihr nieder und massiere meine pochenden Schläfen. Das nützt jedoch wenig und schon kommen die Bilder. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Gleichzeitig bemerke ich etwas verschwommen, wie sich Frau Büttner besorgt vor mich kniet und nach meinen Händen greift. Dadurch werden die Schmerzen noch intensiver und automatisch schließen sich meine Augen. Ich vermag es nicht zu verhindern und ihr ebenso nicht die Hände zu entziehen. So bin ich gezwungen, mir die Bilder anzusehen, ob ich will oder nicht.
Ich sehe wieder einen Mann, der auf dem Boden entlang kriecht. Es ist ein Dielenboden und scheint etwas älter zu sein. Er ist von stechendem Qualm umgeben, der komischerweise sogar mir im Hals kratzt. Irgendwo brennt es und er kämpft sich mit letzter Kraft zu einer Klappe und rüttelt daran. Er ist anscheinend auf einem Dachboden und ich kann nur vermuten, dass es die Bodenluke ist, die nach unten ins Haus führt.
So sehr er auch zieht und klopft, sie lässt sich nicht öffnen. Es dauert nicht lange und ihm verlassen die Kräfte und er sackt in sich zusammen. Das letzte Bild zeigt mir, wie er leblos vor der Luke liegen bleibt, die seine Rettung hätte sein können.
Es kratzt in meinem Hals und ich muss husten. Dann öffne ich wieder meine Augen. Auch sie brennen, als hätte ich mich gerade selbst in diesem Qualm aufgehalten. Frau Büttner hält immer noch meine Hände und ich will sie ihr sofort entziehen, aber das ist nun nicht mehr nötig. Ich habe alles gesehen und glaube nicht, dass die Vision noch einmal aufflammt. Ein paar tiefe Atemzüge und das Kratzen im Hals lässt wieder nach. Dass ich jetzt die Visionen sogar körperlich mit durchlebe, ist auch etwas Neues. Was ist hier nur los? Wird es am Ende noch schlimmer? War es ein Fehler hierherzuziehen? Wurde ich in dem Traum über das Haus getäuscht? War es reine Absicht, dass wir in diesen Ort, in dieses Haus ziehen? Aber von wem?
„Frau Schmieder, alles in Ordnung?“, fragt mich die sehr nett scheinende Frau zögerlich, ja fast ängstlich.
„Es geht schon wieder. Ich habe ab und zu mal solche Attacken. Das ist Migräne“, lüge ich sie an, denn von meinen Visionen braucht sie nichts zu wissen. Keiner von hier sollte davon erfahren. Und sie brauchen es auch nicht, denn meine Hilfe brauchen sie offensichtlich nicht mehr.
Frau Büttner setzt sich neben mich und nun sehe ich erst, dass sie vollkommen in schwarz gekleidet ist. Ihr trauriger Blick ist an mir gefesselt. Also kam auch hier, wie ich schon vermutet habe, die Vision zu spät. Warum kann ich das sehen? Was soll ich damit anfangen? Es macht mich wütend nicht helfen zu können, denn das war immer der Sinn dieser Visionen.
„Frau Büttner kommen Sie bitte mal? Wir sollten noch einmal über die Dachschiefer reden“, unterbricht ein Mann meine Gedanken und ich schaue automatisch nach hinten. Das Dach wird gerade neu gedeckt und einer der Handwerker hat Frau Büttner gerufen.
Vor dem Haus liegen mehrere verkohlte Balken und an der Fassade sind Wasserschäden zu erkennen. Ich darf mir jedoch nicht anmerken lassen, dass das, was ich da sehe, mit meiner angeblichen Migräne zusammenhängt.
„Oh, was ist denn da passiert?“, frage ich deshalb anscheinend neugierig, wobei ich schon längst alles weiß, zumindest erahnen kann.
„Der Dachstuhl hat gebrannt“, antwortet mir die Frau leise.
„Um Himmels Willen, aber Hauptsache, das Haus ist nicht unbewohnbar“, flüstere ich und würde mich am liebsten davonschleichen. Einfach der unangenehmen Situation entfliehen. Mich hält jedoch etwas zurück.
„Wenn ich hätte wählen können, hätte ich auf das Haus gern verzichtet. Aber nicht auf meinen Mann“, seufzt Frau Büttner neben mir und nun bin ich es, die nach ihren Händen greift.
„Es tut mir so leid“, schlucke ich die Worte fast hinunter.
„Er wollte nur eine Kleinigkeit reparieren“, kommt noch leiser von ihr.
„Schon in Ordnung. Sie müssen mir nicht...“, beginne ich zu stottern, aber insgeheim steigt meine Neugierde auf das, was sie denkt zu wissen.
„Er hat es nicht mehr bis zur Bodenluke geschafft. Der Rauch war zu stark“, sagt sie und die Bilder flackern wieder vor meinem inneren Auge auf.
Er lag doch an der Luke, aber sie war verschlossen. Ich habe gesehen, wie er vergeblich versucht hat, sie zu öffnen. Das ist merkwürdig, mein Unterbewusstsein sagt mir jedoch, dass ich das für mich behalten sollte. Und wieder wird mir mulmig und ich spüre, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ich hatte zwei Visionen kurz hintereinander und jedes Mal war meine Hilfe nicht mehr nötig. Gerade das war sonst immer meine Aufgabe. Ich habe mich stets gut und bestätigt gefühlt, wenn ich helfen konnte. Aber jetzt fühle ich mich richtig schlecht, weil ich gesehen habe wie die Männer sterben und gleichzeitig platzt fast mein Kopf von den vielen Fragen, die sich darin breitmachen.
„Sie sollten zu dem Handwerker gehen. Der wollte doch mit Ihnen reden. Und ich muss auch nach Hause“, sage ich und stehe auf. Ich helfe ihr noch hoch und schon huscht sie durch das kleine Gartentürchen auf ihr Grundstück. Erst als sie im Haus verschwunden ist, mache ich mich auch auf den Weg.
Die letzten hundert Meter gehe ich mit gesenktem Kopf und meine Schritte werden wieder immer schneller. Mein Innerstes will einfach nicht mehr, dass ich noch jemanden begegne und ich werde auch niemanden dazu die Gelegenheit bieten.
Ein paar Minuten später schließe ich hastig die Haustür von innen und es kommt mir vor, als würde eine schwere Last von meinen Schultern fallen. Ich fühle mich hier sicher und vielleicht auch schon mehr zu Hause, wie es eigentlich sein sollte. Aber von der ersten Sekunde an fühlte es sich richtig und heimisch an und damit haben auch die Möbel zu tun, die ich alle unbedingt behalten wollte. Warum weiß ich ebenfalls bis heute nicht.
Aber was ist mit der Stadt und den Leuten? Werde ich noch mehr von diesen Visionen haben, wenn ich jemanden begegne? Kann ich ihnen irgendwie aus dem Weg gehen? Aber wie sollte ich das anstellen? Es gibt allerlei Besorgungen und die erledigen sich nicht von selbst.
Voll in den Gedanken gefangen lege ich das Päckchen vom Fleischer in den Kühlschrank und gehe in das Wohnzimmer. Augenblicklich werden meine Beine schwer und zwingen mich zum Hinzulegen. Kaum liege ich auf der Couch, fallen mir die Augen zu. Das Erlebte hat mich doch mehr mitgenommen, als ich mir vorgestellt habe, obwohl es eigentlich sonst erst hinterher richtig losgegangen ist. Ich musste immer alles organisieren und den Leuten Bescheid geben, damit den Menschen, meistens waren es Kinder, geholfen werden konnte. Jetzt ist aber alles schon vorbei und ich bin so geschafft und innerlich kaputt, was ich so noch nicht erlebt habe.
Ich lasse mir die Vorfälle zum wiederholten mal durch den Kopf gehen und suche nach irgendwelchen Lösungen. Ich komme jedoch nicht weit und alles verschwimmt, bis es nur noch schwarz ist.
„Schatz ich bin da“, höre ich Manuel und er reißt mich aus einem Zustand, den ich nicht als Schlaf zu benennen vermag.
Ich bleibe liegen, weil mein Körper sich wie Blei anfühlt und die Augenlider sind ebenso schwer, dass ich sie nicht auf bekomme. Also warte ich einfach, denn er wird schon zu mir kommen und so ist es auch.
„Alles Okay bei dir?“, fragt er mich. Ich schlage die Augen widerwillig auf und sehe ich ihn verschlafen an.
Er sitzt mir mit einem breiten Grinsen gegenüber, was ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen habe.
Ich setze mich auf und lächele ihn etwas gezwungen an, was er aber gar nicht wahrnimmt.
„Du kannst dir das nicht vorstellen. Ich bin der einzige Mann an dieser Schule, außer dem Hausmeister natürlich. Glaubst du das?“, spricht er weiter, ohne auf eine Antwort zu warten, auf seiner selbst gestellten Frage.
„Ich sehe es dir an. Du freust dich anscheinend wie ein Teenager darüber“, lache ich ihn nun aufrichtig an, denn ich bin mir sicher, dass das kein Problem für uns werden wird. Aber hier geht es ja auch nicht um ihn, anscheinend ziehe ich die Probleme magisch an.
Denn, was mir dagegen passiert ist, macht mir wirklich Sorgen. So ändert sich mein Gesichtsausdruck wieder und ich lasse mich zurück in die Polster fallen.
Wie soll ich das Manuel erklären, wenn ich es selbst kaum begreifen kann? Ich habe gehofft, dass sich hier alles ändert, jedoch das Gegenteil ist eingetreten. Manuel hatte wohl recht. Ist das etwa ein Puzzleteil? Aber wie passt das in mein Leben?
„Stella, was ist passiert?“ Manuel sieht plötzlich ernst aus und greift nach meiner Hand.
Ich weiß, dass ich mich gerade an diesen Händen festhalten kann, denn sie waren schon immer für mich da. Aber Manuel ist gerade so gut drauf. Kann ich ihn jetzt die gute Laune damit verderben? Während ich mir diese Frage stelle, klingelt es an der Tür und so komme ich gar nicht dazu, ihm irgendetwas zu erklären.
Er springt auf und läuft aus dem Wohnzimmer. Im Hintergrund höre ich, wie sich Manuel mit einer Frau unterhält, aber leider verstehe ich von hier aus kein einziges Wort. Kurz darauf schließt sich die Haustür wieder.
„Wer war das?“, will ich wissen und quäle mich von der Couch hoch. Wie benommen gehe ich in die Küche und sehe, wie Manuel gerade einen Kuchen auf die Arbeitsplatte stellt.
„Das war die Nachbarin. Sie begrüßt uns hier in der Gemeinde mit einem Kuchen. Ist doch nett, oder?“, wendet sich Manuel mir zu.
„Ja, sehr nett“, antworte ich und bin mir im selben Moment nicht ganz sicher. Die Erfahrungen mit den hier lebenden Leuten stecken mir wortwörtlich noch in den Knochen.
Aber der Kuchen sieht wirklich köstlich aus und so mache ich Kaffee. Nach ein paar Minuten ist er fertig und ich stelle Tassen und Teller auf das Tablett. Das Wetter ist so schön, da muss man draußen auf der Terrasse sitzen.
Ich hole ein Messer, um den Kuchen anzuschneiden. Aber als ich den Teller berühre, fällt es mir aus der Hand. Augenblicklich durchfährt ein fast nicht auszuhaltender Schmerz meinen Kopf. Meine Hände greifen nach Manuel und er kann mich gerade noch festhalten, sonst wäre ich gestürzt. Er bringt mich mit aller Kraft in das Wohnzimmer. Dort drückt er mich in einen Sessel. Reagieren ist nicht mehr möglich, ich schließe nur noch die Augen und dann sehe ich auch schon wieder die Bilder.
Ich bin mitten in einem Wald und vor mir stehen zwei Waldarbeiter. Sie haben die typischen grünen Arbeitssachen an und tragen orange Helme. Der eine hat eine Motorsäge in den Händen und sägt gerade eine große Fichte an, wo er als nächstes wahrscheinlich einen Keil hineinschlägt. Der andere wartet wahrscheinlich darauf, dass der Baum fällt, damit er danach mit seiner Säge die Äste entfernen kann. Im Augenwinkel sehe ich, wie er sich hinkniet und eine Flüssigkeit in das Gerät füllt. Ich kenne es von meinem Vater, er hat auch so eine Motorsäge. So muss es Öl oder Benzin sein. Aber die Bilder führen mich zurück zu den anderen Arbeiter. Dort ist indessen der Keil schon fast komplett in dem Baumstamm geschlagen. Sogar ich weiß, in welche Richtung der Baum fallen sollte. Aber so ist es nicht. Aus einem nicht ersichtlichen Grund beugt sich der gewaltige Stamm zur falschen Seite. Dann fällt er über den Schwerpunkt, was eigentlich gar nicht passieren dürfte, in die Richtung des immer noch knienden Arbeiters. Mir bleibt ein Schrei im Halse stecken, genauso wie dem Mann mit der laufenden Säge in der Hand und schon saust der Baum zu Boden. Dann wird es still. Das Gerät verstummt und sogar die Vögel hören auf zu singen. Absolute Stille erfüllt den gesamten Wald und langsam nähere ich mich den unter dem Baum liegenden Mann. Zwischen den Zweigen hindurch sehe ich ihn liegen. Den Helm hat er nicht mehr auf, der ist durch den Aufprall meterweit davongeflogen. Seine Augen sind weit geöffnet und aus Mund und Ohren läuft Blut. Ehe der andere Arbeiter bei ihm ist, wird mir wieder klar, dass auch er tot ist. Ich wende meinen Blick von ihm ab und bin gleichzeitig zurück in der Gegenwart.
Manuel sitzt vor mir auf dem Fußboden und hält meine Hände. Ihm steht das Entsetzten ins Gesicht geschrieben. Seine Augen beobachten jede Bewegung, die ich mache, aufmerksam und er ist wie auf dem Sprung. Wenn ich jetzt in Ohnmacht fallen würde, wäre er sofort da und würde mich auffangen.
Ich versuche, ruhig und gleichmäßig zu atmen und gleichzeitig lasse ich die Infos noch einmal durch meinen Kopf laufen. Wieder kommt die Hilfe, die ich anbieten könnte, zu spät. Das ist nun der dritte Mann, dem ich beim Sterben zusehen musste. Warum kommen diese Visionen? Was soll das verdammt noch mal, wenn ich sowieso nicht helfen kann? Das war doch immer so. Diese Gabe kommt mir plötzlich sinnlos und als eine unbeschreibliche Last vor.
„Stella“, höre ich Manuel ganz leise neben mir sagen.
„Das war die dritte Vision heute“, flüstere ich mit kratziger Stimme, denn mein Mund ist staubtrocken. Ich stehe auf und gehe mit immer noch zitternden Beinen in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Den Kaffee habe ich total vergessen, aber als ich den Kuchen sehe, schnürt es mir schon wieder die Kehle zu. Noch eine Vision von der Art erträgt mein Körper nicht mehr. Der Kopf fühlt sich wie in einem Schraubstock an und ich muss mich anstrengen, überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können.
„Was hast du gesehen? Wo müssen wir hin?“, fragt Manuel aufgeregt. Er ist schon fast an der Tür und wartet nur noch auf mich. Er denkt natürlich, dass jetzt jemand schnellstens meine Hilfe braucht, wie es auch normalerweise wäre.
„Wir müssen nirgendwohin“, erwidere ich gequält und gehe mit dem Glas Wasser hinaus auf die Terrasse. Manuel folgt mir und setzt sich mit einem unverständlichen Blick zu mir.
„Ich hatte heute schon zwei andere Visionen“, wiederhole ich mich, aber Manuel hört einfach nur zu. „Bei allen waren die Männer, um die es ging, schon tot“, lege ich nach und er sieht ungläubig zu mir herüber.
„Das ist aber neu. Ich denke du sollst helfen“, murmelt Manuel fast zu sich selbst, aber ich habe jedes Wort verstanden.
„Das dachte ich auch. Aber ab heute ist das wohl anders. Warum kann ich dir nicht sagen. Ich verstehe es selbst nicht“, gebe ich von mir und schüttele meinen Kopf, der immer noch schmerzt.
„Welche Männer waren es denn? Sind sie hier aus der Stadt?“, will Manuel wissen.
„Ja, sie sind alle von hier. Der erste war der Fleischermeister und dann ein anderer Nachbar. Zwei Häuser von uns entfernt“, antworte ich mit einer Hand an der Schläfe und die andere hält das Glas, an dem ich immer wieder kurz nippe.
„Aber wie ist es denn dazu gekommen?“, hakt Manuel nun ungläubig nach.
„Ich habe die Frauen berührt. Die Fleischerin, als sie mir die Tüte mit der Wurst, die ich eingekauft habe, gegeben hat und die andere Frau hat mir zur Begrüßung einfach nur die Hand gegeben, als wir vor ihrem Garten standen. Der Fleischer ist schon zwei Monate tot. Bei dem zweiten Mann, ich glaub, der hieß Büttner, weiß ich es nicht“, erkläre ich Manuel, der mir mit offen stehendem Mund gegenüber sitzt und gespannt zuhört. „War denn die Nachbarin, die den Kuchen gebracht hat auch schwarz gekleidet?“, frage ich leise und schaue zum Nachbargrundstück hinüber, kann aber niemanden sehen.
„Ja, war sie. Aber da habe ich mir nichts dabei gedacht“, kommt kopfschüttelnd von Manuel.
„Wie denn auch. Woher solltest du denn wissen, was ich heute schon alles erlebt habe“, winke ich ab und überlege dann, wie es weiter gehen soll.
Waren es alle, oder gibt es hier noch mehr Verstorbene? Haben sie etwas miteinander zu tun? Warum sterben so viele noch nicht so alte Männer hintereinander? Kann ich das Haus noch verlassen? Kann ich überhaupt noch jemanden von hier die Hand geben, oder einfach nur berühren? Wie stark ist die Energie, dass ich die dritte Vision nicht durch die Frau direkt, sondern durch einen Gegenstand von ihr bekommen habe?
Langsam beschleicht mich Panik. Mein Körper beginnt zu zittern, ohne das es mir kalt ist. Ich brauche nun selbst Hilfe. Aber an wen soll ich mich wenden? Den Leuten hier kann ich von meinen Visionen doch nicht erzählen. Da stünde ich sofort als Außenseiterin da. Obwohl ich gerne wissen möchte, was das mit den Toten auf sich hat. Und wer könnte mich besser darüber aufklären, als die Frauen selbst.
Ich schließe die Augen und plötzlich erscheint Amaras Bild vor mir. Na klar, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen. Sie kann mir bestimmt sagen, was sich hier abspielt.
Vielleicht hat sie es in den Karten schon längst gesehen, wie es mit mir weitergeht und was hinter den Visionen steckt. Mit dieser Hoffnung rufe ich Amara an und werde, bis sie bei uns ist, das Haus auf keinen Fall mehr verlassen.
Kapitel 5
Es hat keine Stunde gedauert und Amara steht vor unserer Tür.
„Danke, dass du so schnell gekommen bist“, sage ich und bitte sie herein.
„Das ist doch selbstverständlich“, antwortet Amara und ihre Augen fliegen sofort durch den Flur. Ich beobachte sie und bemerke, wie sie alles genau unter die Lupe nimmt.
Ich führe sie in das Wohnzimmer, wo sie mitten im Raum stehen bleibt und etwas finster um sich schaut.
„Was ist? Gefällt es dir nicht?“, frage ich nervös, denn ihr Gesichtsausdruck lässt sich nicht deuten.
„Doch es ist gemütlich, aber die Möbel habt nicht ihr ausgesucht“, entgegnet sie und sieht mich intensiv an.
„Nein, die waren alle noch hier. Alles war abgedeckt und so haben wir sie säubern lassen. Mir gefielen sie von Anfang an und so wollte ich sie auch behalten. Ist das nicht gut?“, frage ich mit zitternder Stimme.
„Wie man es nimmt“, kommt von Amara, die vorsichtig über die Lehne des Sessels fährt. „Wenn man denjenigen gekannt hat, dem sie gehört haben, ist das kein Problem. Aber ihr habt sie von einer fremden Person übernommen. Ich weiß nicht, ob ich das gemacht hätte“, lächelt sie mich etwas gezwungen an und nimmt dann doch in dem Sessel platz.
„Wir wissen wirklich nicht, wer hier gewohnt hat. Nur, dass das Haus fast zwanzig Jahre leer stand. Dafür sind die Möbel noch in einen prima Zustand“, bemerke ich und wundere mich nun auch darüber.
„So lange? Warum wollte es denn niemand haben?“, fragt sich Amara selbst und ihr Blick schweift schon wieder prüfend durch den Raum.
„Das haben wir noch nicht herausbekommen. Aber ich habe dich wegen etwas anderen hergebeten“, schlucke ich und überlege, wie ich es ihr am besten sagen soll.
„Es hängt alles zusammen“, platzt Amara heraus und sieht mich ernst an.
„Wie meinst du das?“, will ich wissen und meine Hände fangen an zu zittern. Schnell verstecke ich sie unter den Oberschenkeln, aber Amara hat es längst bemerkt.
„Was ist los? Warum bist du so neben der Spur?“, fragt Amara mich direkt.
„Ich hatte wieder Visionen“, erwidere ich leise.
„Und nun weißt du nicht, wie die Leute auf dich reagieren, wenn du jemanden hilfst, den du gar nicht kennst“, meint Amara nachdenklich.
„Nein, es ist ganz anders“, beginne ich und muss erst einmal tief durchatmen, weil mein Herz anfängt, schneller zu schlagen. „Die Männer sind schon alle tot“, rede ich weiter und Amaras Augen werden immer größer. Sie sitzt mir ziemlich steif und angespannt gegenüber, was ich nicht von ihr kenne. Ihre Gelassenheit fehlt und das macht mich noch unsicherer.
„Erkläre mir alles von vorn“, fordert sie mich auf und ich tue ihr den Gefallen, obwohl ich dadurch nochmals jedes Detail gedanklich durchleben muss.
Ich erzähle ihr also, wie ich in der Stadt war. Von der Begegnung mit der Frau aus dem Fleischergeschäft und von der netten Frau Büttner vor ihrem Garten. Zuletzt natürlich auch von dem Kuchen, wo ich diese Nachbarin nicht einmal gesehen habe.
„Und du hast sie nur leicht berührt?“, fragt Amara ernst und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
„Ja, und sofort waren die Visionen da. Bei der Letzten reichte sogar nur der Teller von der Frau, um die Verbindung herzustellen“, erkläre ich ihr nochmals und sehe die Bilder schon wieder vor mir.
„Aber warum waren sie denn schon tot? Das ist doch das ganze Gegenteil von deiner Gabe“, spricht Amara leise weiter und ich bemerke, wie es in ihr arbeitet.
„Das ist ja so komisch. Ich konnte immer denjenigen helfen, aber nun stehe ich da und kann mit den Informationen nichts anfangen. Warum soll ich denn wissen, wie die Männer umgekommen sind?“, schüttele ich verständnislos den Kopf.
„Vielleicht hängt es mit dem Haus zusammen“, flüstert Amara vor sich hin.
„Was soll denn das Haus damit zu tun haben?“, hake ich nach, denn ich kann keinen Zusammenhang erkennen.
„Stella, ich habe die Karten gelegt, um zu sehen, ob ihr in diesem Haus glücklich werden könnt“, fängt sie an und stützt ihren Kopf in ihre Hände. Sie sieht etwas verwirrt aus, spricht aber weiter. „Ich bin allerdings nicht weit gekommen. Ich habe gesehen, dass die erste Zeit sehr schwer für euch werden wird. Sie haben mir gezeigt, dass ihr kämpfen müsst, um hier dazuzugehören“, erklärt mir Amara vorsichtig und ich verstehe ihre Worte nicht.
„Konntest du gar nichts sehen?“, will ich unbedingt wissen.
„Es sind Dinge, die ich nicht zuordnen kann. Immer wieder kommt mir die Vergangenheit des Hauses in die Quere. Was es aber genau ist, kann ich nicht deuten. Mir scheint es so, als solltet ihr etwas aufarbeiten“, spricht Amara, aber ihre Stimme zeigt mir, dass sie nicht einmal selbst daran glaubt, was sie da sagt.
„Es wäre vielleicht das Beste, wir finden erst einmal heraus, wer hier zuletzt gewohnt hat“, meldet sich Manuel zu Wort.
„Ja, das solltet ihr“, stimmt Amara ihm sofort zu.
„Denkt ihr da gibt es eine Verbindung?“, frage ich ungläubig.
„Das könnte sein. Du weißt bis heute nicht, wer dir das Haus angeboten hat und du behältst die alten Möbel von dieser Person, weil sie dir gefallen. Vielleicht steckt da viel mehr dahinter, als wir jetzt vermuten. Die Visionen können dir auch nur die Vergangenheit zeigen. Du kannst den Männern nicht mehr helfen, weil sie schon tot sind. Außerdem hast du doch keine Beziehungen zu den Frauen, dass schon eine Berührung reicht, um den Grund ihrer Trauer zu sehen. Da muss es noch eine andere Verbindung geben. Die Frauen, die toten Männer, das Haus, was schon ewig leer steht und, und, und...“, Amara wird immer lauter und nervöser, was mir nicht verborgen bleibt.
„Amara, was hast du in den Karten gesehen?“, frage ich sie auf den Kopf hin, weil ich vermute, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit sagt.
„Nichts, das ist es eben. Stella, ich konnte nicht tiefer hineingehen. Irgendetwas blockiert mich sobald ich die Karten für euch lege. Es legt sich ein Schleier darüber und den kann ich nicht durchbrechen. Ich kann euch nicht mal sagen, wie das alles weiter geht, nur das ihr am Ende hier sehr glücklich werdet. Mir kommt es so vor, dass ich euch nicht sagen darf, was ihr tun sollt. Ihr müsst es allein herausfinden“, erklärt uns Amara und nun schaut auch Manuel etwas beängstigt in die Runde.
„Puzzlestücke“, platzt Manuel plötzlich wieder heraus.
„Was? Wie meinst du das denn jetzt?“, fahre ich ihn vielleicht zu streng an, denn er weicht ein Stück zurück.






