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Habe ein Thema mit Dir zu besprechen, das wir heute im Café Paradiso diskutiert haben; Paulus war auch dabei, er bestellt meistens eine Granatapfelschorle. Wie kommen bei Euch einige Konfessionen dazu, Frauen predigen zu lassen? Wir verstehen das einfach nicht. Antworte möglichst bald!
Sei herzlich gegrüßt Dein David
P. S.: Lies Deine Bibel bitte genau. Die von Dir erwähnte Stelle stammt nicht aus meinen Gebeten. Aber sie ist trotzdem gut!
Lieber David,
man merkt, dass Du schon längere Zeit in den himmlischen Gefilden logierst. »Nahe am Bibelwort bleiben« oder »die Worte der Schrift betend in sich bewegen«, was meinst Du damit? Wir sollen mehr in der Bibel lesen und Verse auswendig lernen, damit wir sie innerlich wiederholen können, wenn wir gerade den Bus verpasst haben oder sonst warten – am Kopierer bei Papierstau? Meinst Du das?
Ihr versteht nicht, warum bei uns Frauen Pfarrerinnen werden. In der Frage der Ordinierung von Frauen zum Pfarramt bin ich befangen. Meine Nichte, deren Pate ich bin, studiert Theologie. Ich gehöre zu einer Kirche, wo das nicht nur möglich, sondern auch erwünscht ist. Ich meine nicht nur die Ausbildung zur Theologin, sondern auch die Übernahme eines Amtes. Der größere Teil der Christenheit lehnt es jedoch ab, dass Frauen einer Gemeinde vorstehen können. Die größte christliche Kirche verbietet es sogar, dass ein verheirateter Mann Priester wird bzw. dass ein Priester heiratet. Du siehst also, dass da im Laufe der Jahrhunderte in der Entwicklung der Kirchen verschiedene Ausprägungen stattgefunden haben. Sie alle berufen sich dabei auf die biblische Tradition. Die einen auf einzelne Bibelstellen, die anderen mehr auf den Gesamtzusammenhang der Bibel. Bibelstellen (an sich) finde ich nur solche, aus denen man eine Ablehnung der Ordination von Frauen herauslesen könnte. »Die Frau schweige in der Gemeinde. Zu lehren gestatte ich einer Frau nicht«15, so dein Freund Paulus im Originalton. Aber muss man denn alles so wörtlich nehmen? Dann müssten doch konsequenterweise alle Frauen Kopftücher tragen, ohne jeglichen Schmuck einhergehen und einzig als »Gebärmaschinen« ihren Job verrichten. Ich würde einiges darum geben, mit Paulus im Café Paradiso seine Begründung zu diskutieren: »Adam wurde nicht verführt, das Weib wurde vielmehr verführt und ist in Übertretung geraten. Sie wird aber gerettet werden durch das Kindergebären«.16 Gut, es war nicht Adam, der verführt wurde. Aber wo war er gerade in dieser kritischen Zeit. Tummelte er sich mit den Delphinen im Wasser? Jedenfalls war er im entscheidenden Augenblick nicht da.
Ich bin der Meinung, dass viel Unheil gerade daraus hervorgeht, dass Männer äußerlich und innerlich wegtreten. Ich muss Dir vielleicht einmal später von der Arbeitssucht und Fahnenflucht der Väter berichten. Ich bin ja jeden Sonntag zu Hause und rufe nur am Sonntagabend meine Geschäftsmails ab.
Gerade auch bei unserem Thema stellt sich eben die Frage, ob man gestützt auf einzelne, isolierte Bibelstellen in irgendeiner Sache Klarheit bekommen kann. Biblische Aussagen muss man doch in einem Gesamtzusammenhang interpretieren. Sonst müsste man ja einen ungehorsamen Sohn nach biblischen Prinzipien steinigen17 und das Leinen-Wolle-Mischgewebe meines Hemdes wäre Gott nach dem mosaischen Gesetz ein Anstoß.18
David, unsere Gesellschaft verfügt über das Internet. Wir müssen lernen, mit 70 TV-Sendern umzugehen. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Andere Zeiten, andere Sitten, wir haben uns halt entwickelt.
Grüß Paulus von mir. Wenn er das mit der »Gebärmaschine« hört, wird er sich wohl im Café Paradiso gleich einen doppelten Schnaps bestellen.
Dein Reinhold
Lieber Reinhold,
beim Lesen Deiner Zeilen habe ich mich geärgert. Dabei habe ich gemerkt, dass hier oben der Ärger anders ist als bei Euch unten. Irgendwie geläuterter, es fehlt ihm der Stachel, mit dem man sich selbst weh tun oder jemand anders verletzen kann. Aber ehrlich, der Spruch vom »mit der Zeit gehen« ist etwas vom Dümmsten, das ich je gehört habe. Beschäftige Dich ein bisschen mehr mit der Ewigkeit, dann bist Du stets modern. Wechselst Du Deine Überzeugungen wie Kleider, je nach der Mode? Die Grundfrage ist doch in allen Generationen immer die gleiche geblieben: Wie kann man vor Gott ein gelingendes Leben führen? Diese Aufgabe bleibt immer dieselbe. Es ist doch nur die Kulisse unseres Lebens, die wechselt. Die Herausforderungen für die Akteure auf der Bühne des Lebens bleiben durch die Jahrhunderte hindurch dieselben: Kampf ist doch Kampf – ob mit der Steinschleuder oder dem Sturmgewehr. Leiter sein ist doch Leiter sein – ob mit einer Krone oder einer Krawatte ausgezeichnet. Kommunikation ist doch Kommunikation – ob mit Pfeilbogen oder »Phone« (über die Freundschaft mit Jonathan muss ich Dir ein andermal schreiben). Altwerden ist Altwerden – ob mit fünfzig oder fünfundachtzig. Loslassen ist Loslassen – ob durch Krieg oder Krebs erzwungen. In all diesen Herausforderungen bleibt Er, gepriesen sei sein Name, der unerschütterlich treue Gott! Darum lade ich Dich dazu ein, unsere Texte in der Bibel sehr ernsthaft zu lesen. Sie sind geronnene Erfahrung mit Gott! Was Du über die Ordination von Frauen schreibst, habe ich verstanden. Du hast Recht, es geht ja eigentlich darum, wie wir die Bibel verstehen und auslegen sollen. Ich finde das gut, wenn Du nicht einzelne Bibelstellen aus dem Gesamtzusammenhang der Bibel herausbrichst. Jede Stelle in der Bibel muss von der Mitte her, vom Messias, den Ihr den Christus nennt, verstanden werden. Mir ist übrigens erst jetzt, von der Ewigkeit her bewusst, wie auch meine Lieder von Christus her eine neue Bedeutung bekommen haben. Weißt Du, nimm doch die Bibel nicht wie eine Ansammlung toter Buchstaben. Lies sie vor Gott mit der Bitte, dass er Dir selber durch seinen Heiligen Geist das Wort auslege.
Bibellesen mit den Augen ist Beäugen von Papier. Bibellesen mit dem Verstand »schreddert« – nennt Ihr das nicht so? – den Text durch den Apparat der menschlichen Logik. Bibellesen mit dem Herzen ist letztlich der einzige Weg, Gottes Stimme zu vernehmen. Nur noch kurz zwei weitere Bemerkungen zu Deinem letzten Brief: Erstens bitte ich Dich, den verächtlichen Ausdruck »Gebärmaschine« nie wieder zu gebrauchen. Ich mag ihn nicht hören, schon gar nicht von einem Vertreter einer Gesellschaft, die von einer allgemeinen Zeugungs- und Gebärmüdigkeit heimgesucht wird, dass es Gott erbarmt. Ist das wirklich Entwicklung (»wir haben uns halt entwickelt«) oder nicht viel mehr gar gewaltiger Rückschritt?
Zweitens fand ich Deine Ausführungen zum abwesenden Adam echt stark. War der nicht auf seinem (Wacht-)Posten? Mir fällt jedenfalls der Widerspruch zwischen Deiner theoretischen Erkenntnis und Deinem gegenwärtigen Lebensstil auf. Das mit der Arbeitssucht und Fahnenflucht der Väter würde mich näher interessieren. Aber ehrlich gesagt, Du schreibst mir zu locker darüber, so als wäre das einfach ein Naturgesetz, das man hinnehmen müsste. Reinhold, darf ich mal ganz persönlich werden: Was macht Dich so süchtig nach Arbeit? Ist es wirklich Deine Absicht, die Fahne »Vaterschaft« kampflos zu verlassen? Was veranlasst Dich zur Fahnenflucht?
Sei in Verbundenheit herzlich gegrüßt Dein David
6Psalm 131,2
7Psalm 42,6
8Psalm 103,1–2
91. Thessalonicher 5,23
10Römer 8,16
11Psalm 116,7
12Offenbarung 21,4
132. Samuel 6,16
14Apostelgeschichte 5,29
151. Timotheus 2,12
161. Timotheus 2,14–15
175. Mose 21,21
185. Mose 22,11
Lieber David,
ich fliehe doch gar nicht, ich habe Dir ja schon geschrieben, dass ich jeden Sonntag zu Hause bin, an diesem Tag nur meine Mails checke und manchmal auf meinem Laptop ein wenig grafisch arbeite, als Spielerei sozusagen. Ich bin im Moment gestresst – beruflich und familiär. Es ist wie ein Teufelskreis: Je mehr ich mich im Geschäft reinhänge, desto frostiger wird es zu Hause. Je frostiger es zu Hause ist, desto mehr Zeit verbringe ich in unserem kleinen, kreativen Team. Wir sind dort fast wie eine Familie. Wir haben gestern eine geniale neue Grafikerin bekommen, der ich viel beibringen kann. »Reinhold«, hat kürzlich einer gesagt, »mit dir und für dich zu arbeiten, ist eine Lust!« Wir haben viel Spaß zusammen. Meine Frau glaubt mir zwar nicht, dass diese Leute gerne mit mir zusammenarbeiten. Sie täuscht sich, wir nehmen es zwar locker, streben dabei jedoch nach absoluter Perfektion. Dort bekomme ich Anerkennung, zu Hause bin ich der Trottel vom Dienst.
Meine Frau teilte mir gestern mit, sie wolle eine der beiden Sommerferienwochen mit den Freundinnen vom Lesezirkel ohne unsere Familie verbringen. Sie brauche Distanz. Sie hätte die Reise nach Prag schon gebucht. »Die bezahle ich dir aber nicht!«, entgegnete ich feindselig. »Ich habe sie bereits von meinem Lohn bezahlt!«, meinte sie triumphierend. Dann schob sie boshaft nach: »Es ist doch für dich und die Kinder eine Chance, einmal eine Ferienwoche allein zu verbringen. Im Hotel seid ihr gut versorgt.« Eigentlich fand ich die Sache gar nicht so schlecht. Trotzdem wurde ich wütend, weil sie mich vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Mein Stolz war verletzt und ich hatte plötzlich auch Angst: »Wenn das so weitergeht, verliere ich jede Kontrolle über sie. Ich glaube, die achtet mich nicht mehr und macht mit mir, was sie will«, ging es mir durch den Kopf.
Es ist schon reichlich spät. Morgen werde ich sehr früh zur Arbeit fahren. Das Frühstück mache ich mir ja seit Jahren selbst. (Die Frau meines Chefs wartet am Morgen mit dampfender Teetasse und Toast auf ihren Gatten, bis er frisch geduscht und rasiert herunterkommt, um sich für den bevorstehenden Tag zu stärken.) Ich sorge selbst für mich und fahre zur Arbeit, wenn sonst alle im Hause noch schlafen. Ich werde einen wichtigen Tag haben: die nochmalige Präsentation unserer Kampagne. Ich habe ein wirklich gutes Gefühl!
Du hast im letzten Brief Lob (über die Bemerkung vom abwesenden Adam) und auch Tadel verteilt. Entschuldige, das mit der »Gebärmaschine« war wirklich daneben. Ich hoffe, dass mein Zynismus in Zukunft weniger durchschlägt. In meinem Business wird man eben hart. Du hast mir übrigens nicht berichtet, ob Paulus einen Schnaps bestellt hat. Was mir letzthin auffiel: Paulus hat Deine Lieder in seinen Briefen recht frei verwendet. Wo ist da die Ehrfurcht vor dem Text?
Sei gegrüßt
Reinhold
Lieber Reinhold,
was den Schnaps betrifft: Fäulnis- und Gärungsprozesse gibt es bei uns nicht, ergo auch keinen Alkohol. Auch brauchen wir hier oben keine künstlichen Stimmungsheber. »Freude herrscht« – das ist bei uns mehr als ein Spruch. Freude ist einfach da, wie die Luft, die wir einatmen. Wir leben am Lebensstrom.
Ich diskutierte kürzlich mit Paulus darüber, mit welcher Freiheit er meine Liedverse zitierte. »Du hast«, sagte ich ihm, »Verse meiner Lieder in deinen Briefen frei und kreativ zitiert und sie damit in einen neuen Zusammenhang gestellt.« »Kannst du mir ein Beispiel geben«, sagte er und bestellte ein zweites Getränk. Als die Granatapfelschorle mit Feigenzucker gesüßt und Eis durchmengt auf den Tisch kam, sagte ich ihm: »Am Anfang deines Briefes an die Römer hast du Verse aus meinen Liedern aus dem Zusammenhang gerissen und neu aufgemischt, wie dieser Trank, der vor dir steht, es ist.« »Und«, sagte er, »du warst doch auch von Gott inspiriert, als du sangest. Ich war es, als ich an die Römer schrieb. Gleich und gleich gesellt sich gern.« Und dann sprach er davon, wie der »Buchstabe tötet«19, der Geist hingegen lebendig mache, und dass wir in dieser Haltung mit den Heiligen Schriften umzugehen hätten.
Warum ich Dir das schreibe: Ihr müsst beim Lesen unserer von Gott inspirierten Worte um Gottes Geist bitten. Wenn der Zeitgeist Euer Herz erfüllt, gibt’s nichts als plumpen Spott. Das »gerettet werden durch Kinderkriegen« war übrigens gegen die leibfeindlichen Gnostiker gerichtet, welche das Heil in der Abkehr von aller leiblichen Natürlichkeit sahen. Paulus sagte mir, dass er darauf abzielte, dass das Heil in der Natürlichkeit des Alltags wie dem Weitergeben von Leben, und nicht im esoterischen Ausweichen ins Feinstoffliche, Übersinnliche gefunden werden soll. Gar nicht so blöd, und ziemlich aktuell – oder nicht? Wenn Ihr die Bibel mit dem Verstand allein lest, löst sich alles Wunderbare auf, wie wenn man Salzsäure darüber gegossen hätte. (Ich weiß, dass ich Ähnliches schon im letzten Brief schrieb.) Wenn ihr jedoch die Bibel inspiriert durch den göttlichen Geist lest, werdet Ihr den tiefen Sinn hinter den vordergründigen Aussagen entdecken. Ihr werdet vom Messias her, der ja die Mitte der Bibel ist und von dem der Geist ausgeht, die richtigen Antworten auf Eure Zeitfragen entdecken.
Würde mich noch interessieren, wie Deine Nichte Theologie »studiert«. Wie sieht ihr »Vorlesungs- und Studierstubengott« aus? Gottes Geist ist es doch, der Euch lehrt und Euch in alle Wahrheit führt. Ich bin überzeugt, wenn ihr so zusammen vor Gott um den wahren Sinn seines Wortes ringt, findet Ihr die richtigen Antworten, auch auf Fragen, die sich uns noch nicht stellten.
Sei herzlich gegrüßt Dein David
192. Korinther 3,6
Lieber David,
das mit dem »Vorlesungs- und Studierstubengott« meiner Nichte hat mich getroffen. Als ich mein Theologiestudium begann, war ich echt begierig darauf, mehr über Gott zu erfahren. Und ich interessiere mich immer noch für theologische Literatur. Es ist für mich so etwas wie ein Ausgleich, nur bin ich in letzter Zeit nicht mehr dazu gekommen. Auch Sport treibe ich kaum mehr. Ich weiß, dass wir bei Kritik an unseren Nächsten überempfindlich reagieren. Aber es hat mich einfach verletzt, wie Du das ehrliche intellektuelle Ringen meiner Nichte in der Frage nach Gott lächerlich machst. Wie kannst Du Dir anmaßen, den Glauben meiner Nichte zu beurteilen? Ich erwarte von Dir eine Entschuldigung, Dave! Offenbar hat der himmlische Verfasser bei der zweiten, verbesserten Auflage Deines Wesens einen Fehler übersehen, dass Du immer noch so unbarmherzig richten kannst. Entschuldige den Ton, ich bin echt schlecht drauf!
Dabei hatte der Tag doch so gut begonnen: Ich stand wie geplant sehr früh auf und war bei der Präsentation des überarbeiteten Marketingkonzeptes toppräsent. Es ist durchgekommen, mit viel Lob sogar. Durfte mit dem Verwaltungsrat zum Mittagessen und der Präsident hat mir das Du angeboten. Alle Mitglieder der Geschäftsleitung gratulierten mir und Müller fragte mich beim Dessert, ob ich nicht Mitglied der Volkspartei werden wolle. »Es gibt nichts Besseres, um sich seine Netzwerke aufzubauen, als die Politik«, sagte er. Es gibt niemanden, den Müller nicht kennt. Nun ist mir die Volkspartei etwas zu »völkisch«, aber mit dem Stichwort der Politik hat er mir einen Floh ins Ohr gesetzt; die Wirtschaftspartei wäre auf mich zugeschnitten. Der Verwaltungsratspräsident fuhr mich nach dem Essen in seinem Wagen zum Firmensitz zurück, mit Genugtuung teilte ich ihm mit, dass ich dieselbe Automarke wie er fahre. Er sprach wie ein Kenner über Autos, obschon er keine Ahnung davon hat.
Ich kam dann spät nach Hause, duschte und legte mich neben meine Frau ins Bett. Ich wusste, dass sie nur so tat, als schliefe sie, ich erkenne das an ihren Atemzügen, sie sind dann gekünstelt tief und die Pausen zwischen dem Ein- und dem Ausatmen sind ein bisschen zu lang. Ich strich ihr sanft über den Nacken. Sie sagte, dass ich das gefälligst sein lassen solle. Ich sagte, es laufe zwischen uns ja gar nichts mehr und warf ihr noch weitere Dinge an den Kopf. Sie gab wie immer mit präzisen Dolchstichen zurück, ich sei ein abgebrühter Egoist, der nicht lieben könne, und hinter meiner Geltungssucht stecke nur ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl; ich spiele im Geschäft den eitlen Gockel und zu Hause lasse ich mich fallen oder aber hänge den Chef heraus. Ich griff dann zum Zweihänder. »Wenn hier nichts mehr läuft, meine Hühner im Geschäft erwarten den Gockel freudig, mit offenen Flügeln.« Sie sagte dann, ich solle augenblicklich das Schlafzimmer verlassen. »Du kannst dich von jetzt an im Gästezimmer einrichten, du lächerliches Ekel«, rief sie mir hinterher.
Nun sitze ich im Gästezimmer. Habe in der Bibel gelesen. Irgendwo im Alten Testament. Nichts hat mich angesprochen, außer dass ich entdeckt habe, dass unser miserabler Schlafplatz im Gästezimmer schon in der Bibel vorkommt.20 (Was haben wir unseren Gästen bislang zugemutet!) Habe dann den Geist aktiviert und versucht, die Seele zu beruhigen. Es funktionierte nicht. Die Seele raste, war verletzt, rachsüchtig, verzagt, trotzig. »Wenn die mich rauswirft, dann werde ich es ihr schon zeigen. Morgen Abend gehe ich mit Sandra aus (so heißt die neue Grafikerin).«
Ich ließ meinen Fantasien freien Lauf, malte mir das Abendessen mit ihr aus, doch ich merkte, wie sich etwas in mir dagegen sträubte. Es ist noch schwierig, dies zu beschreiben. Aber tief in mir war mir ganz klar, dass ich das eigentlich nicht wollte; ich wusste in meinem Herzen, wo ich hingehöre. An die Seite meiner Frau. Ins Gästezimmer meines eigenen Hauses ausquartiert, wurde mir bewusst, dass ich einerseits meine Ehe und Familie unbedingt will, aber dass wir es andererseits so nicht schaffen können. Das hat mich völlig gestresst. Mir kommt es so vor, als befänden wir uns in einer tödlichen Abwärtsspirale und ich kann nichts dagegen tun.
Ich habe dann zu Deinen Liedern gegriffen und blieb bei einem Satz hängen: »Schüttet Euer Herz aus, liebe Leute.«21 Ich tat das. »Gott, es geht mir so mies. Wir machen uns gegenseitig kaputt. Wir sind so ineinander verkrallt. Ich halte es kaum noch aus, ich ärgere mich über meine Frau; ich bin traurig und schäme mich; es kommt jetzt auch eine Wut hoch, dass ich wie gefangen bin in meiner Arbeit, in meinem Wesen, in meinen finanziellen Verpflichtungen. Ich will meine Ehe und mache sie zugleich kaputt. Ich bin so verzweifelt.« Ich weiß nicht, wie lange ich so gebetet habe, aber mir schien – verzeih den Ausdruck – als hätte ich mich bei Gott »ausgekotzt«. Ich war wie ausgeleert, erschöpft wie nach einem Marathonlauf. Zugleich war ich unendlich erleichtert und schlief sogleich ein.
Ich grüße Dich herzlich
Dein Reinhold
Lieber Reinhold,
vielen Dank für Deinen letzten Brief. Das ist etwas ganz Kostbares, zu wissen, wo man hingehört. Trau diesem inneren Gewissen! Vielleicht hast Du den Punkt erreicht, an dem Gott bei Dir Neues schaffen kann. Vielleicht ist es auch so, dass Ihr noch tiefer fallen werdet. Aber die Hand Gottes ist unter Euch ausgestreckt und sie wird Euch auffangen.
Bei mir ist es spät geworden. Nicht weil ich auf die Uhr geschaut hätte – wir leben ohne Maschine, welche den Fluss der Zeit künstlich in größere oder kleinere Portionen zerschneidet. Ihr richtet Euch nach dem Zeiger Eurer Uhren, wir nach einem inneren Rhythmus. Hier hast du das Gefühl, du bist immer zur rechten Zeit am rechten Ort, es begibt sich alles so leicht. Auch wenn es für mein inneres Empfinden spät geworden ist, das Licht hier ist immer gut. Es leuchtet, ohne zu blenden. Es wärmt, ohne dass man ins Schwitzen kommt. Es hat die Klarheit des Spätherbstes in den Bergen und ist doch mild und weich und wirft keine harten Schatten: es ist einfach göttlich!
Offensichtlich habe ich Dich mit diesem Ausspruch »Vorlesungs- und Studierstubengott« aufgerüttelt. Ich habe in der Tat lange gezögert, bis ich diese Worte gewählt habe. »Du wirst ihm damit Schmerzen zufügen«, habe ich gedacht. »Aber nicht zu seinem Schaden«, hat es in mir nachgeklungen. In dieser Sache möchte ich einfach hart bleiben. Es bekümmert mich zutiefst, wenn ich sehe, wie bei Euch durch menschliche, intellektuelle Anstrengungen Gott gesucht wird und verstanden werden will.
»Was im Hirn ist, ist im Hirn, und die Existenz ist die erste aller Eigenschaften«,22 sagte kürzlich Asmus an unserem Stammtisch. Es geht in erster Linie um Leben und erst dann um Lehre. Asmus ist ein absolutes Original. Letzte Woche erzählte er uns, wie er seinen 37. Geburtstag gefeiert hat. Hat dauernd mit einer Pistole herumgeknallt, damit sich ganz Wandsbek, so heißt das Nest, wo er wohnte, mit ihm freuen konnte. Asmus ist gelegentlich leicht frustriert, weil er in der goldenen Stadt mit ihrem wunderbaren Licht sein Lied »Der Mond ist aufgegangen« nicht mehr anstimmen kann. So war er froh, als er mitten in unserer, übrigens durch Deinen Brief ausgelösten (!) Diskussion über Glaube und Denken mit tragender Stimme doch noch passend zwei seiner Liedstrophen vortragen konnte.
»Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolzen Menschenkinder
Sind eitel, arme Sünder
Und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.« 23
Glaube ist Beziehung, nicht Denkanstrengung. Er vollzieht sich nicht im Kopf, wo wir »Luftgespinste spinnen«, sondern im Herz.
Vielleicht muss ich Dir mal das schwärzeste Kapitel meines Lebens erzählen. Alles brach damals zusammen. Ich war mit meinem Glauben am Boden, ich musste moralisch den Bankrott erklären, und als König hatte ich alle innere Autorität verloren und stützte mich lediglich auf die äußeren Machtbefugnisse. Ich war völlig unglaubwürdig. An diesem Punkt suchte mich Gott heim. Er zog mich sehr kräftig an den Ohren! Das war schmerzlich, aber er holte er mich wirklich heim, gab mir ein neues Zuhause bei sich und mit ihm. Ich bekam eine neue Lebensperspektive. Ich machte die Erfahrung, dass ich von dem lebe, was Gott austeilt. Und seitdem sind mir alle menschlichen Anstrengungen, und seien es die frömmsten und klügsten, zutiefst suspekt.
Ich hoffe, dass Du hinter meinen herausfordernden Worten ein Ringen um Dich heraushörst.
Sei herzlich gegrüßt und gib nicht auf! David
Lieber David,
ich muss mich richtig zwingen, nicht sogleich von mir zu erzählen. Aber Du sagst etwas Wichtiges. Unser Glaube ist kein Hirntrip, keine Theorie im Kopf, sondern ein Lebensstil. Ich bin noch sehr weit davon entfernt, dass bei mir Glaube und Leben eine Einheit werden. Ich beginne erst, überhaupt wahrzunehmen, dass bei mir Glaube und Leben wenig miteinander zu tun haben. Sie sind wie zwei Schubladen, die eine ziehe ich am Sonntagmorgen und vielleicht noch kurz zu Tagesbeginn und schließe sie dann gleich wieder; die restliche Zeit steht die andere offen.
Ich erlebe in mir noch einen anderen Zwiespalt. Ich weiß einerseits, was ich eigentlich möchte, und tue andrerseits gerade das Gegenteil davon. Ich will um unsere Ehe kämpfen und schwäche sie zugleich. Was tat ich gestern im Abendverlauf? Ich schlug wieder einen weiteren Nagel in den Sarg unserer Beziehung.
Als ich nach Hause kam, war meine Frau noch beim Unterrichten. »Kinder«, rief ich, »kommt alle mal runter«! Sie kamen sofort, meine Frau müsste drei Mal rufen und es würde immer noch nicht klappen. »Wer von euch kommt mit, ein Zelt kaufen? Wir können es noch heute Abend im Garten aufstellen.« Sie waren natürlich Feuer und Flamme. Wir kauften ein großes Igluzelt. Anschließend verschlangen wir im McDonald’s große Hamburger und tranken Cola. »Das ist etwas Rechtes, nicht wie dieses ›Körnerzeugs‹, das es zu Hause gibt«, sagte ich und meine Kinder lachten, anfangs verlegen, dann immer lauter. Auf der Nachhausefahrt erzählte ich meinen Kindern, dass wir mit dem Iglu eine Woche lang in Italien zelten würden, und erwähnte: »Mama will nicht mitkommen, sie reist lieber mit ihren Lesezirkelfreundinnen nach Prag.« Ich betonte, dass ich es schade fände, dass sie die wenige Zeit, die wir zusammen hätten, lieber mit ihren Freundinnen verbringe als mit uns. Als wir nach Hause kamen, stand ein Müsli auf dem Tisch. Die Kinder hatten keinen Hunger mehr und der Älteste sagte, solches »Körnerzeugs« schmecke nach Kaninchenfutter und »beim Campieren wollen wir dann jeden Abend grillen, gell Papi!« Als meine Frau fragte, was denn da abgehe, sagte der Jüngste, dass wir nach Italien zelten gehen müssten, weil sie mit ihren Freundinnen im schönen Hotel in Prag lieber viel Geld ausgebe, als Ferien mit der Familie zu machen. Der Abend war futsch, in gedämpfter Stimmung stellten wir das Zelt auf unserem Rasen auf.