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Unser Charakter erfährt durch die Ehe eine »Ko-Evolution«.6 Wir verändern uns an dem, durch das und mit dem Gegenüber. Jeder Wachstumsschritt, jede Veränderung eines Partners erfordert eine Anpassung des anderen. Es gibt kein größeres Flexibilitätstraining als eine dynamisch gelebte Ehebeziehung. Das überfordert uns oft, weil Charakterveränderungen Zeit brauchen, mit Leiden verbunden sind und wir es lieber gemütlich und bequem hätten.
Der Punkt der Anziehung wird zum Punkt des Konflikts
Unsere Not entsteht oft dort, wo eine Charaktereigenschaft unseres Partners, die uns zunächst fasziniert hat, uns zu stören beginnt, bis sich daran sogar eigenes Leiden entzündet. Ausgerechnet der Punkt der Anziehung wird jetzt zum Konfliktpunkt. Der tiefgründige, stille Denker entpuppt sich als »stummer Bock«. Die filigrane, zerbrechliche Sensible wird zur unberührbaren Mimose. Also beginnt sie zu bohren: »Hast du mir denn nichts zu sagen?« Darauf hin wird er noch bockiger. Er sagt kopfschüttelnd: »Du musst doch nicht immer so überempfindlich reagieren!« Was wiederum ihre Robustheit nicht gerade stärkt.
Was uns am Charakter des anderen stört, beginnen wir zu bearbeiten. Unsere Ehe verwandelt sich zuerst in eine ichbefangene Töpferei: Am Charakter des Gegenübers wird mit sanftem Fingerdruck subtil modelliert. »Schatz, meinst du nicht auch, du solltest es nicht immer so persönlich nehmen?« Natürlich verhärtet uns die gegenseitige Nörgelei, wir bilden Abwehrpanzer. Die Töpferei wird nun in ein Bildhaueratelier verwandelt und Mann oder Frau greifen zu Meißel und Vorschlaghammer. (»Wenn das noch einmal vorkommt, gehe ich«). – Unter Druck und Manipulation ändern wir unseren Charakter nie, wir passen uns nur vordergründig an. Der Humus für Charakterveränderungen besteht aus Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Geduld und Liebe. In einer Töpferei gedeiht eheliche Liebe schlecht, und Hammer und Meißel führen meistens zu ihrem Tod.
Tri-Evolution
Es war für uns ein echter Qualitätssprung in unserer Beziehung, als wir aufzuhören begannen (sic!), aneinander herum zu schrauben. Da war meinerseits viel Vertrauen notwendig, dass Gott den Charakter meiner Frau weiter ausgestalten wird. Aber wird Gott, der ja unsere Einheit baut, es zu meinen Ungunsten tun? Es war für mich (Käthi) ermutigend, zu sehen, dass mein Mann sich mir mehr zuwandte, mit mir freiwillig mehr unternahm und sich mir in seiner Tiefe mehr öffnete, nachdem ich aufgehört hatte, ihn unter Druck zu setzen und an ihm herum zu nörgeln.
Was wir hier beschreiben, ist mehr als die Dynamik einer »Ko-Evolution«. Es ist eine »Tri-Evolution«, weil Gott als Dritter im Bunde die Ehepartner einerseits in einer guten Art trennt und entflicht. Er verhilft jedem einzelnen zu seiner Entfaltung. Andererseits ist er ein Gott, der zusammenfügt. Er koordiniert und verbindet von höherer Warte aus die Ehepartner: Wir gestehen einander heute viel Freiheit zu und gehen davon aus, dass jeder von uns eigenverantwortlich mit Gott in ganz persönlichen Lernprozessen steht, die letztlich auch dem Gegenüber zugute kommen. Die Fokussierung auf Gott (und nicht auf die eigenen Bedürfnisse oder die Wünsche des Partners) ermöglicht Ehe- und Persönlichkeitswachstum. Das ist nicht nur sehr entlastend, sondern auch abenteuerlich, weil Gott radikaler verändert, als wir es uns gedacht haben.
Charakterentwicklung durch Leitungsverantwortung
Was bedeutet das für unsere Leitungsverantwortung, die unsere Charakterentwicklung mehr prägt, als wir denken? Wir werden zwar nicht immer etwas aus unserem Posten machen können, in jedem Fall wird jedoch der Posten etwas aus uns machen. Im Guten oder im Schlechten: Wir wachsen an unserer Verantwortung und können dabei unsere besten Kräfte und Gaben entwickeln. Wir sind unter Umständen aber auch dem Druck und der Deformation durch unsere Führungsaufgabe ausgesetzt. Uns umgibt vielleicht eine Führungs- und Geschäftskultur, die beziehungsfeindlich, gar eheschädigend ist. Zudem verlangt unser Führungsalltag Haltungen wie Schnelligkeit, Effizienz und Durchsetzungsfähigkeit um jeden Preis. Wir sind in einem Umfeld tätig, wo wir sachlich sein müssen, uns ja keine Blöße geben dürfen und immer Stärke demonstrieren müssen.
Diese Gesinnungen, die wir jeden Tag stundenlang trainieren, verbessern nicht gerade unsere Ehe- und Familientauglichkeit. Im Gegenteil, in der Ehebeziehung ist vielleicht Geduld gefragt, Nachgeben, Emotionalität, Verletzlichkeit. In der Ehe lasse ich die eigene Bedürftigkeit zu und nehme die Schwäche des Partners an. Je mehr wir im Führungsalltag solchen für die Ehe wenig hilfreichen charakterlichen Prägekräften ausgesetzt sind, desto wichtiger ist es, dass der Heilige Geist unseren Charakter prägt und umformt. (Je größer die »déformation professionelle«, um so wichtiger ist die »formation spirituelle«.) Durch Stille vor Gott, durch Bibellesen, durch das Zwiegespräch mit unserem Schöpfer und die Gemeinschaft mit anderen Christen bauen wir ehetaugliche Gesinnungen auf.
Auch wenn die Organisation, in der wir arbeiten, anders »tickt« als das Zusammenleben in Ehe und Familie, können wir anfangen, Selbst- und Sozialkompetenzen, die wir in der Ehe entdecken, auch im Unternehmen punktuell einzubringen. Als Leitende können wir sogar eine ganze Kultur umprägen. Eigentlich sind diese »weichen Faktoren«, die wir in einer Ehe lernen, auch für ein Unternehmen unerlässlich: Ich (Daniel) denke an einen unserer Mitarbeiter, der heikle Konflikte klar und ehrlich anspricht und dabei seinen Mitarbeitenden liebevoll zugewandt bleiben kann. Das hat er im Trainingscamp seiner Ehe gelernt.
5Jürg Willi, Die Zweierbeziehung – Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle. Analyse des unbewussten Zusammenspiels in Partnerwahl und Paarkonflikt: das Kollusionskonzept, Rowohlt, Reinbek 162004.
6Jürg Willi, Die Kunst gemeinsamen Wachsens – Ko-Evolution in Partnerschaft, Familie und Kultur, Herder, Freiburg 2007.
Dialog
Die Ehe lebt vom Zwiegespräch, vom Wort (griechisch logos), das zwischen (griechisch dia) den Ehepartnern gewechselt wird. Tendenziell lässt sich sagen: »Männer reden mit ihren Frauen, um mit ihnen zu schlafen. Frauen schlafen mit ihren Männern, um mit ihnen zu reden.«7 Frauen sind versucht, ihre Männer im Dialog unter Druck zu setzen, während Männer die Tendenz haben, ihre Frauen in der Sexualität zu bedrängen. Druck und Forderung zeigen vielleicht durchaus Wirkung, machen aber aus einer Liebesbeziehung Arrangements: Jeder erfüllt willig bis widerwillig seine Plicht. Eine Zweierbeziehung lebt zwar vom Austausch, wo aber die Beziehung zum Tauschgeschäft einschließlich einer inneren Buchhaltung wird, stirbt die Liebe. Wie kommen wir von ehelichen Dienstleistungsabsprachen zu freiwilligen Geschenken? Wie entsteht ein Fluss von Rede und Gegenrede, wo wir uns als Paar in der Tiefe begegnen?
Vorhin ging es ums Beten. Der Apostel Paulus hat viel darüber nachgedacht und ist zu dem Schluss gekommen: »Wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen« (Römer 8,26). Ähnlich ist es mit dem ehelichen Zwiegespräch, wenn es über den Austausch von Alltagsinformationen, organisatorische Absprachen und eingeschliffene Wortwechsel hinausgehen soll. Wir wissen es immer wieder nicht, wie wir uns als Ehepartnerin und Ehepartner durch Dialog in der Tiefe begegnen können.
Mehr als Kommunikationstraining
Wir ahnen, es braucht mehr als Kommunikationstraining. Aktives Zuhören lernen ist nützlich. Ebenso ist es hilfreich, wenn man in einer Unterhaltung zwischen Sach- und Beziehungsebene zu unterscheiden vermag. Und zwar beim Reden wie beim Zuhören. Ferner nimmt es im Gespräch Druck, wenn ich konstant von mir rede und mein Gegenüber nicht mit Du-Botschaften festnagle. Zudem ist es entlastend, wenn ich permanent davon ausgehe, dass der andere das, was er sagt, wirklich so erlebt, auch wenn meine Wahrnehmung völlig anders ist. Wir leben nun mal als Paar in zwei subjektiven Realitäten. Meine Frau trägt einen dicken Wollpullover und ich ein T-Shirt im selben Wohnzimmer. Sollen wir jetzt darüber zu streiten beginnen, ob es in der guten Stube zu warm oder zu kalt ist? (Die Hälfte aller ehelichen Reibereien entsteht genau über solchen sinnlosen Konflikten.) Schließlich soll jedes Paar sich auf die Spur kommen, wann und wo Ehegespräche mit Tiefgang am leichtesten entstehen. Spazieren, Spargelessen, Spielzeug aufräumen …
Trialog: Gott öffnet uns das Herz und löst unsere Zunge
Es kommt vor, dass wir das alles wissen und trainieren, aber das Zwiegespräch der Herzen gelingt doch nicht. Wir geben uns zwar auf der Verhaltensebene Mühe, aber auf einer tieferen Ebene stimmt etwas nicht. Einer von uns oder gar wir beide sind blockiert. Der eheliche Dialog kann damit beginnen, dass ich mein Unvermögen erkenne, mich wirklich zu öffnen – und damit auch angreifbar und verletzlich zu werden. Ja, so ist es, ich blockiere mich immer wieder. Ich bringe dieses Unvermögen vor Gott. »Gott, du siehst, wie ich mich eigentlich nach dem Austausch im Gespräch sehne und zugleich Angst davor habe. Ich möchte mehr Nähe und fürchte mich doch davor. Ich gebe dir jetzt mein Ungenügen und meine Angst ab. Gott, ich bringe dir auch meine Unlust zum Gespräch. Berühre mein Herz, löse meine Zunge, wecke mein Ohr.« Die innere Veränderung zur Gesprächsbereitschaft, für die jeder Ehepartner selbst verantwortlich ist und die nicht eingefordert werden kann, ist wie ein Vorspiel. Es weckt Lust auf das Gespräch. Gute Ehegespräche sind sexy. Es hat mit einer Wahl zu tun: Ich lasse mich jetzt auf den Partner, die Partnerin ein. Es kann auch sein, dass die Zeit noch nicht reif ist: »Nein, jetzt nicht, ich lese den Artikel fertig. In zwanzig Minuten machen wir uns einen Tee und nehmen uns Zeit füreinander.« Mir (Käthi) fällt es leicht, das mitzuteilen, was mir auf dem Herzen ist. Ich kann in Gesprächen leichter den Anfang machen. Also mache ich es. Warum soll ich warten, bis mein Mann beginnt? Ich beginne, er kommt dann schon.
Paulus, der nicht wusste, was er eigentlich beten sollte, schreibt dann weiter: »der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern« (Römer 8,26). Gehen Sie auch davon aus, dass Ihnen jemand zu Hilfe kommt, wenn Sie sich ehrlich auf ein Gespräch einlassen. Der Heilige Geist, der Meister der Kommunikation, will Sie im Gespräch unterstützen. Im Verlauf des Redens wird es ja manche Klippen geben. Sie werden nicht verstanden. Ihr Gegenüber geht nicht auf das ein, was Sie gesagt haben, oder verdreht Ihre Worte. Es gibt unzählige Momente, wo Sie sich übergangen, unverstanden fühlen könnten. Deponieren Sie diese Irritation oder Verletzung mit einem Stoßseufzer bei Gott. Lassen Sie sich von ihm Verständnis, Humor und Barmherzigkeit für Ihr Gegenüber zufließen. Gott ist auch Ihr Schutz, Sie müssen nicht sofort den Rückzug antreten.
Eigentlich ist der Dialog dann ein »Trialog«. Ich kann während des Redens mit meiner Ehepartnerin Ärger oder Frust bei Gott abfließen lassen oder mir von Gott Wachheit und Frische für die Begegnung erbitten und empfangen. Gott inspiriert, schärft und heilt mein Reden und Hören. »Gott, der Herr, hat mir die Zunge eines Schülers gegeben, damit ich den Müden zu helfen weiß mit einem Wort. Er weckt auf, Morgen für Morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre wie ein Schüler« (Jesaja 50,4).
Keine Konfliktvermeidung
Es könnte der Eindruck entstehen, dass wir uns einander nicht mehr zu stellen brauchen, wenn wir Gott auf diese Art und Weise in unsere Gespräche einbeziehen. Doch wir reden hier nicht frömmlerischer Konfliktvermeidung das Wort! Im Gegenteil: Gerade wenn wir die göttliche Dimension in unsere Dialoge einbeziehen, schaffen wir ein konstruktives Klima für harte und faire Auseinandersetzungen. Streitgespräche machen für uns nur Sinn, wenn aus dem Gespräch mit dem »Gegner« eine gute Begegnung entsteht, bei der kein Stachel zurückbleibt. Durch den »Trialog«, wo ich immer wieder zuerst selbst dafür sorge, dass ich mit mir im Reinen bin, wo beide Partner die Verantwortung für klares, wahres Reden in Achtung und Liebe für den anderen übernehmen, entsteht konstruktives Ringen. Dann gehen wir Konflikte ziel- und lösungsorientiert an und überschütten uns nicht gegenseitig mit unseren miesen Gefühlen.
Führen ist Kommunizieren
Kommunizieren ist ein wesentlicher und wichtiger Teil unserer Führungsverantwortung. »Hätte ich das doch lieber nicht gesagt«, so haben schon manche Leitende nach einem schwierigen Mitarbeitergespräch gedacht. Aber gesagt ist gesagt, jetzt geht es nur noch um Schadensbegrenzung. »Warum habe ich nichts gesagt, gedacht habe ich es, ich Feigling.«
Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit (Prediger 3,7). Führen ist kommunizieren. Wir müssen das Richtige richtig sagen und am rechten Ort schweigen lernen. Ist es nicht eine ungeheure Chance, im Schonraum einer Ehe, wo man Fehler machen darf, in der eigenen Kommunikationsfähigkeit zu wachsen? Die einen lernen, im richtigen Moment zu schweigen und ihre Aggression Gott abzugeben. Andere lassen sich ermutigen, endlich einmal etwas zu sagen und Klartext zu reden. Eheliche »Trialoge« sind Trainingscamps für unsere Führungsgespräche.
7Jürg Willi, Psychologie der Liebe – Persönliche Entwicklung durch Partnerbeziehungen, KlettCotta, Stuttgart 52002.
Ehe
Was ist die Ehe? Eine Liebesbeziehung, in der Mann und Frau magisch voneinander angezogen und zueinander gedrängt werden? Das ist ein Teil von ihr, und doch wird zu zeigen sein, dass sich die Form und Qualität der Liebe im Verlauf der Ehe stetig wandelt. (Wo sind die Schmetterlinge im Bauch des Fünfundzwanzigjährigen ohne Bauch beim Fünfundfünfzigjährigen mit Bauch geblieben?) Eine Verbindung von Mann und Frau, die in der sexuellen Vereinigung das Einswerden leibhaftig (er)leben? Auch das ist die Ehe und man kann nur ahnen, wie gerade in dieser emotional-sexuellen Intimität, wo jeder Partner ekstatisch über sich hinaustritt, Mann und Frau sich gegenseitig Anteil an ihrem Wesen geben. Sie werden ein Fleisch. Ihre Persönlichkeitsanteile fließen ineinander. Ist die Ehe ein zivilrechtlich geregelter verbindlicher Zusammenschluss von einem Mann und einer Frau, die ihre Entscheidung mit ihrer Unterschrift dokumentieren? Auch das ist sie, mit allen juristisch geregelten Rechten und Pflichten, die damit verbunden sind. Ist die Ehe ein Zweckbündnis, um Nachkommenschaft und damit das Überleben zu sichern? Auch das ist sie; wir werden später noch über Kinder und Familie nachdenken. Ist die Ehe ein Angebot Gottes, eine unverwüstliche Schöpfungsordnung, von allem Anfang an schöpfungsmäßig angelegt, so wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Hitze und Frost es sind? Das ist sie auch, und Christinnen und Christen treten in diese göttliche Schöpfungsordnung ein, indem Mann und Frau ihr Jawort vor Gott und mit Gott geben. Diese Schöpfungsordnung verspricht Glück und Segen, aber auch Wachstumsschmerzen und Verzicht. Mit dem Schließen dieses Treuebündnisses wird die Zweierbeziehung als etwas Exklusives proklamiert. Wir stecken uns gegenseitig einen Ring an den Finger und drücken damit aus, dass wir einander treu sein wollen. Ehe wird so per Definition zur Langzeitehe, welche Außenbeziehungen ausschließt. Die »offene Ehe« ist ein Widerspruch in sich.
Dies Geheimnis ist groß
»Darum wird ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhängen und die zwei werden ein Leib sein« (Markus 10,7). Jesus nimmt die Aussage aus dem Alten Testament (2. Mose 2,24) bestätigend auf und kommentiert das Geheimnis der Ehe: »Somit sind sie nicht mehr zwei, sondern sie sind ein Leib. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden« (Markus 10,8–9). Man könnte davon sprechen, dass Mann und Frau sich zu einer »Eheperson«8 verbinden. Es entsteht eine neue »Person«, die immer mehr ihre Gestalt gewinnt. Paulus meditiert die gleiche alttestamentliche Aussage und kann nur staunend feststellen: »Dies Geheimnis ist groß« (Epheser 5,32). Wir meinen, dass alle diese Elemente zusammen die Ehe ausmachen. Es ist für uns müßig zu fragen, ob nun das erste Mal Sex, die Unterschrift vor dem Standesamt oder das Jawort vor dem Traualtar die Ehe konstituiere. Alle Elemente gehören wesentlich zusammen wie Wurzel, Stamm und Krone bei einem Baum.
Das Geheimnis der Partnerwahl
Das Geheimnis ist wirklich groß. Geheimnisvoll ist schon die Wahl des Ehepartners. Entscheidendes läuft unbewusst. Es geschieht mit uns. Vordergründig gibt es vielleicht viel Verbindendes, das uns anzieht. Wir haben ähnliche Interessen und gemeinsame Werte. Uns verbinden ähnliche Verletzungen aus der Vergangenheit. In der Tiefe aber halten wir unbewusst nach unserer Ergänzung Ausschau: Der Risikofreudige sucht die Sichere; die kreativ Chaotische ruft nach dem systematischen Ordnungsliebhaber; die Tempofreudige verknallt sich in den bedächtig Langsamen; der schweigsame Denker ist fasziniert vom warmen Wortwasserfall seiner Zukünftigen. Und umgekehrt! Und dann geschieht eine merkwürdige Entwicklung: Das ganz Andere, das mich einst an meinem Ehepartner fasziniert und angezogen hat, nervt jetzt plötzlich. Der Punkt der Anziehung ist gerade zum Punkt des Konfliktes geworden, der schmerzt. Im Abschnitt zur Charakterentwicklung (»Ko-Evolution«) ging es darum, wie wir darin reifen können, unsere Verschiedenheit anzunehmen und als Ergänzung zu betrachten.
Zwei unabhängige Jas
Wir werden diese unbewussten Prozesse der Partnerwahl nie ganz verstehen. Das Geheimnis ist groß. Jedoch ist es für eine reife Basis für eine gesunde Ehe wichtig, dass die Eheschließung auf zwei unabhängigen Jas gründet. Deren Zustandekommen ist ein Prozess, bei dem jeder Ehepartner einen individuellen Weg zurücklegt: Jeder Partner ist dabei in seinem Tempo prüfend, abwägend, fragend und betend unterwegs. Er horcht auf die Stimme seines Herzens und auf die Stimme Gottes. Er lernt, den Stimmen von Freunden und Verwandten oder der Gemeinde den angemessenen Stellenwert zu geben. Er macht die Erfahrung, unabhängig wählen zu müssen. (Und wenn er es jetzt nicht lernt, wird er diese verpasste Lektion irgendwann nachholen müssen.) Wollen wir frei bleiben, können wir unser Ja nicht vom Ja des anderen abhängig machen.
Auf dem Weg zu einer reifen Entscheidung begegnen wir möglicherweise unserer Angst, einen Fehler zu machen und später als Paar zu scheitern. Wir lernen dann vielleicht, Angst loszulassen und unser Grundvertrauen bei Gott zu stärken. Wir müssen uns auf eine Option unter vielen endgültig festlegen und entwickeln dabei den Mut, eine Entscheidung mit lebenslangen Konsequenzen zu treffen. Wir müssen alle Hintertürchen schließen; wer einen Bund schließt, bindet sich. Dabei wächst unsere Gesinnung auf dem Gebiet der Eindeutigkeit und Klarheit. Wir ahnen in diesem Entscheidungsprozess instinktiv, dass mit der Eheschließung Erfüllung und Lust, aber auch Verzicht und Leiden verbunden sind. Ich wähle also die Freude an einer verbindlichen Lebens- und Liebesbeziehung und den Schmerz, der ebenso damit verbunden ist. Diese Erkenntnis blitzt beim jungen Paar – wenn überhaupt – nur für einige Augenblicke auf. Meist erkennen wir die Trageweite unserer Entscheidungen erst viel später.
Entscheiden – eine Grundfertigkeit im Wahrnehmen der Führungsverantwortung
Entschiedenheit, die wir im Vorfeld einer Eheschließung gewinnen, wo wir prüfen, abwägen und endgültig beschließen, ist bedeutsam auch im Hinblick auf die Übernahme von Führungsverantwortung. Wir haben Mut und Vertrauen entwickelt, uns endgültig festzulegen und alle Notausgänge zu schließen. Wir haben gewählt und uns definitiv festgelegt. Punkt.
In einer multioptionalen Gesellschaft, in der man sich permanent mehrere Möglichkeiten offen lässt, ist dieser Schritt in die völlige Verbindlichkeit eine enorme Leistung. In einer Leitungsaufgabe müssen wir Entscheidungen treffen. Oft »makes or breaks« eine schwerwiegende Entscheidung einen Verantwortlichen. Wohl den Leitenden, die schon früh Mut und Vertrauen einüben konnten.
Einheit durch Ergänzung
Das Geheimnis der Ehe besteht darin, dass zwei eins werden und zugleich ganz sie selbst bleiben. Wie entsteht Einheit? Viele Ehepaare versuchen – besonders in der Anfangsphase –, Einheit herzustellen, indem sie die persönliche Eigenart und Originalität zugunsten der gemeinsamen Harmonie zurückstellen. Der seltenere Fall: Er gibt alle sportlichen Hobbys auf und wird vom wilden Mann zum gezähmten Häuslichen. Schon häufiger: Sie passt sich den Wünschen und der Dynamik ihres Mannes an und stellt eigene Anteile zurück.
Sollen wir wesentliche Teile von uns selbst zugunsten der Eheharmonie aufgeben? Geschieht dann unsere Paarentwicklung und die Stärkung unserer Einheit nicht auf Kosten unserer persönlichen Entwicklung? Unsere menschliche Lösung mit dem Ziel der Einheit ist Anpassung, Gleichmacherei, Uniformität. Oft weiß dabei einer von beiden nicht genau, was er letztlich will, und passt sich dem anderen einfach an.
Nach biblischem Denken entsteht Einheit ganz anders, nämlich durch das Zusammenführen von Gegensätzen im Sinne der Ergänzung. Unser Gott schuf den Kosmos in Polaritäten: Er schuf Tag und Nacht, Sommer und Winter, Mann und Frau. Dabei koordinierte Gott diese Gegensätzlichkeiten. Was für unsere große Welt gilt, gilt auch für die kleine Welt unserer Ehe: Paulus gebraucht für das Prinzip »Einheit durch Ergänzung« das Bild vom Körper, dessen verschiedenste Körperteile vom Kopf her koordiniert und zusammengefügt werden. Christus ist der Kopf der Eheleute, Koordination höherer Ordnung für ihr Miteinander, liebendes Gegenüber, das sie als Mann und Frau in ihrer Originalität aufeinander abstimmt.
Eigentlich geht es darum, dass sich Mann und Frau Christus zur Verfügung stellen und ihm sagen: »Da hast du mich! Ich möchte der Mann, die Frau für meinen Partner werden, wie du es dir gedacht hast; mache mich zu einem Geschenk. Baue du an unserer Einheit, wir können das nicht selber.«
Im praktischen Alltag stehen wir ja immer wieder vor ganz konkreten Fragen: Soll ich verzichten oder mich durchsetzen? Soll ich ein Bedürfnis zugunsten unseres Miteinanders zurückstellen? In diesen Fragen ist mein Blick in erster Linie auf Gott gerichtet und nicht auf meine Bedürfnisse oder die Forderungen des Ehepartners. Und so verzichtet die Frau auf den Gospelbrunch, den sie gemeinsam besuchen wollten, und entlässt ihren Mann zu seiner Biketour. Oder die Frau merkt, dass sie es ihrem Mann zumuten kann, mit den Kindern zwei Tage allein zu sein, und verreist mit ihrer Freundin zum Wellness-Wochenende. Wenn beide Ehepartner in Freiheit vor Christus ihr Tun und Lassen verantworten, wird das nicht nur ihre Einheit als Paar bauen, sondern auch ihre persönliche Entfaltung vorantreiben.
Teamfähigkeit
Team- und Ergänzungsfähigkeit sind angesichts von immer komplexeren Sachverhalten, die wir in unseren Organisationen zu bewältigen haben, eine Schlüsselkompetenz für Führende. Immer mehr wird Leitung von einem Gremium wahrgenommen. Der einsame, abgehobene Kapitän auf der Kommandobrücke ist nicht mehr die Symbolfigur des Leitens. Und wo kann Teamfähigkeit besser trainiert werden als in der Ehe?
Hier lerne ich, mich einzubringen oder zurückzunehmen, mich durchzusetzen oder zu verzichten. Was für ein inspirierender Führungsstil wird sich ergeben, wenn sich Führungskräfte als ergänzungsbedürftig und ergänzungsfähig erleben!






