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»Und so was stiftet Ehen!« sagte sie ganz laut, auf Frau Dambreville zurückkommend, lediglich, um ihrem Herzen Luft zu machen, ohne sich etwa an ihre Töchter zu wenden, die in die Rue Saint-Honoré eingebogen waren. »Hübsch sind sie, ihre Ehen! Ein Haufen Zimtzicken, die wer weiß woher zu ihr kommen! Ach, wenn man nicht dazu gezwungen wäre! – Genau wie ihr neuester Erfolg, diese Jungverheiratete Frau, die sie herausgestellt hat, um uns zu zeigen, daß es nicht immer schiefgeht: ein schönes Beispiel! Ein unglückseliges Kind, das nach einem Fehltritt wieder ein halbes Jahr lang ins Kloster gesteckt werden mußte, um es wieder rein zu waschen!«
Die jungen Mädchen überquerten gerade den Place du Palais-Royal, da prasselte plötzlich ein Platzregen nieder. Nun gab es eine wilde Flucht. Sie blieben stehen, rutschten aus, patschten umher, blickten erneut nach den leer vorüberrollenden Droschken.
»Vorwärts!« schrie die Mutter unbarmherzig. »Jetzt ist es zu nahe, das lohnt keine vierzig Sous ... Euer Bruder Léon hat sich ja auch geweigert mitzukommen, aus Furcht, wir könnten ihn bezahlen lassen! Um so besser, wenn er seine Angelegenheiten bei dieser Dame erledigt! Aber anständig ist das gerade nicht, das dürfen wir wohl sagen. Eine Frau, die über die Fünfzig hinaus ist und die nur junge Leute empfängt! Ein ehemaliges nichtsnutziges Frauenzimmer, das eine hochstehende Persönlichkeit mit Dambreville, diesem Schwachkopf, verheiratet und den zum Bürochef ernannt hat!«
Hortense und Berthe trabten im Regen hintereinander her und schienen nicht zu hören. Wenn ihre Mutter sich auf diese Weise Luft machte, mit allem rausplatzte und die übertriebene Strenge der guten Erziehung vergaß, mit der sie sie umgab, war es ausgemacht, daß sie taub wurden. Doch als sie sich in die düstere und menschenleere Rue de lʼEchelle wandten, empörte sich Berthe.
»Ach, du meine Güte«, sagte sie. »Jetzt geht mein Absatz ab ... Ich kann nicht mehr weiter!«
Frau Josserand wurde böse.
»Wollt ihr wohl gehen! – Beklage ich mich denn? Kommt es mir denn zu, bei solchem Wetter zu dieser Stunde auf der Straße zu sein? – Wenn ihr wenigstens noch so einen Vater hättet, wie andere Väter sind! Aber nein, der Herr bleibt zu Hause und läßt sichʼs wohl sein. Immer bin ich dran, euch in Gesellschaft zu begleiten, nie würde er die Fron auf sich nehmen. Aber ich sage euch ein für allemal, daß mir das bis obenhin steht. Soll euer Vater euch ausführen, wenn er will; ich will des Teufels sein, wenn ich euch in Zukunft noch mal in Häuser führe, wo man mich ärgert! – Ein Mann, der mich über seine Fähigkeiten getäuscht hat und dem ich eine Annehmlichkeit geradezu herausziehen muß! Ach, Herrgott! So einen würde ich nicht heiraten, wenn ich mich noch mal entscheiden könnte!«
Die jungen Mädchen pflegten nicht mehr zu widersprechen.
Dieses unerschöpfliche Kapitel der zerschlagenen Hoffnungen ihrer Mutter kannten sie. Den Spitzenschal gegen das Gesicht geklatscht, gingen sie mit durchgeweichten Schuhen schnell die Rue Sainte- Anne entlang. Aber an ihrem Haustor in der Rue de Choiseul stand Frau Josserand eine letzte Demütigung bevor: die Kutsche der heimkehrenden Duveyriers bespritzte sie mit Straßendreck.
Obgleich Mutter und Töchter kreuzlahm und wütend waren, hatten sie ihre liebenswürdige Miene wieder aufgesetzt, als sie auf der Treppe an Octave vorbeigehen mußten. Aber nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schossen sie wie wild durch die dunkle Wohnung, so daß sie sich an den Möbeln stießen, und stürzten ins Eßzimmer, wo Herr Josserand beim spärlichen Schimmer einer kleinen Lampe schrieb.
»Wieder nichts!« schrie Frau Josserand und sank auf einen Stuhl hin. Und mit roher Gebärde riß sie den Spitzenschal herunter, der ihren Kopf verhüllte, warf sie ihren Pelz auf die Stuhllehne zurück und kam in einem feuerroten, mit schwarzem Atlas besetzten, sehr tief ausgeschnittenen Kleid zum Vorschein, wirkte gewaltig mit ihren Schultern, die noch immer schön waren und den glänzenden Schenkeln einer Stute glichen. Ihr vierschrötiges Gesicht mit den Hängebacken und der zu starken Nase drückte die tragische Wut einer Königin aus, die an sich hält, um nicht in die Worte eines Fischweibs zu verfallen.
»Aha!« machte Herr Josserand lediglich, ganz verdattert über dieses Hereinstürmen. Von Besorgnis erfaßt, zuckte er mit den Lidern. Seine Frau erdrückte ihn schier, wenn sie diesen Riesenbusen zur Schau stellte, den er wie einen Erdrutsch auf seinem Nacken zu spüren glaubte. Er hatte einen alten, zerschlissenen Überrock an, den er zu Hause abtrug, sein Gesicht war von fünfunddreißig Bürojahren gleichsam aufgeweicht und verblichen, und er sah seine Frau einen Augenblick mit den glanzlosen Blicken seiner geschwollenen blauen Augen an. Nachdem er dann die Locken seines angegrauten Haares hinter die Ohren zurückgestrichen hatte, versuchte er sich ganz verlegen und kein Wort herausbringend wieder an seine Arbeit zu machen.
»Aber begreifst du denn nicht?« schmetterte ihm Frau Josserand mit schriller Stimme entgegen. »Ich sage dir, daß wieder mal eine Partie im Eimer ist, und das ist nun die vierte!«
»Ja, ja, ich weiß, die vierte«, murmelte er. »Das ist verdrießlich, recht verdrießlich ...« Und um der schreckenerregenden Nacktheit seiner Frau zu entgehen, wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln zu seinen Töchtern um.
Sie legten ebenfalls ihre Spitzenschals und Ballumhänge ab; die ältere war blau gekleidet, die jüngere rosa; und ihre allzu frei geschnittenen, allzu reich besetzten Toiletten waren gleichsam eine Herausforderung. Hortense, die einen gelben Teint hatte und deren Gesicht durch die Nase ihrer Mutter verunstaltet wurde, die ihr den Ausdruck hochnäsiger Eigensinnigkeit verlieh, war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden und sah aus wie achtundzwanzig, während die zwei Jahre jüngere Berthe eine unversehrte kindliche Anmut bewahrte, denn sie hatte zwar dieselben Züge, aber sie waren bei ihr feiner und blendend weiß, und ihr drohte nur die plumpe Maske, die in der Familie um die Fünfzig herum zum Vorschein kam.
»Wenn du uns bloß alle drei ansehen wolltest!« schrie Frau Josserand. »Und laß um Gottes willen deine Schreiberei sein, die geht mir auf die Nerven!«
»Aber, meine Beste«, sagte er friedfertig, »ich mache doch Streifbänder.«
»Ach ja, deine Streifbänder zu drei Francs das Tausend! – Wenn du hoffst, etwa deine Töchter mit diesen drei Francs unter die Haube zu bringen!«
Der vom spärlichen Schimmer der kleinen Lampe beleuchtete Tisch war in der Tat mit breiten Bogen grauen Papiers übersät, mit bedruckten Streifbändern, die Herr Josserand für einen großen Verlag, der mehrere periodisch erscheinende Zeitschriften herausgab, ausfüllte. Da sein Gehalt als Kassierer keineswegs ausreichte, verbrachte er ganze Nächte mit dieser undankbaren Arbeit, sich verbergend, von Scham erfaßt bei dem Gedanken, man könnte die Geldverlegenheit der Familie entdecken.
»Drei Francs sind drei Francs«, erwiderte er mit seiner schleppenden und müden Stimme. »Diese drei Francs da erlauben euch, zusätzlich Bänder für eure Kleider zu kaufen und euren Gästen beim Dienstagsempfang Kuchen anzubieten.«
Ihm tat dieser Satz sofort leid, denn er fühlte, daß er Frau Josserand mitten ins Herz, in die empfindliche Wunde ihres Stolzes traf. Eine Woge von Blut färbte ihre Schultern purpurrot, sie schien nahe daran, in rächende Worte auszubrechen; dann stammelte sie, mühsam nach Würde ringend, lediglich: »O mein Gott! O mein Gott!« Und sie blickte auf ihre Töchter, sie zerschmetterte ihren Mann herrisch mit einem Zucken ihrer gewaltigen Schultern, als wolle sie sagen: He! Hört ihr, was er sagt? So ein Blödling!
Die Töchter schüttelten den Kopf.
Da der Vater sich geschlagen sah, legte er widerstrebend seine Feder hin und faltete die Zeitung »Le Temps9« auseinander, die er jeden Abend aus dem Büro mitbrachte.
»Schläft Saturnin?« fragte Frau Josserand schroff; sie sprach von ihrem jüngsten Sohn.
»Schon lange«, erwiderte ihr Mann. »Adèle habe ich auch weggeschickt ... Und Léon, habt ihr ihn bei Dambrevilles gesehen?«
»Mein Gott noch mal! Er schläft ja dort!« brachte sie in einem grollerfüllten Schrei hervor, den sie nicht unterdrücken konnte.
Vor Überraschung war der Vater so naiv hinzuzufügen: »Ach, glaubst du?«
Hortense und Berthe waren taub geworden. Über ihre Lippen huschte jedoch ein leises Lächeln, und sie taten so, als beschäftigten sie sich mit ihren Schuhen, die in einem jämmerlichen Zustand waren.
Um abzulenken, suchte Frau Josserand einen anderen Streit mit ihrem Mann: sie bat ihn, er solle seine Zeitung jeden Morgen wieder mitnehmen und sie nicht einen ganzen Tag lang in der Wohnung herumliegen lassen wie zum Beispiel gestern; ausgerechnet eine Nummer, in der etwas über einen abscheulichen Prozeß gestanden habe, was seine Töchter hätten lesen können. Daran erkenne sie genau seinen geringen sittlichen Wert.
»Na, gehen wir schlafen?« fragte Hortense. »Ich, ich habe Hunger.«
»Oh, und ich erst!« sagte Berthe. »Ich komme fast um vor Hunger.«
»Wie! Hunger habt ihr?« schrie Frau Josserand außer sich. »Habt ihr denn dort keine Brioches10 gegessen? Sind das dumme Gänse! Aber man ißt doch, wenn man eingeladen ist! Ich habe jedenfalls gegessen.«
Die Töchter wehrten sich. Sie hätten Hunger, sie seien krank vor Hunger. Und schließlich begleitete die Mutter sie in die Küche, um nachzusehen, ob nicht etwas übriggeblieben war. Sogleich machte sich der Vater verstohlen wieder an seine Streifbänder. Er wußte genau, daß der Luxus des Haushalts ohne seine Streifbänder dahin wäre; und deshalb harrte er trotz der Geringschätzung und der ungerechten Zänkereien eigensinnig bis zum Tagesanbruch bei dieser heimlichen Arbeit aus, glücklich wie ein rechtschaffener Mensch, wenn er sich einbildete, ein Endchen Spitze mehr könnte über eine reiche Partie entscheiden. Da man ja bereits am Essen abknapste, ohne deshalb die Toiletten und die Dienstagsempfänge bestreiten zu können, schickte er sich darein, in Lumpen gekleidet wie ein Märtyrer zu schuften, während Mutter und Töchter mit Blumen im Haar die Salons abklapperten.
»Aber hier stinktʼs ja wie die Pest!« schrie Frau Josserand, als sie in die Küche trat. »Es ist doch nicht zu sagen, daß ich Adèle, diese Schlampe, nicht dazu kriegen kann, daß sie das Fenster halb offen läßt! Sie behauptet, der Raum wäre am Morgen eiskalt.«
Sie war zum Fenster gegangen und hatte es geöffnet, und von dem engen Dienstbotenhof stieg eine eisige Feuchtigkeit empor, ein schaler, muffiger Kellergeruch. Die Kerze, die Berthe angezündet hatte, ließ riesige Schatten nackter Schultern über die gegenüberliegende Wand tanzen.
»Und wie die Küche wieder aussieht!« fuhr Frau Josserand fort, die überall herumschnüffelte, ihre Nase in alle unsauberen Ecken steckte. »Ihren Tisch hat sie seit vierzehn Tagen nicht abgewischt ... Da stehen ja noch Teller von vorgestern. Wahrhaftig, das ist ja ekelhaft! Und ihr Ausguß, seht doch mal! Riecht mir doch mal an ihrem Ausguß!« Ihr Zorn peitschte sich hoch. Mit ihren von Reispuder weiß gefärbten und mit Goldreifen überladenen Armen stieß sie das Geschirr umher; sie schleifte ihr feuerrotes Kleid mitten durch die Flecken, blieb an Küchengeräten hängen, die unter die Tische geworfen worden waren, brachte zwischen den Küchenabfällen ihren mühselig erworbenen Luxus in Gefahr. Schließlich ließ der Anblick eines schartigen Messers sie losplatzen: »Morgen früh schmeiße ich sie raus!«
»Da hast du aber was erreicht«, sagte Hortense ruhig. »Nicht eine behalten wir. Das ist die erste, die ein Vierteljahr geblieben ist ... Sobald sie ein bißchen sauber sind und eine Mehlschwitze machen können, hauen sie ab.«
Frau Josserand kniff die Lippen zusammen. In der Tat konnte es allein die gerade erst aus ihrer Bretagne frisch eingetroffene, dumme und verlauste Adèle in diesem dünkelhaften Elend von Spießbürgern aushalten, die ihre Unwissenheit und Schmutzigkeit ausnutzten, um sie schlecht zu beköstigen. Zwanzigmal schon hatten sie davon gesprochen, sie zu entlassen, wenn sie auf dem Brot einen Kamm fanden oder ein Fleischgericht so abscheulich war, daß sie Leibschneiden bekamen; dann aber fanden sie sich angesichts der Schwierigkeit, sie zu ersetzen, immer wieder damit ab, denn selbst die Diebinnen weigerten sich, bei ihnen in Dienst zu treten, in dieser Bruchbude, wo die Stücken Zucker abgezählt wurden.
»Ich sehe aber auch gar nichts!« murmelte Berthe, die einen Schrank durchwühlte.
Die Bretter zeigten die trübsinnige Leere und den falschen Luxus von Familien, bei denen man die schlechteste Sorte Fleisch kauft, um Blumen auf den Tisch stellen zu können. Dort standen nur völlig kahle Porzellanteller mit Goldrand herum, ein Tischbesen, von dessen Griff die Versilberung abging, Fläschchen, in denen öl und Essig eingetrocknet waren; und nicht eine vergessene Rinde, nicht ein Krümchen von den abgeräumten Speisen, kein Stück Obst, keine Süßigkeit, kein Käserest. Man merkte, daß Adèles nie gestillter Hunger die seltenen von der Herrschaft übriggelassenen Saucenreste so gründlich auswischte, daß sie die Vergoldung von den Schüsseln mit abkratzte.
»Aber sie hat ja das ganze Kaninchen aufgegessen!« schrie Frau Josserand.
»Allerdings«, sagte Hortense, »das Schwanzstück war noch übrig ... Ach nein, hier ist es ja. Es hätte mich auch gewundert, daß sie es gewagt haben sollte ... Wißt ihr, ich nehme es. Es ist zwar kalt, aber da ist halt nichts zu machen!«
Nun schnüffelte auch Berthe vergebens herum. Schließlich belegte sie eine Flasche mit Beschlag, in der ihre Mutter einen alten Topf Eingemachtes mit Wasser verdünnt hatte, um Johannisbeersaft für ihre Abendgesellschaften herzustellen. Sie schenkte sich ein halbes Glas davon ein und sagte:
»Halt, ich habe eine Idee! Da werde ich mir Brot drin eintunken! Wo doch weiter nichts da ist!«
Aber die besorgte Frau Josserand schaute sie streng an.
»Tu dir keinen Zwang an, schenke dir das Glas voll ein, wenn du schon mal dabei bist! Morgen setze ich den Damen und Herren Wasser vor, nicht wahr?«
Zum Glück wurde ihre Strafpredigt durch eine neue Missetat Adèles unterbrochen. Frau Josserand, die immer noch hin und her ging und suchte, was Adèle wohl sonst noch verbrochen haben könnte, gewahrte auf dem Tisch ein Buch; und nun gab es einen nicht mehr zu überbietenden Ausbruch.
»Oh, dieses Dreckstück! Schon wieder hat sie meinen Lamartine11 in die Küche mitgenommen!«
Es war ein Exemplar von »Jocelyn«. Sie nahm es, rieb daran herum, als wolle sie es abtrocknen; und sie sagte immer wieder, zwanzigmal habe sie ihr schon verboten, es überall so herumliegen zu lassen, um ihre Rechnungen darauf zu schreiben.
Berthe und Hortense hatten sich unterdessen das übriggebliebene Stückchen Brot geteilt; mit ihrem Abendbrot in der Hand zogen sie los, sie wollten sich zuerst einmal ausziehen. Die Mutter warf einen letzten Blick auf den eiskalten Herd und kehrte, ihren Lamartine unter dem überquellenden Fleisch ihres Armes fest an sich gepreßt, ins Eßzimmer zurück.
Herr Josserand schrieb weiter. Er hoffte, seine Frau werde sich damit begnügen, ihn mit einem verächtlichen Blick niederzuschmettern, wenn sie durch das Zimmer kam, um schlafen zu gehen. Aber sie ließ sich wiederum ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken und starrte ihn an, ohne ein Wort zu sprechen. Er spürte diesen Blick, ihn überkam eine solche Bangigkeit, daß seine Feder das dünne Papier der Streifbänder zerkratzte.
»Du also hast Adèle daran gehindert, eine Cremespeise für morgen abend zu machen?« sagte sie schließlich.
Verdutzt entschloß er sich, den Kopf zu heben.
»Ich, meine Liebe?«
»Ach, du willst es wohl wieder abstreiten wie immer ... Warum hat sie dann die Cremespeise nicht gemacht, die ich ihr aufgetragen habe? Du weißt genau, daß wir morgen vor unserer Abendgesellschaft Onkel Bachelard zum Essen da haben, dessen Namenstag sehr ungünstig fällt, gerade auf einen Empfangstag. Wenn es keine Cremespeise gibt, dann muß Eis dasein, und damit sind wieder mal fünf Francs rausgeschmissen!«
Er versuchte sich nicht zu rechtfertigen. Da er seine Arbeit nicht wieder aufzunehmen wagte, fing er an, mit seinem Federhalter zu spielen. Es herrschte Schweigen.
»Morgen früh«, fuhr Frau Josserand fort, »wirst du mir den Gefallen tun, bei den Campardons vorzusprechen und sie sehr höflich – wenn du das kannst – daran zu erinnern, daß wir am Abend auf sie rechnen ... Heute nachmittag ist ihr junger Mann angekommen. Bitte sie, sie möchten ihn mitbringen. Ich will, daß er kommt, hörst du!«
»Welcher junge Mann?«
»Eben ein junger Mann; es würde zu lange dauern, dir das zu erklären ... Ich habe meine Erkundigungen eingezogen. Ich muß wirklich alles versuchen, da du mir deine Töchter ja wie einen Packen Dummheiten auf dem Halse läßt, ohne dich mehr um ihre Verheiratung zu kümmern als um die des Großtürken.« Dieser Gedanke entfachte ihren Zorn aufs neue. »Du siehst, ich beherrsche mich, aber mir stehtʼs bis obenhin, jawohl, bis obenhin! Sage nichts, mein Lieber, sage, nichts, sonst explodiere ich wahrhaftig ...«
Er sagte nichts, und sie explodierte trotzdem.
»Das ist ja nachgerade unerträglich! Laß dir das gesagt sein, ich haue eines schönen Morgens ab und lasse dich mit deinen beiden Töchtern, diesen Gänsen, sitzen ... Bin ich etwa für dieses Bettlerleben geboren? Immer jeden Heller dreimal umdrehen, sich sogar ein Paar Stiefeletten versagen, nicht einmal seine Freunde auf anständige Art und Weise empfangen können! Und das alles durch deine Schuld! – Ach, wackle nicht mit dem Kopf, bring mich nicht noch mehr hoch! Jawohl, durch deine Schuld! Du hast mich getäuscht, mein Lieber, schändlich getäuscht. Man heiratet keine Frau, wenn man entschlossen ist, es ihr an allem fehlen zu lassen. Den Prahlhans hast du gespielt, hast mit einer schönen Zukunft angegeben; du warst der Freund der Söhne deines Chefs, dieser Brüder Bernheim, die dich seitdem so schön zum besten gehalten haben ... Wie? Du wagst zu behaupten, sie hätten dich nicht zum besten gehalten? Du müßtest jetzt doch längst ihr Teilhaber sein! Du warst es doch, der ihre Kristallwarenfabrik zu dem gemacht hat, was sie ist, nämlich zu einer der ersten Pariser Firmen, und du bist ihr Kassierer geblieben, ein subalterner Angestellter, ein Lohnempfänger ... Jawohl, dir fehlt es an Mut, halt den Mund!«
»Ich habe achttausend Francs im Jahr«, murmelte der Angestellte. »Das ist ein schöner Posten.«
»Ein schöner Posten nach mehr als dreißig Dienstjahren!« entgegnete Frau Josserand. »Du reibst dich auf dabei, und du bist noch entzückt ... Weißt du, was ich getan hätte? Na, zwanzigmal hätte ich die Firma schon in die Tasche gesteckt. Das war ja so leicht, das habe ich gemerkt, als ich dich geheiratet habe; seitdem habe ich nicht aufgehört, dich dazu anzutreiben. Aber dazu hätte man eben Unternehmungsgeist und Verstand gebraucht, es kam darauf an, nicht wie ein Blödhammel auf seinem Sitzleder einzuschlafen.«
»Na, hör mal«, fiel Herr Josserand ein, »willst du mir jetzt etwa einen Vorwurf daraus machen, daß ich ehrlich gewesen bin?«
Sie stand auf und ging, mit ihrem Lamartine herumfuchtelnd, auf ihn zu.
»Ehrlich? Was meinst du damit? Sei doch erst mal ehrlich gegen mich. Dann kommen doch hoffentlich erst die anderen! Und ich sage es dir noch einmal, mein Lieber, es ist keine Ehrlichkeit, wenn man ein junges Mädchen hineinlegt, indem man sich den Anschein gibt, als sei man gewillt, einst reich zu werden, und dann tierisch dabei verblödet, indem man die Kasse anderer verwaltet. Wirklich, ich bin auf eine schöne Art und Weise angeschmiert worden! Ach, wenn ich doch noch mal vor diese Entscheidung gestellt würde und wenn ich bloß deine Familie gekannt hätte!« Sie ging ungestüm auf und ab.
Trotz seiner großen Sehnsucht nach Frieden konnte er eine aufkommende Ungeduld nicht unterdrücken.
»Du solltest schlafen gehen, Eléonore«, sagte er. »Es ist ein Uhr durch, und ich versichere dir, die Arbeit hier ist eilig ... Meine Familie hat dir nichts getan, rede nicht über sie.«
»Sieh mal an, warum denn? Deine Familie ist auch nicht heiliger als eine andere, denke ich ... Jedermann in Clermont weiß genau, daß dein Vater sich nach Verkauf seiner Anwaltspraxis von einem Dienstmädchen hat ruinieren lassen. Du hättest deine Töchter schon längst verheiratet, wenn er mit über siebzig Jahren nicht der Nutte nachgelaufen wäre. Auch so einer, der mich angeschmiert hat!«
Herr Josserand war bleich geworden. Er erwiderte mit bebender Stimme, die nach und nach anschwoll: »Hör mal, wir wollen uns doch nicht schon wieder gegenseitig unsere Familien unter die Nase reiben ... Dein Vater hat mir deine Mitgift, die dreißigtausend Francs, die er versprochen hatte, niemals ausgezahlt.«
»He? Was? Dreißigtausend Francs?«
»Allerdings, tu nicht so erstaunt ... Und wenn meinem Vater auch allerlei Unglück zugestoßen ist, so hat deiner sich uns gegenüber nichtswürdig verhalten. Bei seinem Nachlaß habe ich nie so ganz klargesehen, es sind allerlei Schiebungen dabei vorgekommen, damit das Pensionat in der Rue des Fossés-Saint-Victor dem Mann deiner Schwester zufiel, diesem schäbigen Pauker, der uns heute nicht mehr grüßt ... Wir sind bestohlen worden, als seien die Räuber über uns hergefallen.«
Angesichts der unbegreiflichen Auflehnung ihres Mannes schnappte Frau Josserand, die ganz weiß geworden war, nach Luft.
»Mache Papa nicht schlecht! Er war vierzig Jahre lang die Zierde des Unterrichtswesens. Geh doch mal in die Gegend vom Panthéon12 und frage nach dem Institut Bachelard! Und was meine Schwester und meinen Schwager betrifft, so sind sie eben, wie sie sind, sie haben mich bestohlen, das weiß ich; aber dir kommt es nicht zu, das zu sagen, das lasse ich mir nicht bieten, hörst du! Rede ich etwa über deine Schwester aus Les Andelys, die mit einem Offizier durchgebrannt ist! Oh, das geht ja sauber zu bei euch!«
»Mit einem Offizier, der sie geheiratet hat, meine Liebe ... Da ist ja auch noch Onkel Bachelard, dein Bruder, ein sittenloser Mensch ...«
»Aber du verlierst ja den Verstand, mein Lieber! Er ist reich, er verdient bei seinem Kommissionsgeschäft so viel, wie er will, und er hat versprochen, Berthe eine Mitgift zu geben ... Hast du denn vor gar nichts Achtung?«
»Ach ja, Berthe eine Mitgift geben! Wollen wir wetten, daß er nicht einen Sou rausrückt und daß wir seine widerwärtigen Gewohnheiten umsonst ausgestanden haben? Ich schäme mich für ihn, wenn er herkommt. Ein Lügner, ein Saufbruder, ein Ausbeuter, der die Situation ausnutzt, der mich seit fünfzehn Jahren, da er uns vor seinem Vermögen auf den Knien liegen sieht, jeden Sonnabend auf zwei Stunden in sein Büro mitnimmt, damit ich seine Bücher durchsehe! Dadurch spart er hundert Sous ... Wir müssen erst noch sehen, wie weit es mit seinen Geschenken her ist.«
Frau Josserand, der es den Atem verschlug, sammelte sich einen Augenblick. Dann stieß sie folgenden letzten Schrei aus: »Du hast doch einen Neffen bei der Polizei, mein Lieber!«
Es trat abermals Schweigen ein. Die kleine Lampe wurde blasser, unter Herrn Josserands fiebrigen Gebärden flogen Streifbänder umher; und er blickte seiner Frau ins Gesicht, seiner Frau in dem tief ausgeschnittenen Kleid, war entschlossen, alles zu sagen, und zitterte vor seinem eigenen Mut.
»Mit achttausend Francs kann man allerhand anfangen«, versetzte er. »Du beklagst dich immerzu. Aber du hättest den Haushalt nicht auf eine Ebene stellen sollen, die unsere Verhältnisse übersteigt. Es ist eine Krankheit von dir, Gesellschaften zu geben und Besuche zu machen, einen Empfangstag einzurichten, Tee und Kuchen zu reichen ...«
Sie ließ ihn nicht ausreden.
»Da haben wirʼs also! Sperr mich doch gleich in einen Kasten! Wirf mir vor, daß ich nicht splitternackt ausgehe ... Und deine Töchter, mein Lieber, wen sollen sie denn heiraten, wenn wir mit niemand verkehren? Viele Leute sind es sowieso schon nicht ... Opfere du dich doch mal auf und laß dich hinterher dann mit so einer Niedertracht beurteilen!«
»Alle haben wir uns aufgeopfert, meine Liebe. Léon hat vor seinen Schwestern zurücktreten müssen; und er hat das Haus verlassen, weil er nur noch auf sich selbst angewiesen war. Was Saturnin, das arme Kind, betrifft, so kann er nicht einmal lesen ... Ich selbst verzichte auf alles, ich verbringe die Nächte mit ...«