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»Warum hast du Töchter gemacht, mein Lieber? – Du willst ihnen doch nicht etwa ihre Ausbildung vorwerfen? Ein anderer Mann an deiner Stelle würde sich des Lehrerinnendiploms von Hortense und der Talente von Berthe rühmen, die heute abend wieder einmal alle Welt mit ihrem Walzer ›An den Ufern der Oise‹ hingerissen hat und deren neuestes Bild morgen bestimmt unsere Gäste bezaubern wird ... Aber du, mein Lieber, du bist nicht einmal ein Vater, du hättest deine Kinder die Kühe hüten geschickt, statt sie in ein Pensionat zu stecken.«
»Ach was! Ich hatte ja für Berthe eine Versicherung abgeschlossen. Warst nicht du es, meine Liebe, die bei der vierten Prämienzahlung das Geld dazu verwendet hat, die Möbel des Salons neu beziehen zu lassen? Und inzwischen hast du sogar die eingezahlten Prämien verschachert.«
»Stimmt! Wo du uns ja verhungern läßt ... Na, du kannst dir ja in die Finger beißen, wenn deine Töchter alte Jungfern werden.«
»Mir in die Finger beißen! Aber zum Himmeldonnerwetter, mit deinen Toiletten und deinen lächerlichen Abendgesellschaften schlägst ja gerade du die Bewerber in die Flucht!« Noch nie war Herr Josserand so weit gegangen.
Erstickt stammelte Frau Josserand die Worte: »Ich, lächerlich, ich!«
Da öffnete sich die Tür: Hortense und Berthe kamen zurück, in Unterrock und Unterjacke, mit aufgelöstem Haar, die Füße in Latschen.
»Oje, bei uns ist es aber kalt!« sagte Berthe bibbernd. »Da gefrieren einem ja die Bissen im Munde ... Hier ist heute abend wenigstens Feuer gemacht worden.«
Und beide zogen Stühle heran, setzten sich an den Ofen, der einen Rest lauer Wärme bewahrte. Hortense hielt mit den Fingerspitzen ihren Kaninchenknochen, den sie kunstvoll abknabberte. Berthe tunkte Brotschnitten in ihr Glas Fruchtsaft. Im übrigen schienen die in Fahrt gekommenen Eltern ihr Eintreten nicht einmal zu bemerken. Sie zankten sich weiter.
»Lächerlich, lächerlich, mein Lieber! Lächerlich, das werde ich nicht länger sein! Den Kopf soll man mir abhacken, wenn ich noch ein Paar Handschuhe abnutze, um die Mädchen unter die Haube zu bringen ... Jetzt bist du dran! Und sieh zu, daß du dich nicht noch lächerlicher machst als ich!«
»Bei Gott noch mal, meine Liebe! Jetzt, wo du sie überall herumgeführt und bloßgestellt hast! Bringe sie unter die Haube oder nicht, mir ist das schnuppe!«
»Mir ist das noch mehr schnuppe, mein lieber Josserand! Mir ist das so schnuppe, daß ich sie auf die Straße setzen werde, wenn du mir noch länger zusetzt. Falls du nur im geringsten Lust hast, kannst du ihnen ja folgen, die Tür steht offen ... Ach, Herrgott! Da wäre ich eine schöne Last los!«
Die jungen Damen hörten seelenruhig zu, sie waren an diese lebhaften Auseinandersetzungen gewöhnt. Sie aßen immer noch, und da die Unterjacken ihnen von den Schultern gerutscht waren, rieben sie ihre nackte Haut sacht an den lauwarmen Kacheln des Ofens; und so schamlos entblößt, wirkten sie bezaubernd in ihrer Jugend, mit ihrem Heißhunger und ihren schlaftrunkenen Augen.
»Es ist sehr verkehrt von euch, daß ihr euch streitet«, sagte Hortense schließlich mit vollem Mund. »Mama kriegt vor Kummer graue Haare, und Papa wird morgen im Büro noch krank sein ... Mir scheint, wir sind groß genug, um uns allein unter die Haube bringen zu können.«
Das gab eine Ablenkung. Der Vater, der mit seinen Kräften am Ende war, tat so, als mache er sich wieder an seine Streifbänder; und er verharrte mit der Nase über dem Papier, weil er nicht imstande war zu schreiben, so sehr zitterten ihm die Hände.
Unterdessen hatte sich die Mutter, die wie eine losgelassene Löwin im Zimmer umherlief, vor Hortense aufgepflanzt.
»Wenn du dich meinst«, schrie sie, »dann bist du ganz schön blöd! Dein Verdier wird dich niemals heiraten.«
»Das ist ja meine Sache«, erwiderte das junge Mädchen unumwunden.
Nachdem sie fünf oder sechs Freier – einen kleinen Angestellten, den Sohn eines Schneiders, andere Burschen, die ihrer Meinung nach keine Zukunftsaussichten hatten – voller Verachtung abgewiesen, hatte sie sich für einen Rechtsanwalt entschieden, den sie bei Dambrevilles getroffen hatte und der bereits vierzig Jahre alt war. Sie hielt ihn für sehr tüchtig, dazu ausersehen, ein großes Vermögen zu erwerben. Das Unglück dabei aber war, daß Verdier seit fünfzehn Jahren mit einer Geliebten zusammen lebte, die in seinem Stadtviertel sogar für seine Frau galt. Hortense wußte es übrigens und zeigte sich deswegen nicht sonderlich beunruhigt.
»Mein Kind«, sagte der Vater, erneut den Kopf hebend, »ich hatte dich doch gebeten, nicht an diese Verbindung zu denken ... Du kennst die Lage ja.«
Für einen Augenblick hörte sie auf, an dem Kaninchenknochen herumzulutschen, und erwiderte ungeduldig:
»Na und? Verdier hat mir versprochen, ihr den Laufpaß zu geben. Sie ist eine dumme Pute.«
»Hortense, es ist verkehrt von dir, so zu sprechen ... Wenn dieser Bursche nun eines Tages auch dir den Laufpaß gibt, um zu der zurückzukehren, von der er sich deinetwegen getrennt hat?«
»Das ist ja meine Sache«, wiederholte das junge Mädchen in ihrer kurz angebundenen Art.
Berthe hörte zu, sie war in diese Geschichte eingeweiht, deren mögliche Wendungen sie täglich mit ihrer Schwester erörterte. Im übrigen stand sie wie ihr Vater auf der Seite der armen Frau, die nach fünfzehn Jahren gemeinschaftlichen Lebens auf die Straße gesetzt werden sollte.
Aber Frau Josserand griff ein.
»Hört bloß auf! Diese elenden Geschöpfe landen schließlich doch immer wieder in der Gosse. Allerdings wird Verdier ja doch nie die Kraft aufbringen, sich von ihr zu trennen ... Er hält dich zum Narren, meine Liebe. Ich an deiner Stelle würde keine Sekunde auf ihn warten, ich würde mich bemühen, einen anderen zu finden.«
Hortenses Stimme wurde noch schriller, während zwei fahle Flecken auf ihre Wangen traten.
»Mama, du weißt ja, wie ich bin ... Ich will ihn haben, und ich werde ihn kriegen. Niemals werde ich einen anderen heiraten, und wenn ich hundert Jahre auf ihn warten müßte.«
Die Mutter zuckte die Achseln.
»Und du schimpfst andere dumme Puten!«
Aber das junge Mädchen hatte sich bebend erhoben.
»Ach was, fall nicht über mich her!« schrie sie. »Ich bin mit meinem Kaninchen fertig, ich gehe lieber schlafen ... Da es dir ja nicht gelingt, uns unter die Haube zu bringen, mußt du uns eben gestatten, daß wir es so machen, wie es uns beliebt.« Und sie zog sich zurück, sie schlug heftig die Tür hinter sich zu.
Frau Josserand hatte sich majestätisch zu ihrem Gatten umgewandt. Sie gab folgende tiefsinnige Bemerkung von sich:
»Da siehst du, mein Lieber, wie du deine Töchter erzogen hast!«
Herr Josserand erhob keinen Einspruch; er war damit beschäftigt, sich einen Fingernagel mit Tintentüpfelchen zu besprenkeln, bis er weiterschreiben konnte.
Berthe, die ihr Brot aufgegessen hatte, tunkte einen Finger in das Glas, um ihren Fruchtsaft aufzulutschen. Ihr war behaglich zumute, der Rücken brannte ihr, und sie beeilte sich nicht, denn sie verspürte wenig Verlangen, in ihr Zimmer zu gehen und dort die zänkische Laune ihrer Schwester ertragen zu müssen.
»Aha, das ist der Lohn!« fuhr Frau Josserand fort und nahm ihre Wanderung durch das Eßzimmer wieder auf. »Zwanzig Jahre lang plackt man sich für diese Damen ab, man bringt sich an den Bettelstab, um vornehme Frauen aus ihnen zu machen, und sie bereiten einem nicht einmal die Genugtuung, sich nun so unter die Haube bringen zu lassen, wie es einem schmeckt ... Wenn man ihnen noch etwas verweigert hätte! Aber ich habe nie einen Centime für mich behalten, habe an meinen Toiletten abgeknapst, habe sie so gekleidet, als ob wir fünfzigtausend Francs Jahreszinsen zur Verfügung hätten ... Nein, das ist doch wirklich zu dumm! Wenn diese Frauenzimmer da eine sorgfältige Erziehung genossen haben, was man gerade so an Religion braucht und vom Benehmen reicher Töchter wissen muß, dann lassen sie einen im Stich und sprechen davon, Rechtsanwälte zu heiraten, Abenteurer, die einen ausschweifenden Lebenswandel führen!« Sie blieb vor Berthe stehen, drohte ihr mit dem Finger und sagte: »Wenn du etwa auch wie deine Schwester einschlägst, dann kriegst du es mit mir zu tun.« Dann begann sie wieder umherzustapfen, redete dabei mit sich selber, sprang von einem Gedanken auf den anderen über, widersprach sich mit der Bestimmtheit einer Frau, die immer recht hat. »Ich habe getan, was ich tun mußte, und müßte es noch einmal getan werden, so würde ich es noch einmal tun ... Im Leben ziehen immer nur die den kürzeren, die am schüchternsten sind. Geld ist Geld: wenn man keins hat, dann legt man sich am besten gleich schlafen. Wenn ich zwanzig Sous hatte, habe ich immer gesagt, ich hätte vierzig; denn darin liegt die ganze Weisheit, es ist besser, Neid zu erregen als Mitleid ... Man kann noch soviel Bildung genossen haben, wenn man nicht gut gekleidet ist, verachten einen die Leute. Das ist zwar nicht gerecht, aber es ist so ... Lieber würde ich schmutzige Unterröcke tragen als ein Kattunkleid. Eßt Kartoffeln, aber bringt ein Hühnchen auf den Tisch, wenn ihr Gäste zum Abendessen habt ... Und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Dummkopf!« Sie starrte ihren Mann an, dem diese letzten Bemerkungen galten.
Erschöpft, einer neuen Schlacht ausweichend, war dieser feige genug, zu erklären:
»Das ist schon wahr, heutzutage zählt nur das Geld.«
»Da hörst duʼs«, versetzte Frau Josserand, wieder auf ihre Tochter zurückkommend. »Gehe deinen geraden Weg und versuche uns Freude zu bereiten ... Wieso hast du diese Partie schon wieder verpatzt?«
Berthe begriff, daß nun sie an der Reihe war.
»Ich weiß nicht, Mama«, murmelte sie.
»Ein stellvertretender Bürovorsteher«, fuhr die Mutter fort, »keine dreißig Jahre alt, eine prächtige Zukunft. Der bringt einem alle Monate sein Geld an; der ist zuverlässig, was Besseres gibtʼs nicht ... Hast du wieder mal irgendeine Dummheit gemacht wie bei den anderen?«
»Nein, Mama, das versichere ich dir ... Er wird sich erkundigt haben, er wird erfahren haben, daß ich keinen Sou besitze.«
Aber Frau Josserand erhob laut Einspruch.
»Und die Mitgift, die dein Onkel dir geben will? Alle Welt kennt sie, diese Mitgift ... Nein, da steckt etwas anderes dahinter, er hat zu plötzlich abgebrochen ... Während des Tanzes seid ihr in den kleinen Salon hinübergegangen.«
Berthe geriet in Verwirrung.
»Ja, Mama ... Und als wir allein waren, hat er häßliche Dinge gewollt, er hat mich geküßt und mich dabei so hier gepackt. Da habe ich Angst gekriegt und habe ihn gegen ein Möbelstück gestoßen ...«
Ihre Mutter, die wieder in Wut geraten war, unterbrach sie:
»Gegen ein Möbelstück gestoßen, ach, du Unglückselige! Gegen ein Möbelstück gestoßen ...!«
»Aber, Mama, er hielt mich ...«
»Na und? Er hielt dich, was ist denn schon groß dabei? Steckt solche Gänse doch in ein Pensionat! Sag mal, was hast du eigentlich gelernt?«
Eine Woge von Blut hatte Schultern und Wangen des jungen Mädchens überflutet. Berthe war verwirrt wie eine geschändete Jungfrau, und Tränen traten ihr in die Augen.
»Es ist nicht meine Schuld, er sah so bösartig aus ... Ich weiß doch nicht, was man tun muß.«
»Was man tun muß? Sie fragt, was man tun muß! He, habe ich dir nicht hundertmal gesagt, wie lächerlich dein scheues Getue ist? Du bist dazu bestimmt, in der Gesellschaft zu leben. Wenn ein Mann brutal ist, dann kommt es daher, daß er dich liebt, und es gibt immer Mittel und Wege, ihn auf nette Art und Weise zurechtzuweisen ... Wegen eines Kusses hinter einer Tür! Wahrhaftig, mußt du uns, deinen Eltern, das denn eigentlich erzählen? Und du stößt die Leute gegen ein Möbelstück, und du verpatzt Partien!« Sie setzte eine schulmeisterliche Miene auf und fuhr fort: »Es hat keinen Zweck, ich gebe die Hoffnung auf, du bist beschränkt, meine Tochter ... Dir müßte man alles eintrichtern, und das wird lästig. Da du nun mal kein Vermögen besitzt, mußt du die Männer eben mit etwas anderem fangen, begreife das doch. Man ist liebenswürdig, man macht zärtliche Augen, man vergißt seine Hand, man erlaubt die Kindereien, ohne sich etwas anmerken zu lassen; kurzum, man angelt sich einen Mann ... Glaubst du etwa, es ist deinen Augen zuträglich, wenn du heulst wie ein Schloßhund?«
Berthe schluchzte.
»Du regst mich auf, hör bloß auf zu heulen ... Mein lieber Josserand, befiehl doch deiner Tochter, sie soll sich mit dieser Heulerei nicht das Gesicht verhunzen. Das wäre der Gipfel, wenn sie häßlich wird!«
»Mein Kind«, sagte der Vater, »sei vernünftig, hör auf deine Mutter, die immer Rat weiß. Du darfst nicht häßlich werden, Liebes.«
»Und mich ärgert, daß sie gar nicht mal so übel ist, wenn sie will«, begann Frau Josserand wieder. »Na, wisch dir die Augen ab, schau mich an, als ob ich ein Herr wäre, der im Begriff ist, dir den Hof zu machen ... Du lächelst, du läßt deinen Fächer fallen, damit der Herr, wenn er ihn aufhebt, deine Finger streift ... Nicht so! Du plusterst dich ja auf, daß du aussiehst wie ein krankes Huhn ... Wirf doch den Kopf zurück, mach deinen Hals frei: er ist ja jung genug, daß du ihn zeigen kannst.«
»Also so, Mama?«
»Ja, das ist schon besser ... Und sei nicht steif, laß deine Taille schmiegsam sein. Bretter haben die Männer nicht gern ... Stell dich vor allen Dingen nicht albern an, wenn sie zu weit gehen. Ein Mann, der zu weit geht, ist hin, meine Liebe.«
Die Standuhr im Salon schlug die zweite Stunde; und in der Aufregung dieses lang ausgedehnten Aufbleibens und in ihrem zur Sucht gewordenen Verlangen nach einer sofortigen Verheiratung vergaß sich die Mutter so weit, daß sie laut dachte, wobei sie ihre Tochter wie eine Puppe aus Pappe hin und her drehte.
Schlaff, willenlos ließ diese sich alles gefallen; aber ihr war ganz schwer ums Herz, Angst und Scham schnürten ihr die Kehle zu. Mitten in einem perlenden Lachen, das zu versuchen ihre Mutter sie zwang, brach sie mit verstörtem Gesicht jäh in Schluchzen aus und stammelte: »Nein, nein! Das fallt mir so schwer!«
Frau Josserand stand eine Sekunde empört und verdutzt da. Seit sie von Dambrevilles weggegangen war, saß ihr die Hand locker, es lagen Maulschellen in der Luft. Da ohrfeigte sie Berthe mit vollem Schwung.
»Da! So langsam ödest du mich an! – So eine Trine! Wahrhaftig, die Männer haben recht!«
Bei dem Ruck war ihr Lamartine, den sie nicht losgelassen hatte, zu Boden gefallen. Sie hob ihn auf, wischte ihn ab und begab sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, ihr Ballkleid königlich hinter sich herschleppend, ins Schlafzimmer.
»Das mußte ja so enden«, murmelte Herr Josserand, der seine Tochter nicht zurückzuhalten wagte, die ebenfalls ging, sich die Wange hielt und noch heftiger weinte.
Aber als Berthe im Finstern durch die Diele tappte, traf sie auf ihren Bruder Saturnin, der aufgestanden war und barfuß herumstand und horchte. Saturnin war ein großer, schlaksiger fünfundzwanzigjähriger Bursche mit seltsamen Augen, der infolge einer Gehirnentzündung ein Kind geblieben war. Wenn er auch nicht verrückt war, so setzte er, wenn man ihn ärgerte, doch das Haus durch Anfälle blinder Gewalttätigkeit in Schrecken. Allein Berthe pflegte ihn mit einem Blick zu bändigen. Als sie eine kleine Range gewesen, hatte er sie während einer langen Krankheit gepflegt und dabei wie ein Hund ihren Launen eines leidenden kleinen Mädchens gehorcht; und seitdem er sie gerettet hatte, war er von einer Schwärmerei für sie befallen, bei der jegliche Art von Liebe mitspielte.
»Hat sie dich schon wieder geschlagen?« fragte er mit leiser und glühender Stimme.
Besorgt darüber, ihn hier zu treffen, versuchte Berthe ihn zurückzuschicken.
»Geh schlafen, das geht dich nichts an.«
»Doch gehtʼs mich was an. Ich will nicht, daß sie dich schlägt! Sie hat mich wach gemacht, so laut hat sie geschrien ... Sie soll ja nicht noch mal anfangen, sonst dresche ich zu!«
Da ergriff sie seine Handgelenke und sprach zu ihm wie zu einem aufbegehrenden Tier. Er unterwarf sich sogleich, er stammelte, während ihm wie einem kleinen Jungen die Tränen kamen:
»Es tut dir sehr weh, nicht wahr? Wo ist dein Wehweh? Ich will ein Küßchen drauf geben.« Und da er in der Dunkelheit ihre Wange gefunden hatte, küßte er sie, benetzte sie mit seinen Tränen, wobei er immer wieder sagte: »Es ist wieder heil, es ist wieder heil!«
Unterdessen hatte Herr Josserand, der allein geblieben war, seine Feder sinken lassen, da ihm das Herz vor Kummer allzu schwer war. Nach einigen Minuten stand er auf, um leise an den Türen zu horchen. Frau Josserand schnarchte. Im Zimmer seiner Töchter weinte niemand. Die Wohnung war schwarz und friedlich. Da kehrte er ein wenig erleichtert zurück. Er schraubte die blakende Lampe zurecht und begann mechanisch wieder zu schreiben. Im feierlichen Schweigen des eingeschlafenen Hauses rollten zwei dicke Tränen, die er gar nicht spürte, auf die Streifbänder hinab.
Drittes Kapitel
Gleich beim Fisch – Rochen von zweifelhafter Frische mit brauner Butter, den Adèle, diese Pfuscherin, in einer Woge von Essig ertränkt hatte – ermunterten Hortense und Berthe Onkel Bachelard, der zwischen ihnen saß, zum Trinken, schenkten abwechselnd sein Glas voll und sagten immer wieder: »Es ist dein Namenstag, so trink doch! Auf dein Wohl, Onkel!«
Sie hatten das Komplott geschmiedet, sich zwanzig Francs schenken zu lassen. Jedes Jahr setzte ihre vorsorgliche Mutter so ihren Bruder zwischen die beiden und lieferte ihn ihnen aus. Aber es war ein hartes Stück Arbeit, das die ganze Gier zweier Mädchen erforderte, denen Träume von Louis-Quinze-Schuhen13 und fünfknöpfigen Handschuhen zusetzten. Damit der Onkel die zwanzig Francs herausrückte, mußte er völlig blau sein. Innerhalb der Familie war er von wildem Geiz, während er außerhalb auf wüsten Gelagen die achtzigtausend Francs verpraßte, die er jährlich beim Kommissionsgeschäft verdiente. Glücklicherweise war er an diesem Abend bereits angetrunken eingetroffen, weil er den Nachmittag bei einer Färberin im Faubourg Montmartre verbracht hatte, die sich für ihn Wermut aus Marseille schicken ließ. »Auf euer Wohl, meine Kätzchen!« erwiderte er jedesmal mit seiner polternden, teigigen Stimme und leerte sein Glas.
Er war geradezu mit Juwelen bedeckt, hatte eine Rose im Knopfloch und nahm die Mitte der Tafel ein, wirkte gewaltig in seiner Stattlichkeit eines ausschweifenden und großmäuligen Geschäftsmanns, der sich in allen Lastern gewälzt hat. Seine falschen Zähne erhellten sein verwüstetes Gesicht, dessen große rote Nase unter dem schneeigen Käppchen seines kurzgeschnittenen Haars aufloderte, mit allzu grellem Weiß; und von Zeit zu Zeit fielen seine Lider von selbst über seine matten und trüben Augen herab. Gueulin, der Sohn einer Schwester seiner Frau, pflegte zu versichern, der Onkel sei in den zehn Jahren, die er Witwer sei, nicht nüchtern geworden.
»Narcisse, ein wenig Rochen, er ist ausgezeichnet«, sagte Frau Josserand, die angesichts der Trunkenheit ihres Bruders lächelte, obgleich sich ihr im Grunde dabei der Magen umdrehte.
Sie saß ihm gegenüber, zu ihrer Linken hatte sie den kleinen Gueulin und zu ihrer Rechten einen jungen Mann, Hector Trublot, dem gegenüber sie sich revanchieren mußte. Gewöhnlich benutzte sie dieses Familienessen dazu, gewisse Einladungen hinter sich zu bringen; und so kam es, daß auch eine im Hause wohnende Dame, Frau Juzeur, anwesend war, die neben Herrn Josserand saß. Da der Onkel sich übrigens bei Tisch sehr schlecht aufzuführen pflegte, so daß man schon sein Vermögen berücksichtigen mußte, um ihn ohne Ekel ertragen zu können, zeigte sie ihn nur vertrauten Freunden oder solchen Leuten, denen hinfort noch länger Sand in die Augen zu streuen sie für unnötig erachtete. So hatte sie zum Beispiel eine Weile an den jungen Trublot als Schwiegersohn gedacht, der zur Zeit – so lange, bis sein Vater, ein reicher Mann, ihm eine Geschäftsbeteiligung kaufte – bei einem Börsenmakler angestellt war; da Trublot aber einen stillen Haß auf die Ehe bekundet hatte, tat sie sich ihm gegenüber keinen Zwang mehr an, sie setzte ihn sogar neben Saturnin, der niemals hatte sauber essen können. Berthe, die stets an der Seite ihres Bruders saß, hatte den Auftrag, ihn mit einem Blick in Zaum zu halten, wenn er mit den Fingern allzusehr in der Sauce herumfuhr.
Nach dem Fisch erschien eine fette Pastete, und die Töchter des Hauses hielten den Augenblick für gekommen, den Angriff zu beginnen.
»So trink doch, Onkel!« sagte Hortense. »Es ist ja dein Namenstag ... Läßt du nichts springen zu deinem Namenstag?«
»Ach ja, richtig«, setzte Berthe mit unbefangener Miene hinzu. »An seinem Namenstag läßt man doch was springen ... Du wirst uns zwanzig Francs schenken.«
Als Bachelard von Geld reden hörte, stellte er sich auf einmal noch betrunkener. Das war seine gewohnte Bosheit: seine Augenlider fielen herab, er spielte den Blöden.
»He, was?« lallte er.
»Zwanzig Francs, du weißt doch, was zwanzig Francs sind, stell dich nicht dumm«, erwiderte Berthe. »Schenk uns zwanzig Francs, und wir haben dich lieb, oh, wir haben dich ganz mächtig lieb!«
Sie waren ihm um den Hals gefallen, überschütteten ihn verschwenderisch mit Kosenamen, küßten sein glühendes Gesicht ohne Widerwillen vor dem gemeinen Geruch nach ausschweifendem Leben, den er ausströmte.
Herr Josserand, den dieser ständige Dunst von Absinth, Tabak und Moschus störte, wurde von Empörung erfaßt, als er sah, wie sich der jungfräuliche Liebreiz seiner Töchter an all dem Scheußlichen rieb, das sich der Onkel auf allen Bürgersteigen aufgelesen hatte.
»Laßt ihn doch sein!« rief er.
»Warum denn?« sagte Frau Josserand, die ihrem Gatten einen fürchterlichen Blick zuschleuderte. »Sie amüsieren sich ... wenn Narcisse ihnen zwanzig Francs schenken will, so steht es ihm doch frei.«
»Herr Bachelard ist so gut zu ihnen!« murmelte die kleine Frau Juzeur gefälligerweise.
Aber der Onkel sträubte sich, tat noch stumpfsinniger, und den Mund voller Speichel, sagte er immer wieder: »Das ist drollig ... Keine Ahnung, Ehrenwort! Keine Ahnung ...«
Da wechselten Hortense und Berthe einen Blick und ließen von ihm ab. Zweifellos hatte er noch nicht genug getrunken. Und mit dem Gelächter von Dirnen, die einen Mann ausnehmen wollen, machten sie sich wiederum daran, sein Glas vollzuschenken. Ihre nackten Arme, die von anbetungswürdiger jugendlicher Fülle waren, fuhren alle paar Minuten unter die große flammende Nase des Onkels.
Unterdessen blickte Trublot als schweigsamer Bursche, der sich seine Vergnügungen allein zu verschaffen pflegte, Adèle nach, während diese schwerfällig hinter den Gästen hin und her ging. Er war sehr kurzsichtig, und so wie er sie sah, war sie hübsch mit ihren ausgeprägten Zügen einer Bretonin und ihrem Haar, das eine Farbe hatte wie schmutziger Hanf. Gerade als sie den Braten auftrug, ein in der Kasserolle geschmortes Stück Kalbfleisch, legte sie sich halb über seine Schulter, um die Mitte des Tisches erreichen zu können; und während er so tat, als wolle er seine Serviette aufheben, kniff er sie kräftig in die Wade. Das Dienstmädchen schaute ihn verständnislos an, als hätte er sie um Brot gebeten.
»Was gibtʼs?« fragte Frau Josserand. »Hat sie Sie gestoßen, Herr Trublot? Oh, dieses Mädchen! Sie ist von einer Ungeschicklichkeit! Aber das ist nun mal nicht anders. Die ist noch ganz neu, die muß erst herangebildet werden.«
»Allerdings; es ist weiter nicht schlimm«, erwiderte Trublot, der seinen starken, schwarzen Bart mit der Gelassenheit eines jungen indischen Gottes kraulte.
Die Unterhaltung wurde lebhafter in diesem Eßzimmer, das zuerst eisig war und nach und nach vom Geruch der Speisen erwärmt wurde.
Frau Juzeur vertraute Herrn Josserand wieder einmal die Traurigkeiten ihres dreißigjährigen einsamen Lebens an. Sie hob die Augen gen Himmel, sie begnügte sich mit der folgenden taktvollen Anspielung auf das Drama ihres Lebens: ihr Mann habe sie nach zehntägiger Ehe verlassen, und niemand wisse warum; weiter sage sie nichts darüber. Jetzt lebe sie allein in einer stets verschlossenen Wohnung, die daunenhaft wohlig sei und die nur Priester beträten.
»Das ist so traurig in meinem Alter!« murmelte sie schmachtend, während sie mit zierlichen Gebärden ihr Kalbfleisch aß.