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»Ein recht unglückliches Frauchen«, raunte Frau Josserand mit einer Miene tiefen Mitgefühls Trublot ins Ohr.
Aber Trublot warf gleichgültige Blicke auf diese Frömmlerin mit den hellen Augen, die voller Vorbe halte und Hintergedanken steckte. Das war nicht sein Geschmack.
Es entstand eine Panik. Saturnin, auf den Berthe nicht mehr aufpaßte, da sie allzusehr mit ihrem Onkel beschäftigt war, vergnügte sich mit seinem Fleisch, das er in kleine Stückchen zerschnitt und daraus auf seinem Teller Muster zusammenlegte. Dieses arme Geschöpf brachte seine Mutter, die Angst vor ihm hatte und sich seiner schämte, zur Verzweiflung; sie wußte nicht, wie sie ihn loswerden sollte, wagte aus Eigenliebe nicht, einen Arbeiter aus ihm werden zu lassen, nachdem sie ihn seinen Schwestern geopfert hatte, indem sie ihn aus einem Internat herausnahm, wo sein eingeschlafener Verstand allzu langsam erwachte; und all die Jahre hindurch, die er unnütz und beschränkt im Haus umherschlich, stand sie tausend Ängste aus, wenn sie ihn in Gesellschaft vorführen sollte. Ihr Stolz blutete.
»Saturnin!« rief sie.
Aber glücklich über den Matsch auf seinem Teller, fing Saturnin an, höhnisch zu grinsen. Er hatte keinen Respekt vor seiner Mutter, schimpfte sie mit der Scharfsichtigkeit von Verrückten, die laut denken, freiheraus eine grobe Lügnerin und ein zänkisches Weib. Sicher hätten die Dinge eine schlimme Wendung genommen, er hätte ihr den Teller an den Kopf geworfen, wenn Berthe, die wieder an ihre Rolle dachte, ihn nicht starr angesehen hätte. Er wollte Widerstand leisten; dann erloschen seine Augen, er blieb bis zum Ende der Mahlzeit düster und schlapp, wie in einem Traum, auf seinem Stuhl sitzen.
»Hoffentlich haben Sie Ihre Flöte mitgebracht, Gueulin?« fragte Frau Josserand, die das Unbehagen ihrer Gäste zu zerstreuen suchte.
Gueulin spielte aus Liebhaberei Flöte, aber einzig und allein in Häusern, wo er sich behaglich fühlte.
»Mein Flöte, gewiß«, erwiderte er.
Er war zerstreut, sein rotes Haar und sein roter Backenbart waren noch struppiger als sonst; was die jungen Damen da mit ihrem Onkel anstellten, erregte sein höchstes Interesse. Er war bei einer Versicherungsgesellschaft angestellt, und gleich nach Büroschluß pflegte er Bachelard aufzusuchen und ihn nicht mehr zu verlassen, während er in seinem Gefolge dieselben Cafés und dieselben verrufenen Orte abklapperte. Hinter dem großen schlotterigen Körper des einen konnte man stets mit Sicherheit die fahle kleine Gestalt des anderen erblicken.
»Feste! Lassen Sie ihn nicht los!« sagte er unvermittelt wie ein Mann, der die Schläge beurteilt.
Der Onkel verlor in der Tat den Boden unter den Füßen. Als Adèle nach dem Gemüse, wäßrigen grünen Bohnen, Vanille- und Johannisbeereis auftrug, entstand unverhoffte Freude rings um die Tafel; und die Töchter des Hauses mißbrauchten die Situation, um ihren Onkel die Hälfte der Flasche Champagner trinken zu lassen, für die Frau Josserand bei einem benachbarten Kolonialwarenhändler drei Francs bezahlte. Der Onkel wurde zärtlich, er vergaß seine Schwachsinnskomödie.
»Zwanzig Francs, he! Weshalb zwanzig Francs? Ach, ihr wollt zwanzig Francs! Aber ich habe doch wahrhaftig keine. Fragt Gueulin. Nicht wahr, Gueulin, ich habe meine Börse vergessen, du hast im Café bezahlen müssen ... Wenn ich das Geld hätte, meine Kätzchen, würde ich es euch ja geben, ihr seid doch zu niedlich.«
Gueulin mit seiner kalten Miene lachte mit dem Kreischen eines schlecht geschmierten Flaschenzugs. Und er murmelte: »Dieser alte Gauner!« Dann ließ er sich mit einemmal hinreißen und rief: »Durchsuchen Sie ihn doch!«
Da stürzten sich Hortense und Berthe erneut ohne jede Zurückhaltung auf den Onkel. Das Gelüst auf die zwanzig Francs, das von ihrer guten Erziehung im Zaum gehalten wurde, machte sie schließlich toll; und sie ließen alle Rücksicht fahren. Die eine untersuchte mit beiden Händen die Westentaschen, während die andere die Finger bis zum Handgelenk in die Taschen des Überrocks versenkte.
Jedoch der Onkel kämpfte, hintenübergeworfen, noch immer; aber ihn packte das Lachen, ein von den Rülpsern des Rausches zerschnittenes Lachen.
»Ehrenwort! Ich habe nicht einen Sou ... Hört doch auf, ihr kitzelt mich ja!«
»In der Hose!« rief Gueulin energisch, den dieses Spiel erregte.
Und kurz entschlossen wühlte Berthe in der einen Hosentasche herum. Die Hände der Mädchen bebten, sie wurden beide brutal, sie hätten den Onkel noch geohrfeigt. Aber Berthe stieß einen Siegesschrei aus: aus der Tiefe der Tasche holte sie eine Handvoll Kleingeld hervor, das sie auf einen Teller streute; und dort lag in einem Haufen von Zweisousstücken und einigen Silbermünzen ein Zwanzigfrancsstück.
»Ich habʼs!« sagte sie, während sie über und über rot und mit aufgelöstem Haar das Stück in die Luft warf und wieder auffing.
Die ganze Tischgesellschaft klatschte in die Hände, fand das sehr drollig. Es entstand Getöse, das war die Fröhlichkeit des Abendessens. Frau Josserand betrachtete ihre Töchter mit dem Lächeln einer gerührten Mutter. Der Onkel, der sein Kleingeld wieder einsammelte, sagte mit lehrhafter Miene, wenn man zwanzig Francs haben wolle, dann müsse man sie verdienen. Und zu seiner Rechten und Linken schnauften müde und befriedigt die Töchter des Hauses mit noch bebenden Lippen und waren ganz entkräftet von ihrer Begierde.
Es ertönte ein Glockenschlag. Man hatte langsam gegessen, die Gäste trafen bereits ein. Herr Josserand, der beschlossen hatte, ebenfalls wie seine Frau zu lachen, pflegte bei Tisch gern etwas von Béranger14 vorzusingen; aber seine Frau, deren poetischen Geschmack er verletzte, gebot ihm Schweigen. Sie beschleunigte den Nachtisch, zumal der Onkel, der mißmutig geworden war, seit man ihm das Geschenk von zwanzig Francs abgenötigt hatte, Streit suchte, indem er sich beklagte, sein Neffe Léon habe nicht einmal geruht, sich herzubemühen und ihm zum Namenstag Glück zu wünschen. Léon sollte erst zur Abendgesellschaft kommen. Als man sich endlich erhob, sagte Adèle, der Architekt von unten und ein junger Mann seien gekommen und befänden sich im Salon.
»Ach ja, dieser junge Mann«, murmelte Frau Juzeur und nahm Herrn Josserands Arm an. »Sie haben ihn also eingeladen? Ich habe ihn heute beim Concierge gesehen. Er sieht sehr gut aus.«
Frau Josserand nahm eben Trublots Arm, als Saturnin, der allein am Tisch zurückgeblieben war und den der ganze Radau um die zwanzig Francs nicht aus dem Schlaf geweckt hatte, in den er mit offenen Augen verfallen war, in einem jähen Wutanfall seinen Stuhl umwarf und schrie: »Ich will nicht, Himmelsakrament! Ich will nicht!«
Gerade dies befürchtete seine Mutter immer besonders. Sie gab ihrem Mann einen Wink, er möge Frau Juzeur wegführen. Dann machte sie sich los vom Arm Trublots, der begriff und verschwand; aber er mußte sich wohl irren, denn er flitzte hinter Adèle drein nach der Küche hin. Ohne sich um den übergeschnappten, wie sie ihn nannten, zu kümmern, feixten Bachelard und Gueulin in einer Ecke und versetzten einander Klapse.
»Er war ganz komisch, ich habe schon geahnt, daß heute abend so etwas kommt«, murmelte Frau Josserand ganz besorgt. »Komm schnell, Berthe!«
Aber Berthe zeigte Hortense gerade das Zwanzigfrancsstück.
Saturnin hatte ein Messer ergriffen. Er sagte ein um das andere Mal: »Himmelsakrament! Ich will nicht, denen werde ich den Bauch aufschlitzen!«
»Berthe!« rief die verzweifelte Stimme der Mutter.
Und als Berthe herbeieilte, hatte sie gerade noch Zeit, Saturnin bei der Hand zu packen, damit er nicht in den Salon ging. In Zorn geraten, schüttelte sie ihn, während er ihr mit seiner Verrücktenlogik alles auseinandersetzte.
»Laß mich nur machen, sie müssen dran glauben ... Es ist besser, sage ich dir ... Ihre schmutzigen Geschichten habe ich satt. Die verraten uns alle.«
»Das ist ja nicht zum Aushalten!« schrie Berthe. »Was hast du denn? Was schwatzt du da?«
Von einer dumpfen Wut getrieben, sah er sie verstört an und stammelte: »Man will dich schon wieder unter die Haube bringen ... Niemals, hörst du! Ich will nicht, daß man dir was zuleide tut.«
Das junge Mädchen konnte nicht umhin zu lachen. Wo habe er das denn her, daß man sie unter die Haube bringen wolle?
Aber er nickte: er wußte es, er fühlte es.
Und als seine Mutter eingriff, um ihn zu beruhigen, faßte er das Messer so fest, daß sie zurückwich. Sie zitterte indessen, daß dieser Auftritt zu hören sein könnte; schnell sagte sie zu Berthe, sie solle ihn wegbringen und ihn in sein Zimmer einschließen, während er, immer närrischer werdend, die Stimme erhob.
»Ich will nicht, daß man dich unter die Haube bringt, ich will nicht, daß man dir was zuleide tut ... Wenn man dich unter die Haube bringt, schlitze ich ihnen den Bauch auf.«
Da legte ihm Berthe die Hände auf die Schultern und sah ihn starr an.
»Hör mal«, sagte sie, »verhalte dich ruhig, oder ich hab dich nicht mehr lieb.«
Er schwankte, ein Ausdruck der Verzweiflung ließ sein Gesicht weich werden, seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Du hast mich nicht mehr lieb, du hast mich nicht mehr lieb ... Sag das nicht. O bitte, sag, daß du mich noch liebhast, sag, daß du mich immer liebhaben wirst und daß du nie einen anderen liebhaben wirst.«
Sie hatte ihn beim Handgelenk ergriffen und führte ihn weg; er war folgsam wie ein Kind.
Im Salon nannte Frau Josserand, ihre Vertraulichkeit übertreibend, Campardon ihren lieben Nachbarn. Warum habe Frau Campardon ihr nicht die große Freude bereitet mitzukommen? Und auf die Antwort des Architekten hin, seine Frau sei stets ein wenig leidend, erhob sie laut Einspruch; man hätte sie auch in Morgenrock und Pantoffeln empfangen, sagte sie. Aber ihr Lächeln ließ Octave, der mit Herrn Josserand plauderte, nicht los; alle ihre Liebenswürdigkeiten waren, über Campardons Schulter hinweg, an ihn gerichtet. Als ihr Gatte ihr den jungen Mann vorstellte, legte sie eine so lebhafte Herzlichkeit an den Tag, daß er in Verlegenheit geriet.
Es trafen Gäste ein, beleibte Mütter mit mageren Töchtern, aus dem Büroschlaf nicht richtig erwachte Väter und Onkel, die Herden heiratsfähiger Töchter vor sich her trieben. Zwei mit rosa Papier verhüllte Lampen tauchten den Salon in Dämmerlicht, und darin ertranken die schäbigen alten Möbel mit ihrem gelben Samt, das Klavier mit der stumpf gewordenen Politur, die drei verräucherten Schweizer Ansichten, die schwarze Flecken auf die kalte Nacktheit der in Weiß und Gold gehaltenen Fächer der Wandtäfelung setzten. Und in dieser geizigen Helligkeit traten die Gäste in den Hintergrund, ärmliche und gleichsam abgenutzte Gestalten mit Toiletten, die man mühselig ausstaffiert hatte, ohne sich deshalb in sein Schicksal zu ergeben. Frau Josserand trug ihr feuerrotes Kleid vom Vorabend; allein um die Leute irrezuführen, hatte sie den Tag damit verbracht, Ärmel an das Mieder zu nähen und sich einen Spitzenumhang anzufertigen, um ihre Schultern zu verdecken, während ihre Töchter in schmutziger Unterjacke neben ihr wütend die Nadel hin und her gezogen und ihre einzigen Toiletten, die sie seit dem vorigen Winter so Stück für Stück änderten, mit neuen Garnituren aufgefrischt hatten.
Nach jedem Anschlagen der Glocke kam Geflüster aus der Diele. Man plauderte leise in dem düsteren Raum, in den das gezwungene Lachen einer jungen Dame dann und wann einen falschen Ton hineinbrachte. Hinter der kleinen Frau Juzeur stießen Bachelard und Gueulin einander mit dem Ellbogen an, wobei sie Unanständigkeiten vom Stapel ließen; und Frau Josserand paßte mit beunruhigten Blicken auf die beiden auf, denn sie fürchtete, daß ihr Bruder sich vorbeibenehmen könnte. Aber Frau Juzeur konnte alles hören; ihre Lippen bebten leise, sie lächelte mit engelhafter Sanftmut über die schlüpfrigen Geschichten. Onkel Bachelard stand in dem Ruf, ein gefährlicher Mann zu sein. Sein Neffe hingegen war keusch. So schön die Gelegenheiten auch sein mochten, Gueulin lehnte die Frauen aus theoretischen Gründen ab, nicht etwa weil er sie verachtete, sondern weil er das fürchtete, was auf das Glück folgte: immer Scherereien, pflegte er zu sagen.
Endlich tauchte Berthe auf. Sie ging rasch auf ihre Mutter zu.
»Oje, hat das Mühe gekostet!« flüsterte sie ihr ins Ohr. »Er wollte nicht schlafen gehen, ich habe ihn eingesperrt und zweimal abgeschlossen ... Aber ich habe Angst, er schlägt da drin alles kaputt.«
Frau Josserand zupfte sie heftig am Kleid.
Octave, der in ihrer Nähe stand, hatte soeben den Kopf gewandt.
»Meine Tochter Berthe, Herr Mouret«, sagte sie mit ihrer holdesten Miene und stellte sie ihm vor. »Herr Octave Mouret, mein Liebes.« Und sie blickte ihre Tochter an.
Die kannte diesen Blick gut, der gleichsam ein Gefechtsbefehl war und in dem sie die Lehren vom vergangenen Abend wiederfand. Sogleich gehorchte sie mit der Willfährigkeit und Gleichgültigkeit einer Tochter, die sich nicht mehr um den Bart des Freiers zu scheren pflegt. Sie sagte ihre kurze Rolle ganz hübsch her, hatte die leichte Anmut einer bereits müden und in allen Themen bewanderten Pariserin, sprach mit Begeisterung vom Süden, wo sie niemals hingekommen war.
An das steife Benehmen der unschuldigen Mädchen aus der Provinz gewöhnt, war Octave entzückt von diesem Geschnatter eines kleinen Frauchens, das sich kameradschaftlich anvertraute.
Aber Trublot, der seit dem Ende der Mahlzeit verschwunden war, kam verstohlenen Schrittes zur Tür des Eßzimmers herein; und Berthe, die ihn bemerkt hatte, fragte ihn unbesonnenerweise, wo er herkäme. Er schwieg sich aus, sie stand betreten da; um sich aus der Verlegenheit zu helfen, stellte sie dann die beiden jungen Leute einander vor.
Ihre Mutter hatte sie nicht aus den Augen gelassen, von nun an nahm sie die Haltung eines kommandierenden Generals an, leitete die Angelegenheit von dem Sessel aus, in den sie sich gesetzt hatte. Als sie meinte, die erste Plänkelei habe ein befriedigendes Ergebnis gezeitigt, rief sie ihre Tochter mit einem Wink zurück und sagte leise zu ihr: »Warte mit deinem Musizieren, bis Vabres da sind ... Und spiele laut!«
Octave war mit Trublot allein geblieben und suchte diesen auszufragen.
»Eine reizende Person.«
»Ja, nicht übel.«
»Das Fräulein in Blau ist ihre ältere Schwester, nicht wahr? Sie sieht nicht so gut aus.«
»Bei Gott! Sie ist mager!«
Trublot, der mit seinen kurzsichtigen Augen hinschaute, ohne etwas sehen zu können, hatte die Bulligkeit eines kräftigen, in seine Geschmacksrichtung verrannten Mannestieres. Er war befriedigt zurückgekommen und knabberte schwarze Dinger, in denen Octave zu seiner Überraschung Kaffeebohnen erkannte.
»Sagen Sie mal«, fragte Trublot unvermittelt, »im Süden sind die Frauen wohl fett?«
Octave lächelte und stand sich sogleich bestens mit Trublot. Beiden gemeinsame Ansichten brachten sie einander näher. Auf einem abseits stehenden Kanapee tauschten sie Vertraulichkeiten: der eine sprach von seiner Chefin aus dem »Paradies der Damen«, von Frau Hédouin, einer verdammt schönen, aber zu kalten Frau; der andere sagte, er sei bei seinem Börsenmakler, Herrn Desmarquay, von neun bis fünf in die Korrespondenzabteilung gesteckt worden, und dort bei seinem Chef sei ein fabelhaftes Dienstmädchen.
Unterdessen hatte sich die Tür des Salons geöffnet, drei Leute kamen herein.
»Das sind Vabres«, flüsterte Trublot und beugte sich zu seinem neuen Freund hinüber. »Auguste, der große, der ein Gesicht wie ein kranker Hammel hat, ist der älteste Sohn des Hausbesitzers: dreiunddreißig Jahre alt, dauernd Kopfschmerzen, die ihm die Augen hinaustreiben und die ihn einst daran gehindert haben, weiter Latein zu lernen; ein mürrischer Bursche, der Kaufmann geworden ist ... Der andere Théophile, diese gelbhaarige Mißgeburt mit dem schütteren Bart, dieser kleine achtundzwanzigjährige Greis, der von Husten- und Wutanfällen geschüttelt wird, hat es mit einem Dutzend Berufen versucht, hat dann Madame Valérie geheiratet, die junge Frau, die vorausgeht ...«
»Ich habe sie schon gesehen«, fiel Octave ein. »Sie ist die Tochter eines Kurzwarenhändlers aus dem Viertel, nicht wahr? Wie diese kleinen Schleier doch täuschen können! Sie war mir hübsch vorgekommen ... Dabei sieht sie nur sonderbar aus mit ihrem verkrampften Gesicht und dem bleifarbenen Teint.«
»Auch so eine, die nicht mein Traum ist«, meinte Trublot. »Sie hat prächtige Augen, es gibt Männer, denen das genügt ... Oje, ist die mager!«
Frau Josserand hatte sich erhoben, um Valérie die Hände zu drücken.
»Wie!« rief sie. »Herr Vabre ist nicht mitgekommen? Und auch Herr und Frau Duveyrier haben uns nicht mit ihrem Besuch beehrt? Sie hatten uns doch zugesagt. Oh, das ist aber sehr schlimm!«
Die junge Frau entschuldigte ihren Schwiegervater, den sein Alter in seiner Wohnung zurückhalte und der im übrigen abends lieber arbeite. Was ihren Schwager und ihre Schwägerin angehe, so hätten sie ihr aufgetragen, für sie um Entschuldigung zu bitten, da sie eine Einladung zu einer offiziellen Abendgesellschaft erhalten hätten, von deren Besuch sie nicht Abstand nehmen könnten.
Frau Josserand kniff die Lippen zusammen. Sie versäumte keinen einzigen Sonnabendempfang bei diesen Angebern aus dem ersten Stock, die geglaubt hätten, sie würden sich was vergeben, wenn sie an einem Dienstag in den vierten Stock hinaufgestiegen wären. Ihre bescheidene Teegesellschaft war freilich nicht so viel wert wie deren Konzerte mit großem Orchester. Aber nur Geduld! Wenn ihre beiden Töchter erst verheiratet waren und sie zwei Schwiegersöhne mit deren Familien hatte, um ihren Salon zu füllen, würde auch sie Chöre singen lassen.
»Halte dich bereit«, flüsterte sie Berthe ins Ohr.
Es waren etwa dreißig Personen anwesend, die sich ziemlich drängten, denn der den Töchtern des Hauses als Zimmer dienende kleine Salon wurde nicht geöffnet. Die Neuankömmlinge tauschten Händedrücke mit den Anwesenden aus. Valérie hatte sich neben Frau Juzeur gesetzt, während Bachelard und Gueulin ganz laut abfällige Bemerkungen über Théophile Vabre machten, den sie einen »Taugenichts« nannten, was sie komisch fanden. In einem Winkel saß Herr Josserand, der zu Hause so sehr in den Hintergrund trat, daß man ihn für einen Gast hätte halten können und man ihn stets suchte, selbst wenn er vor einem stand, und lauschte bestürzt einer Geschichte, die einer seiner alten Freunde erzählte: Bonnaud, er kenne doch Bonnaud, den ehemaligen Chef der Buchhaltungsabteilung bei der Nordbahn, der, dessen Tochter sich im vergangenen Frühjahr verheiratet habe? Also Bonnaud habe vor kurzem entdeckt, daß sein Schwiegersohn, ein sehr gut aussehender Mann, ein ehemaliger Clown sei, der zehn Jahre lang von einer Kunstreiterin ausgehalten worden sei.
»Still, still!« murmelten eifrige Stimmen.
Berthe hatte das Klavier geöffnet.
»Mein Gott«, erläuterte Frau Josserand, »es ist ein anspruchsloses Stück, eine einfache Träumerei ... Herr Mouret, Sie lieben doch Musik, nehme ich an. Treten Sie doch näher ... Meine Tochter spielt es ziemlich gut, oh, bloß als Dilettantin, aber mit Seele, ja, mit viel Seele.«
»Jetzt hat sie ihn geschnappt!« sagte Trublot leise. »Der Dreh mit der Sonate.«
Octave mußte sich erheben und stand jetzt in der Nähe des Klaviers. Wenn man die einschmeichelnde Zuvorkommenheit sah, mit der Frau Josserand ihn umgab, so schien es, als lasse sie Berthe einzig und allein für ihn spielen.
»›An den Ufern der Oise‹«, erklärte sie. »Es ist wirklich hübsch ... Nun, wohlan, mein Liebling, und sei nicht aufgeregt. Herr Mouret wird nachsichtig sein.«
Das junge Mädchen fing ohne, jede Aufregung an, das Stück zu spielen. Im übrigen ließ ihre Mutter sie nicht mehr aus den Augen, sie sah dabei aus wie ein Unteroffizier, der bereit ist, einen Verstoß gegen die Dienstvorschrift mit einer Ohrfeige zu ahnden. Sie war verzweifelt, daß das durch fünfzehn Jahre tägliches Tonleiterüben kurzatmig gewordene Instrument nicht die Klangfülle vom großen Flügel der Familie Duveyrier hatte; und ihrer Meinung nach spielte ihre Tochter niemals laut genug.
Schon beim zehnten Takt hörte Octave, der eine andächtige Miene aufsetzte und bei den Bravourläufen mit dem Kinn wackelte, nicht mehr hin. Er betrachtete die Zuhörer, die höflich zerstreute Aufmerksamkeit der Herren und das gekünstelte Entzücken der Damen, jene ganze Abspannung, wie sie Leute empfinden, die wieder sich selbst überlassen sind, die wieder von den tagtäglichen Sorgen erfaßt werden, deren Schatten in ihre müden Gesichter steigt. Mit weit aufgerissenem Mund und blutdürstig fletschenden Zähnen träumten Mütter in einem unbewußten Sichgehenlassen sichtlich davon, daß sie ihre Töchter unter die Haube brächten; das war die Sucht in diesem Salon, eine rasende Gier nach Schwiegersöhnen, die diese Spießbürgerinnen bei den asthmatischen Klängen des Klaviers verzehrte. Die Töchter, die sehr müde waren, schliefen ein, hatten den Kopf zwischen die Schultern eingezogen und vergaßen, sich gerade zu halten. Octave, der eine Geringschätzung für junge Mädchen hegte, interessierte sich noch mehr für Valérie; sie war entschieden häßlich in ihrem merkwürdigen, mit schwarzem Atlas besetzten gelben Seidenkleid; und unruhig, trotz allem verlockt, kam er immer wieder auf sie zurück, während sie mit unstet umherirrenden Augen, durch die schrille Musik gereizt, das verzerrte Lächeln einer Kranken aufsetzte.
Aber eine Katastrophe trat ein. Es hatte geklingelt, ein Herr kam ohne jede Behutsamkeit herein.
»Oh, Herr Doktor!« sagte Frau Josserand mit zorniger Stimme.
Doktor Juillerat machte eine entschuldigende Handbewegung und blieb an Ort und Stelle stehen.
In diesem Augenblick hob Berthe mit langsamer werdendem und ersterbendem Anschlag eine kleine Phrase hervor, die von der Gesellschaft mit beifälligem Gemurmel begrüßt wurde. Ah, entzückend! Köstlich! Frau Juzeur verging vor Wonne, fühlte sich gleichsam gekitzelt. Hortense, die neben ihrer Schwester stand und die Seiten umblätterte, verharrte störrisch im prasselnden Regen der Töne und lauschte angestrengt auf das Geläute der Türglocke; und als der Doktor eingetreten war, hatte sie vor Enttäuschung eine so heftige Handbewegung gemacht, daß sie soeben eine Seite auf dem Notenhalter zerrissen hatte. Aber jäh erzitterte das Klavier unter Berthes zerbrechlichen Händen, die wie Hämmer drauflosschlugen: es war das Ende der Träumerei in einem betäubenden Getöse wütender Akkorde.
Es entstand Unschlüssigkeit. Man erwachte. War es zu Ende? Dann brachen die Komplimente los. Wunderbar! Ein außergewöhnliches Talent!
»Das gnädige Fräulein ist wirklich eine erstklassige Künstlerin«, sagte Octave, der in seinen Betrachtungen gestört wurde. »Niemals hat mir jemand ein solches Vergnügen bereitet.«
»Nicht wahr, mein Herr?« rief Frau Josserand entzückt aus. »Sie macht ihre Sache ganz gut, das muß man doch zugeben ... Mein Gott, wir haben ihr ja auch nichts versagt, der Kleinen: sie ist unser Schatz! Alle Talente, die sie sich gewünscht hat, hat sie ... Ach, Herr Mouret, wenn Sie sie erst kennen würden ...«
Von neuem erfüllte verworrener Stimmenlärm den Salon. Seelenruhig nahm Berthe die Lobreden entgegen; und sie entfernte sich nicht vom Klavier, wartete, bis ihre Mutter sie von ihrer Fron entband. Schon erzählte diese Octave, auf welche erstaunliche und schmissige Art und Weise ihre Tochter »Die Schnitter«, einen brillanten Galopp, vorzutragen pflege, da versetzten dumpfe und ferne Schläge die Gäste in Aufregung. Seit einem Weilchen waren die Stöße immer heftiger geworden, als sei jemand mit aller Anstrengung dabei, eine Tür einzuschlagen. Alle verstummten und blickten einander fragend an.
»Was ist denn das?« wagte Valérie zu fragen. »Das hat vorhin schon gegen Schluß des Musikstückes so geklopft.«
Frau Josserand war ganz bleich geworden. Sie hatte erkannt, daß Saturnin da mit der Schulter gegen die Tür stieß. Oh, dieser elende Übergeschnappte! Und sie sah ihn mitten in die Gesellschaft hineinplatzen. Wenn er weiterbumste, war wieder mal eine Partie vermasselt!
»Das ist die Küchentür, die klappt«, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. »Adèle kann sie niemals richtig zumachen ... Schau doch mal nach, Berthe.«
Auch das junge Mädchen hatte begriffen. Sie erhob sich und verschwand. Sogleich hörten die Stöße auf, aber Berthe kam nicht sofort wieder zurück. Onkel Bachelard, der die »Ufer der Oise« in skandalöser Weise durch laute Bemerkungen gestört hatte, brachte seine Schwester vollends aus der Fassung, indem er Gueulin zurief, man öde ihn an und er gehe einen Grog trinken. Beide kehrten ins Eßzimmer zurück, dessen Tür sie geräuschvoll hinter sich schlossen.