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»Du weißt doch, daß sie den oberen Teil des Hemdes umlegt, um das blaue Gewand anziehen zu können«, wendete er sich an Fauchery und sprach dabei derart laut, daß er gehört werden mußte. »Wir haben heute morgen zur Probe kostümiert ... Sie konnte das Hemd nicht so anbehalten, denn es guckte unter den Armen und am Rücken hervor.«
Eine gewisse Spannung lag jetzt über dem Saal; Rose Mignon war als Diana auf die Bühne getreten. Obwohl weder ihre Taille noch ihr ganzes Äußeres zu der Rolle paßte – sie war mager, und ihr Gesicht sah eigentümlich häßlich aus, wie das eines Pariser Gassenjungen –, erschien sie doch ganz niedlich, gleichsam wie eine Verspottung der mythischen Persönlichkeit selbst, die sie spielen sollte. Ihre erste Arie, in der sie sich mit lächerlich dummen Worten über Mars beklagte, der eben im Zuge sei, sie um der Venus willen zu verlassen, wurde mit einer schamhaften Zurückhaltung gesungen, hinter der sich aber so viel Schalkhaftigkeit barg, daß das Publikum in Hitze geriet. Der Herr Gemahl und Steiner, die Arm in Arm zusammenstanden, lachten wohlgefällig, und der ganze Saal brach in Johlen aus, als Prullière, der beliebte Schauspieler, in Generalsuniform als Mars auftrat, mit einem riesigen Federbusch am Hut und einen Säbel hinter sich herschleifend, der ihm bis an die Schulter reichte. Mars-Prullière war seinerseits Dianas überdrüssig; sie rümpfte ihm immer zu sehr die Nase. Diana dagegen schwor hoch und heilig, ihn zu überwachen und sich zu rächen. Das Duo endigte mit einem komischen Jodler, der Prullière mit seiner dem Miauen eines erregten Katers ähnelnden Stimme und seinen rollenden Bramarbasaugen überaus possierlich gelang, so daß aus den Logen helles Gelächter erschallte.
Die folgenden Szenen langweilten. Kaum gelang es dem alten Bosc, einem schwachköpfigen Jupiter, dessen Haupt von einer gewaltigen Krone bedeckt war, das Publikum auf einen Augenblick in jener Szene zu erheitern, wo er mit seiner Gattin Juno bei Gelegenheit der Bemessung des Wirtschaftsgeldes in häuslichen Streit gerät. Das Defilee der Götter Neptun, Pluto, Minerva und so weiter drohte sogar völlig schiefzugehen. Man wurde ungeduldig, und unruhiges Gemurmel schwoll langsam an, die Zuschauer verloren alles Interesse und schauten sich im Saal um. Lucy schäkerte mit Labordette; der Graf Vandeuvres streckte hinter Blanches kräftigen Schultern den Kopf hervor, während Fauchery nach der Muffatschen Familie hinüberschaute, den Grafen beobachtete, der so ernst dasaß, als habe er kein Wort bisher begriffen, oder die Gräfin anstarrte, die träumerisch umherblickte und kaum merklich lächelte. Aber plötzlich erschallte mitten in dieses allgemeine Mißbehagen das Händeklatschen der Claque. Alles wendete sich wieder der Bühne zu. War es endlich Nana? Diese Nana ließ ja entsetzlich lange auf sich warten!
Es war eine Deputation Sterblicher, welche Ganymed und Iris eingeführt hatten, respektable Bürgersleute, sämtlich gehörnte Ehemänner, die dem Herrn der Götter eine Klageschrift gegen Venus unterbreiten wollten, die die Herzen ihrer Eheweiber mit allzu viel Feuer auszustatten beliebt habe. Die Köpfe der Chorsänger waren possierlich, die Gesichter paßten trefflich zu dem Charakter, den ihre Eigner darstellten, ein Dicker vornehmlich mit einem runden Vollmondgesicht rief stürmisches Lachen hervor. Unterdessen war Gott Vulkan erschienen; grimmig nach seiner Frau forschend, die schon seit drei Tagen von ihm fortgelaufen sei. Die Rolle des Vulkan wurde von Fontan gespielt, einem Komiker von grobkörnigem Talent, der sich in einer toll-phantastischen Weise als Dorfschmied herausstaffiert hatte; er trug eine flammende Perücke, während seine nackten Arme mit von Pfeilen durchbohrten Herzen tätowiert waren. Eine Frauenstimme ertönte ganz laut im Saal: »Hu, ist das ein häßlicher Kerl!«, und alles lachte und klatschte stürmisch Beifall.
Die nun folgende Szene schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Jupiter wandte sich darin umständlich an den Götterrat, um ihm die Bittschrift der gehörnten Ehemänner zu unterbreiten ... Und noch immer keine Nana! Man sparte also wohl Nana auf, bis der Vorhang fallen würde? Ein so lang hinausgezogenes Warten ärgerte schließlich das Publikum, und heftiges Gemurmel ließ sich wieder von allen Seiten vernehmen.
»Die Sache geht schief«, flüsterte Mignon mit glückselig strahlendem Lächeln Steiner zu. »Geben Sie acht, es wird ein herrlicher Durchfall!«
In diesem Augenblick zerteilten sich die Wolken im Hintergrund und Venus erschien. Nana, ein für seine achtzehn Jahre sehr großes und kräftiges Frauenzimmer, stieg, angetan mit der weißen Göttinnentunika, das lange blonde Haar über den Schultern in einem schlichten Knoten geknüpft, in ruhiger, gemessener Haltung, dem Publikum fröhlich zulachend, nach der Rampe hernieder, während sie ihr Hauptlied anstimmte: »Wenn Venus abends die Beine sich vertritt.. .«
Als sie den zweiten Vers sang, schaute sich alles im Saal um. War das ein schlechter Witz? Oder war Bordenave eine Wette eingegangen? Noch niemals hatte man eine Stimme gehört, die so falsch und mit so geringer Schulung sang. Auch wußte sie sich nicht einmal auf der Bühne zu bewegen, sie warf die Hände nach vorn, ihr Körper blieb in einem beständigen Schaukeln, das man wenig schicklich und höchst ungraziös fand. Oho!-Rufe wurden schon laut im Parterre und in den Logen, ja man pfiff bereits, als plötzlich aus den Fauteuils der Orchesterreihe eine jugendliche Stimme laut und deutlich durch den Saal tönte: »Herrlich! Famos!«
Alles im Saal schaute sich um. Der kleine, kaum vom Gymnasium gekommene Bruder Studio hatte den Ausspruch getan.
Als er die Blicke der Leute auf sich gerichtet sah, wurde er sehr rot darüber, daß er, ohne es zu wollen, so laut gesprochen hatte. Der ihm zur Seite sitzende Daguenet prüfte ihn mit einem lächelnden Blick, das Publikum lachte, es schien entwaffnet und dachte nicht mehr daran, zu pfeifen; ein paar junge, weißbehandschuhte Herren, die ebenfalls von der anmutigen Erscheinung Nanas in Entzücken versetzt wurden, standen mit offenem Munde da und klatschten Beifall.
»Bravo! Famos! Famos! Bravo!«
Nana indessen, als sie das Auditorium lachen sah, fing ebenfalls zu lachen an. Wenn sie lachte, zeigte sich ein reizendes Liebesgrübchen in ihrem Kinn. Nachdem sie dem Kapellmeister einen Wink gegeben hatte, der zu bedeuten schien: »Dreist vorwärts, liebes Männchen!«, begann sie das zweite Couplet: »Um Mitternacht, wenn Venus wacht...«
Es war noch die gleiche dünne, spitze Krähenstimme, aber jetzt kratzte sie das Publikum so geschickt an der richtigen Stelle, daß zuweilen ein leichtes Beben durch die Reihen lief. Nana lachte noch immer, ihr kleiner roter Mund glühte rosig, und ihre großen blauen Augen leuchteten. Bei manchen munteren Versen hob eine wilde Lüsternheit ihre Nase, deren rosige Flügel erzitterten, während eine Feuerflamme über ihre Wangen glitt. Sie fuhr fort, sich zu schaukeln und zu wiegen, denn sie wußte nicht recht, was sie beginnen sollte; und jetzt fand man diese Bewegung nicht abscheulich, im Gegenteil: die Männerwelt setzte die Operngläser an die Augen. Als das Couplet zu Ende war, war ihr die Stimme vollständig ausgegangen; aber ohne sich darüber zu beunruhigen, bewegte sie den Oberkörper mit einem Ruck der Hüften nach hinten, so daß unter der knappen Tunika, während sie die Arme in die Höhe streckte, die liebliche Rundung ihrer Formen zum Vorschein kam. Ein Sturm des Beifalls brach los. Sogleich hatte sie sich umgedreht und zeigte jetzt ihren starken Nacken, auf welchen rötlich blonde Haare gleich einem Vlies herniederfielen; der Beifallssturm wurde zu einem Orkan.
Das Ende des Aktes fiel merklich ab. Vulkan wollte Venus ohrfeigen. Die Götter hielten Rat und entschieden, daß sie sich, bevor sie den gehörnten Ehemännern Genugtuung verschaffen könnten, zu einer Untersuchung auf die Erde herabbegeben wollten. Diana, die zärtliche Worte zwischen Venus und Mars belauscht hatte, schwur, sie während der Reise nicht aus den Augen lassen zu wollen. Dann kam eine Szene, in welcher Amor, den ein zwölfjähriger Backfisch spielte, auf alle Fragen mit »Ja, Mama« und »Nein, Mama« in weinerlichem Tone antwortete, während er mit den Fingern in der Nase bohrte. Darauf sperrte Jupiter mit der Strenge eines in Zorn geratenen Herrn und Meisters den kleinen Monsieur Amor in eine schwarze Kammer und gab ihm auf, das Verbum amo zwanzigmal zu konjugieren. Dann kam das Finale, ein Chorgesang, der von den Schauspielern und dem Orchester brillant ausgeführt wurde. Aber als der Vorhang fiel, bemühte sich die Claque vergeblich, einen Hervorruf zu erzwingen; alles stand auf und bewegte sich ohne Verzug zu den Ausgängen. Man stampfte mit den Füßen, schob und stieß sich, zwischen den Reihen der Fauteuils eingezwängt, und tauschte seine Eindrücke aus. Ein einziges Wort fand schließlich den Weg durch die Menge: »Blödsinn! Gräßlicher Blödsinn!«
Ein Kritiker meinte, daß man das Ding ganz gehörig zusammenstreichen müsse. Um das Stück kümmerte man sich übrigens wenig; hauptsächlich sprach man von Nana. Fauchery und Faloise, die unter den ersten waren, die das Theater verließen, trafen im Orchestergang mit Steiner und Mignon zusammen. Es war zum Ersticken heiß in diesem engen, wie ein Minenschacht zusammengepreßten Gang, der von Gaslampen erhellt wurde. Sie blieben einen Augenblick am Fuß der Treppe unter dem Schutz des Geländervorsprungs stehen. Die Zuschauer der oberen Logen und Galerien polterten die Treppe herab.
»Ich kenne sie!« rief Steiner, sobald er Faucherys ansichtig wurde. »Ganz gewiß, ich habe sie schon wo gesehen ... Im Kasino, glaube ich, und dort ist sie arretiert worden, so betrunken war sie.«
»Ich bin mir nicht ganz klar«, bemerkte der Journalist, »aber es geht mir wie Ihnen, ich bin ihr auch schon irgendwo begegnet.«
Er senkte die Stimme und setzte lachend hinzu:
»Vielleicht bei der Tricon!«
»Gewiß in irgendeinem Schmutzwinkel!« konstatierte Mignon, der lebhaft aufgeregt zu sein schien. »Es ist jämmerlich, daß das Publikum die erstbeste hergelaufene Person derartig aufnimmt. Es wird bald kein einziges anständiges Frauenzimmer mehr beim Theater sein ... Den Teufel auch, wenn's mir zu bunt wird, so untersage ich meiner Rose alles weitere Spielen.«
Fauchery konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Ein kleiner Mann, der eine Mütze mit steifem Schirm trug, sagte mit einer schleppenden Stimme:
»Oh, nicht übel, nicht übel! Ein stattliches Frauenzimmer! Da liegt noch was drin!«
Im Gange stritten sich zwei junge Männer, die mit gebranntem Haar und hohen steifen Kragen höchst elegant aussahen; der eine wiederholte in einem fort die Worte: »Abscheulich! Erbärmlich!«, ohne einen Grund für sein Urteil zu geben, der andere antwortete mit dem ebensooft gesprochenen Wort: »Reizend! Himmlisch!«, verschmähte aber ebenso jegliche Argumentation.
Faloise fand Nana ganz vortrefflich; er wagte nur die einzige Bemerkung, daß sie noch bedeutend gewinnen würde, wenn sie ihre Stimme kultivierte. Steiner, der nicht mehr zuhörte, schien plötzlich aus einem Traum emporzufahren. Man müsse abwarten. Vielleicht gehe in den folgenden Akten noch alles schief. Das Publikum habe sehr viel Beifall gezeigt, das sei nicht zu leugnen, aber ebenso sicher sei, daß es noch weit davon entfernt sei, begeistert für die neue Künstlerin zu sein. Mignon beteuerte, daß das Stück unmöglich zu Ende gespielt werden würde, und als Fauchery und Faloise sie allein ließen, um sich nach dem Foyer hinaufzubegeben, nahm er Steiner am Arm, lehnte sich an seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr:
»Kommen Sie, mein Bester! Sie sollten sich das Kostüm ansehen, das meine Frau im zweiten Akt tragen wird ... Es ist brillant!«
Oben im Foyer brannten drei Kristallkronleuchter in hellem Lichte. Die beiden Vettern blieben einen Moment lang zögernd stehen; durch die Scheiben der Glastüren hindurch erblickte man eine Woge von Köpfen, die durch zwei Gegenströmungen in einem beständigen Wirbel gehalten wurde.
Fauchery war, um Atem zu schöpfen, auf den Balkon hinausgegangen. Faloise, der die Photographien der Schauspielerinnen studierte, die zwischen den Säulen hingen, entschloß sich endlich, ihm zu folgen. Eben hatte man die Lampenreihe an der Giebelfront des Theaters ausgelöscht. Draußen war es pechfinster, und ein frischer Luftzug wehte; der Balkon schien leer zu sein, nur ein einzelner junger Herr stand im Schatten über die Steinbrüstung gelehnt und rauchte eine Zigarette, die ab und zu aufglomm. Fauchery erkannte den Herrn: es war Daguenet. Sie tauschten einen Händedruck aus.
»Was machen Sie denn da, mein Lieber?« fragte der Journalist. »Sie verstecken sich heute in allen Ecken und Winkeln, und an anderen Premieretagen setzen Sie den Fuß nicht aus dem Parkett.«
»Ich rauche, wie Sie sehen«, erwiderte Daguenet.
Dann fragte Fauchery, um ihn zu überrumpeln:
»Sagen Sie doch, Daguenet, was denken Sie denn über die Debütantin? ... Im Foyer und in den Zwischengängen reißt man sie gehörig herunter.«
»Oh«, gab Daguenet leise zur Antwort, »das sind wohl meist Leute, von denen sie nichts hat wissen wollen.«
Dies war sein ganzes Urteil über Nanas Talent. Faloise neigte sich über die Brüstung und blickte hinab auf den Boulevard. Die gegenüberliegenden Fenster eines Hotels und eines Klublokals waren hell erleuchtet, während auf dem Trottoir eine schwarze Masse die Tische des »Café Madrid« besetzt hielt.
Trotz der vorgerückten Stunde war es auf der Straße voll zum Erdrücken: man konnte nur kurze Schritte machen. Aus der Passage Jouffroy kamen beständig Leute heraus. Sie blieben manchmal fünf Minuten lang stehen, bevor ihnen die lange Reihe von vorbeifahrenden Wagen den Übergang gestattete.
»Welch ein Leben! Welch ein Lärm!« rief Faloise aus, den Paris noch in lebhaftes Erstaunen setzte.
Ein Läuten ertönte; das Foyer wurde leer. Man eilte die Verbindungsgänge entlang. Der Vorhang war aufgezogen, als noch scharenweise die Hinausgegangenen zum lebhaften Verdruß der bereits Sitzenden den Zuschauerraum wieder betraten und ihre Sitze einnahmen. Der erste Blick, den Faloise durch den Saal sandte, war auf Gaga gerichtet, aber er war verwundert, den langen blonden Herrn, den er eben erst in Lucys Loge gesehen hatte, jetzt neben Gaga stehen zu sehen.
»Wie heißt denn dieser Herr?« fragte er.
Fauchery sah ihn nicht gleich.
»Ach du lieber Gott, Labordette!« sagte er dann mit der nämlichen halb sorglosen, halb wegwerfenden Miene wie vorhin.
Die Dekoration des zweiten Aktes rief lebhaftes Erstaunen hervor. Man sah das Innere einer Winkelkneipe der Vorstadt, der »Schwarzen Kugel«, am Fastnachtsdienstag; unsaubere Masken tanzten ein Rondo, dessen Refrain sie mit Hackenklappern begleiteten, und dieser außer Rand und Band geratene Janhagel erheiterte das Auditorium dermaßen, daß das Rondo noch einmal begehrt wurde. Und hier herein trat eben die von Iris irregeleitete Götterschar, die sich törichterweise einbildete, die Erde zu kennen, in der Absicht, ihre Untersuchung abzuhalten. Sie waren maskiert, um ihr Inkognito zu wahren. Jupiter trat als König Dagobert ein, eine Eisenblechkrone auf dem Haupt und die Hosen verkehrt über die Beine gezogen. Phöbus kam als Postillion von Lonjumeau und Minerva als normannische Amme. Unbändige Heiterkeit empfing den Kriegsgott Mars, der eine extravagante Schweizer Admiralsuniform trug. Aber das Gelächter erreichte den Gipfelpunkt, als man Neptun erblickte, der mit einer blauen Leinwandbluse bekleidet war, auf dem Kopf eine hohe aufgeblähte Schirmmütze trug, unter welcher Schmachtlocken an den Schläfen hervorkamen, und der in mächtigen Pantoffeln einherschlurfte, während er mit einer speckigen Stimme die Worte lallte: »Wenn man ein sdlöner Mann ist, so muß man sich auch lieben lassen!« Lautes »Oho!« antwortete ihm, während die Damen ihre Fächer ein wenig höher emporhoben. Lucy lachte in ihrer Proszeniumsloge so laut und geräuschvoll, daß Caroline Héquet sie mit einem leichten Schlag ihres Fächers zur Ruhe auffordern mußte.
Indessen nahm die Handlung ihren Fortgang. Vulkan lief als perfekter Dandy, ganz in Gelb gekleidet, mit gelben Handschuhen, ein Monokel in das rechte Auge geklemmt, beständig hinter Venus her, die endlich als Hökerweib auf der Bühne erschien, ein Tuch um den Kopf geschlungen, mit bloßen, von dickem Goldschmuck behangenen Brüsten. Nana war so weiß und so fett, so natürlich in dieser starke Hüften und ein kräftiges Mundwerk erheischenden Rolle, daß sie im Flug das ganze Auditorium gewann. Man vergaß über ihr völlig Rose Mignon, das reizende Püppchen mit dem weiten Hut und dem kurzen Musselinröckchen, die eben mit einer allerliebsten Stimme ihre Dianenklagen seufzte. Die andere, das große, dicke Frauenzimmer, das sich auf seine feisten Schenkel schlug und wie eine Henne gluckste, erschien in so überwiegend weiblichem Nimbus und war von so kräftigem Lebensodem umhaucht, daß sich das Publikum daran berauschte. Von diesem zweiten Akt an war Nana alles erlaubt; ihre Haltung mochte kläglich sein, sie brauchte keine einzige Note zu singen, sie konnte steckenbleiben; sobald sie sich umdrehte und lachte, war alles gut, ihr Lachen genügte, um die Bravorufe aus allen Winkeln des Saales einzuheimsen. Wenn sie ihren famosen Hüftenstoß inszenierte, geriet das Parkett in Feuer, und von den Logen bis zur Galerie, bis zur Wölbung hinauf stieg die Hitze der Begeisterung.
Zwei Stücke wurden zur Wiederholung verlangt. Der Ouvertürenwalzer, jener Walzer mit dem aufreizenden Rhythmus, ertönte jetzt wieder und führte die Götter hinweg. Juno, die als Pächtersfrau kostümiert war, erwischte ihren Jupiter bei einem zärtlichen Tete-a-Tete mit seiner Waschmamsell und bedachte ihn mit Ohrfeigen. Diana, die Venus dabei erwischte, als sie Mars ein Stelldichein geben wollte, beeilte sich, an Vulkan Ort und Stunde zu verraten, worauf dieser den Ruf ausstieß: »Ha, ich habe meinen Plan!« Das übrige erschien nicht ganz verständlich. Die Untersuchung der Götterschar fand ihr Ende in einem Galoppfinale, nach dem Jupiter, außer Atem, in Schweiß gebadet und ohne Krone, die Erklärung abgab, daß die kleinen Frauen der Erde köstliche Geschöpfe seien und daß die Ehemänner samt und sonders unrecht hätten.
Der Vorhang fiel, als über die Bravos hinweg heftig geschrien wurde:
»Alle vor! Alle vor!«
Der Vorhang ging wieder in die Höhe; die Künstler, sich an den Händen haltend, traten vor, in ihrer Mitte machten Nana und Rose Mignon nebeneinander höfliche Knickse. Man klatschte, die Claque rief. Dann leerte sich der Saal langsam zur Hälfte.
»Ich muß jetzt die Gräfin Muffat begrüßen«, wandte sich Faloise zu Fauchery.
»Richtig, bei dieser Gelegenheit führst du mich dort ein«, erwiderte Fauchery; »wir wollen sogleich hinuntergehen.«
Aber es war durchaus nicht leicht, zu den Balkonlogen zu gelangen. In dem Verbindungsgang war es voll zum Erdrücken. Um sich mitten durch die Gruppen den Weg zu bahnen, mußte man bald zurücktreten, bald sich mit den Ellbogen weiterschieben.
Fauchery sah durch die runden, in den Türen befindlichen Guckfenster und überschaute rasch das Innere der Logen. Da trat der Graf Vandeuvres zu ihm und fragte ihn, wen er suche. Als er hörte, daß die beiden Vettern die Familie Muffat begrüßen wollten, zeigte er auf Loge Nummer 7, aus der er soeben herausgetreten war. Dann neigte er sich zum Ohr des Journalisten und flüsterte:
»Sagen Sie mal, mein Lieber, diese Nana ist doch sicher jenes Frauenzimmer, das wir eines Abends an der Ecke der Rue de Provence gesehen haben ...«
»Wahrhaftig! Sie haben recht!« rief Fauchery aus. »Ich sagte es ja, daß ich sie schon gesehen haben müsse.«
Faloise stellte seinen Vetter dem Grafen Muffat de Beuville vor, der sich indessen äußerst kühl zeigte. Aber die Gräfin, als sie den Namen Fauchery hörte, war aufmerksam geworden und sagte jetzt dem Feuilletonisten in nicht mißzuverstehender Weise verschiedene Komplimente über seine Artikel im »Figaro«. Bisweilen schaute sie im Saal umher, hob einen ihrer Arme, die bis zum Ellenbogen hinauf in weißen Handschuhen steckten, und fächelte sich mit einer nonchalanten Bewegung Luft zu.
»Wir erwarten Sie am nächsten Dienstag«, sprach die Gräfin zu Faloise.
Dann lud sie Fauchery ein, der mit einer Verbeugung dankte. Vom Stück wurde nicht ein einziges Mal gesprochen, der Name Nana wurde nicht genannt. Der Graf bewahrte eine eisige Würde, als ob er sich in einer Sitzung der Gesetzgebenden Körperschaft befände. Um ihre Gegenwart hier zu erklären, sagte er nur, daß sein Schwiegervater sehr gern das Theater besuche. Die Tür der Loge war offengeblieben; der Marquis de Chouard, der hinausgegangen war, um den besuchenden Herren seinen Platz einzuräumen, reckte dort seine hohe Greisengestalt mit dem weichen, weißen Antlitz unter dem breitrandigen Hut und folgte den vorübergehenden Damen mit seinen trüben Augen.
Sobald die Gräfin ihre Einladung an die beiden Herren gerichtet hatte, empfahl sich Fauchery, da er fühlte, daß es unschicklich sein würde, vom Stück zu sprechen. Faloise folgte seinem Beispiel und ging ebenfalls hinaus. Er hatte soeben in der Loge des Grafen Vandeuvres die vierschrötige Gestalt des blonden Labordette gesehen, der in reger Unterhaltung mit Blanche de Sivry begriffen war.
»Nanu«, sagte er, als sein Vetter wieder zu ihm getreten war, »dieser Labordette kennt wohl alle Frauenzimmer? Sieh, jetzt hält er sich wieder bei Blanche auf.«
»Na, ohne Zweifel kennt er sie alle«, gab Fauchery nachlässig zur Antwort. »Du solltest doch wissen, daß er jede schon wenigstens einmal besucht hat.«
Auf dem Gang draußen war es ein wenig leer geworden. Fauchery wollte eben hinuntergehen, als Lucy Stewart ihn anrief. Sie stand ganz im Dunkel, neben der Tür ihrer Loge. Man brate drinnen, meinte sie und nahm jetzt in Gemeinschaft mit Caroline Héquet und ihrer Mutter, die Pralinés knabberten, die ganze Breite des Korridors ein. Eine Logenschließerin plauderte mit ihnen. Lucy schalt den Journalisten: er sei wirklich ein allerliebstes Herrchen, besuche alle möglichen anderen Frauen und kümmere sich nicht einmal darum, ob sie Durst hätten! Dann sprang sie gleich auf ein anderes Thema über und meinte:
»Höre, mein Lieber, ich muß dir sagen, ich finde Nana ganz charmant.«
Sie wollte haben, daß er während des Schlußaktes in ihre Loge komme, aber er entschlüpfte mit dem Versprechen, sie am Ausgang treffen zu wollen. Unten vor dem Theater zündeten sich Fauchery und Faloise Zigaretten an. Eine dichte Reihe Menschen versperrte den Bürgersteig. Sie waren auf den Treppengang hinausgetreten, um die frische Nachtluft zu genießen.
Unterdessen hatte Mignon seinen Freund Steiner in das »Café des Variétés« geschleppt. Als er den Erfolg Nanas für sicher erkannte, hatte er enthusiastisch von ihr zu sprechen begonnen, wobei er den Bankier verstohlen betrachtete. Er kannte ihn, zweimal hatte er ihm geholfen, Rose zu hintergehen, und, wenn die Laune verrauscht war, ihn als reuigen, getreuen Liebhaber ihr wieder zugeführt.
In dem Café drängten sich die Gäste schon um die Marmortische; ein paar Herren gössen stehend ein Gläschen hinunter; die breiten Spiegelscheiben reflektierten dieses Gewimmel von Köpfen ins Endlose und ließen den engen Saal mit seinen drei Kronleuchtern, den schwarzen Plüschbänken und der rot drapierten Wendeltreppe weit größer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Steiner suchte sich einen Platz an einem Tisch im ersten Saal, der auf den Boulevard hinausging und dessen Türen man ein wenig frühzeitig für die Saison ausgehoben hatte. Als Fauchery und Faloise vorüberschritten, hielt sie der Bankier zurück.
»Trinken Sie doch ein Glas Bier mit uns!«
Ein Einfall hatte sich seiner bemächtigt: er wollte Nana ein Bukett zuwerfen. Hastig rief er einen Kellner des Cafés heran, den er einfach »Auguste« nannte. Mignon, der zuhörte, schaute ihn mit einem so durchdringenden Blick an, daß er aus dem Konzept geriet und verwirrt stammelte:
»Zwei Buketts, Auguste, und geben Sie sie bei der Schließerin ab, für jede der beiden Damen eins; im günstigen Moment soll sie sie ihnen zuwerfen, verstanden?«
Am anderen Ende des Saals, mit dem Rücken gegen die Umrahmung eines Spiegels gelehnt, saß ein Mädchen von höchstens achtzehn Jahren, unbeweglich, wie müde von langem, vergeblichem Warten, vor einem leeren Glase. Sie trug ein mattgrünes Seidenkleid und einen runden Hut, dessen Boden gewaltsam eingeschlagen erschien. Unter den natürlichen Locken ihrer schönen aschblonden Haare blickte ein jungfräuliches Antlitz mit sanften, milden Samtaugen hervor.