- -
- 100%
- +
»Ei der Tausend!« murmelte Fauchery, als er sie erblickte.
»Da ist ja Satin!«
Faloise fragte ihn, wer das sei. Oh, eine Straßendirne, sonst nichts. Aber sie sei so originell und pikant, daß man sich gern den Spaß mache, mit ihr zu reden. Der Journalist fragte das Mädchen:
»He, Satin, was machst du denn hier?«
»Ach, ich langweile mich wie ein Mops«, versetzte Satin, ohne sich vom Platze zu rühren.
Die vier Männer lachten. Das Frauenzimmer gefiel ihnen. Mignon versicherte, daß man sich nicht im geringsten zu beeilen brauche, es würden noch volle zwanzig Minuten vergehen, bevor die Dekoration des dritten Aktes in Ordnung sei. Aber die beiden Vettern, die ihr Bier bereits ausgetrunken hatten, wollten hinaufgehen, die kalte Luft behagte ihnen nicht. Als Mignon mit Steiner allein war, lehnte er sich an ihn und sagte ihm gerade ins Gesicht:
»Abgemacht also, Steinerchen, nicht wahr? Wir gehen zu ihr, ich werde Sie einführen ... Sie verstehen, das bleibt unter uns, meine Frau braucht davon nichts zu wissen.«
Als sie auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, bemerkten Fauchery und Faloise in der zweiten Logenreihe eine hübsche, mit feiner Bescheidenheit gekleidete Frau. Sie war in Gesellschaft eines ernst aussehenden Herrn, eines Bürochefs im Ministerium des Innern, den Faloise kannte, da er ihn bei Muffat getroffen hatte. Fauchery seinerseits glaubte, die Dame nenne sich Madame Robert; sie sei eine ehrbare Frau, die nie mehr als einen einzigen Liebhaber, und zwar immer einen respektablen Herrn, zu haben pflege.
Aber sie mußten schweigen, denn Daguenet lächelte ihnen zu. Jetzt, da Nana Erfolg gehabt hatte, verbarg er sich nicht mehr, sondern zeigte sich mit triumphierender Miene in den Gängen. Sein Nachbar, der Student, dagegen hatte seinen Sessel nicht verlassen; er saß wie angenagelt da, die Bewunderung für Nana hatte ihn geradezu gelähmt. Das also war sie, das also war das Weib! Er wurde rot bis über beide Ohren und zog in Gedanken seine Handschuhe an und aus. Dann wagte er an seinen Nachbarn, den er von Nana hatte sprechen hören, die Frage:
»Sie verzeihen, mein Herr, kennen Sie die Dame vielleicht, die die Venus spielt?«
»O ja, ein wenig«, gab Daguenet überrascht und zögernd zur Antwort.
»Dann wissen Sie möglicherweise auch, wo sie wohnt?« Die Frage war so plump und geradezu gestellt, daß Daguenet große Lust verspürte, sie mit einer Ohrfeige zu beantworten. »Nein«, versetzte er trocken und wandte den Kopf zur Seite. Der blonde Jüngling begriff, daß er eine Unschicklichkeit begangen hatte, errötete noch mehr und blieb in großer Bestürzung sitzen.
Jetzt erschallten die drei Schläge; der letzte Akt begann. Die Claque beklatschte die Dekoration, die eine in einer Silbergrube ausgehöhlte Grotte des Ätna darstellte, deren Seitenwände hell wie neue Talerstücke schimmerten; im Hintergrund stand Vulkans Schmiede, deren Esse den Eindruck eines niedergehenden Gestirns machte. Diana verständigte sich mit dem Gott über die im zweiten Akt offengebliebenen Differenzen; Vulkan sollte eine Reise erheucheln, um für Venus und Mars freie Bahn zu lassen. Kaum befand sich Diana allein, als Venus erschien. Ein aufgeregtes Beben durchlief den Saal. Nana war nackt. Sie zeigte sich in ihrem Kostüm mit ruhiger, bewußter Kühnheit, des Allvermögens ihrer Reize gewiß. Ein loser Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen unter dem leichten Schleier, der die Farbe weißen Schaumes hatte, schimmerten hindurch. Die den Fluten entstiegene Venus, deren schönste Bekleidung ihr wallendes Haar ist, zeigte sich hier dem Publikum. Plötzlich erwachte in dem kindisch-gutherzigen Geschöpf das Weib, das mit seinem unruhigen Drang all das Unbekannte der Begierde erschließt und die Weiblichkeit triumphieren läßt. Nana lächelte, aber ihr Lächeln war jenes scharfe, spitze Lächeln des Männerherzen aussaugenden Vampirs. – »Alle Teufel!« wandte sich Fauchery an seinen Freund.
Mars eilte inzwischen mit seinem wallenden Federbusch zum Rendezvous herbei und stand jetzt zwischen den beiden Göttinnen. Nun folgte eine Szene, die Prullière mit aller ihm eigenen Finesse spielte; geliebkost von Diana, die noch eine letzte Anstrengung an ihn verschwenden wollte, bevor sie ihn dem Vulkan überlieferte, gestreichelt von Venus, die durch die Gegenwart ihrer Rivalin noch mehr gereizt wurde, überließ er sich den süßen Empfindungen mit dem glückstrahlendsten Gesicht und blähte sich auf wie der Vogel im Hanfsamen. Ein großes Trio bildete den Schluß der Szene, und in diesem Augenblick trat eine Schließerin in die Loge von Lucy Stewart und warf zwei ungeheure Buketts von weißem Flieder auf die Bühne. Man applaudierte; Nana und Rose Mignon knicksten, während Prullière die Buketts aufhob. Ein Teil der im Parkett sitzenden Personen blickte lächelnd zu der Loge hinauf, in welcher Steiner und Mignon saßen. Der Bankier, dem das Blut ins Angesicht getreten war, bebte am ganzen Körper, sein Kinn zitterte konvulsivisch, gerade als ob ihm etwas in der Kehle steckengeblieben wäre.
Was nun folgte, war dazu angetan, das Publikum vollends zu packen. Diana war wütend davongerast. Gleich darauf rief Venus, die sich auf eine Moosbank hingestreckt hatte, Mars an ihre Seite. Noch niemals hatte man eine glühendere Verführungsszene dem Publikum zu zeigen gewagt. Nana, die ihre Arme um Prullières Hals schlang, zog ihn zu sich nieder, als plötzlich Fontan in einem trefflich nachgeahmten Anfall toller Wut, mit dem glühend erregten Gesicht des gefoppten Ehemanns, der seine Frau auf frischer Tat überrascht, im Hintergrund der Grotte erschien und das berüchtigte Eisenmaschennetz wild in den Händen schwang. Ein Moment noch, dann ein geschickter Ruck, und Venus und Mars waren in der Schlinge gefangen; das Netz umschlang sie, und bewegungslos mußten sie in ihrer verliebten Positur verharren.
Ein Gemurmel wurde laut und schwoll an gleich einem aufsteigenden Seufzer. Ein paar Hände klatschten, sämtliche Augengläser und Operngläser waren auf Venus gerichtet. Allmählich hatte Nana vom Publikum Besitz ergriffen, jedermann war ihr jetzt untertan. Das Fluidum, das von ihr ausging, breitete sich mehr und mehr aus und erfüllte den Saal. In diesem Augenblick atmeten auch ihre leisesten Gebärden Wollust; eine einzige Bewegung ihres kleinen Fingers ließ jedes Männerherz stillstehen ... Fauchery sah vor sich den jungen Bruder Studio, den die Flammen der Leidenschaft von seinem Fauteuil emporhoben. Er fühlte eine neugierige Regung, den Grafen Vandeuvres zu betrachten, der bleich mit zusammengekniffenen Lippen auf seinem Sessel lehnte; dann glitt sein Blick auf den dicken Steiner, dessen Gesicht in apoplektischer Röte glühte; dann auf Labordette, der mit dem Erstaunen eines eine vollendete Stute bewundernden Pferdehändlers sein Monokel ins Auge drückte; endlich auf Daguenet, dessen Ohren flammten und im Gefühl befriedigten Sinnenrausches sich bewegten. Dann trieb ihn ein instinktartiges Gefühl, vorwärts zu schauen, und er blieb einen Moment lang verdutzt über das, was sein Blick in der gräflichen Loge der Muffats erschaute: hinter der Gräfin, die blaß und ernst aussah, richtete sich die Gestalt des Grafen empor, dessen Mund offenstand. Sein marmornes Angesicht war rot gefleckt, und neben ihm tauchten aus dem Schatten die trüben Augen des Marquis de Chouard auf, die sich zu einem Paar phosphoreszierender Katzenaugen umgewandelt hatten.
Nana, die kühne Nana, blieb angesichts dieses verblüfften Publikums, angesichts dieser fünfzehnhundert zusammengepferchten Personen, die abgespannt, nervös erregt nur für das seinem Ende zuneigende Schauspiel Sinn hatten, Nana blieb Siegerin. Der Vorhang sank über die Apotheose: Der Chor der Gehörnten lag auf den Knien, einen Dankeshymnus zu Venus emporsendend, die in ihrer souveränen Nacktheit lächelte und zu unsagbarer Größe emporwuchs.
Die Zuschauer waren bereits aufgestanden und eilten nach den Ausgangstüren. Man rief die Autoren, und inmitten der donnernden Bravorufe erfolgten zwei Hervorrufe: »Nana! Nana!« Dieser Schrei packte die Menge wie rasend. Dann wurde es finster, obwohl der Saal noch nicht leer war, die Lampenreihe auf der Bühne verlosch, der Kronleuchter wurde heruntergeschraubt, lange Ziehdecken aus grauer Leinwand glitten über die Logen, verhüllten die Vergoldungen der Galerien. Der Saal, der eben noch so heiß, so lärmend gewesen war, versank plötzlich in einen schweren, dumpfen Schlaf, und ein Moder- und Staubgeruch stieg auf. An der Brüstung ihrer Loge lehnte die Gräfin Muffat. Sie wartete, bis die Menge sich verzogen hatte, und schaute, in ihren Pelz gehüllt, nieder in die langsam eintretende Finsternis des Saales. Fauchery und Faloise hatten, um den Ausgang beobachten zu können, eiligst den Saal verlassen. Das Vestibül entlang bildeten die Herren Spalier, während die Doppeltreppe hinab sich schrittweise zwei endlose, regelrechte geschlossene Reihen bewegten. Steiner, den Mignon mit sich zog, war einer der ersten gewesen, der die unteren Räume erreichte. Der Graf von Vandeuvres kam mit Blanche de Sivry am Arm. Einen Moment lang schienen Gaga und ihre Tochter verlegen, daß sie eines männlichen Schutzes entbehrten, aber Labordette eilte herbei und besorgte ihnen einen Wagen, dessen Tür er galant hinter ihnen schloß. Niemand aber hatte Daguenet das Theater verlassen sehen. Als der kleine Bruder Studio mit glühenden Wangen, entschlossen, vor der Schauspielertür zu warten, nach der Passage des Panoramas rannte, deren Gitter er aber verschlossen fand, streifte Satin, die auf dem Gehsteig stand, seine Beine mit ihren Röcken; aber er schob sie, von Verzweiflung gepackt, ohne weiteres beiseite und verschwand dann, von Liebe getrieben und fast in Tränen über seine Unbeholfenheit. Verschiedene Herren steckten sich behaglich Zigarren an und entfernten sich, die Melodie »Wenn Venus abends Pflaster tritt« vor sich her summend. Satin war nach dem »Café des Variétés« zurückgegangen, wo Auguste ihr gestattete, die von den Gästen übriggelassenen Zuckerstücke zu verzehren. Ein großer dicker Mann, der sehr erhitzt aus dem Lokal trat, nahm sie endlich in den Schatten des langsam einschlafenden Paris mit sich. Noch immer aber kamen Leute aus dem Theater. Faloise wartete auf Clarisse; Fauchery hatte versprochen, Lucy Stewart mit Caroline Héquet und ihrer Mutter nach Hause zu bringen. Sie kamen, nahmen fast eine ganze Ecke des Vestibüls in Beschlag und lachten laut auf, als die gräflichen Muffat jetzt mit eisiger Miene vorüberschritten. Bordenave hatte eben eine kleine Tür aufgestoßen und verlangte von Fauchery das förmliche Versprechen einer eingehenden Besprechung des Abends. »Auf zweihundert Vorstellungen dürfen Sie mit Sicherheit zählen!« redete Faloise ihn mit verbindlicher Höflichkeit an.
»Ganz Paris wird Ihr Theater beehren!«
Aber Bordenave zeigte ärgerlich mit einem heftigen Ruck seines Kinns auf das Publikum im Vestibül, auf jene Rotte Männer mit trockenen Lippen und Feueraugen, die lüstern nach dem Besitz Nanas glühten, und schrie dem jungen Mann heftig zu:
»So sagen Sie doch: mein Bordell, Sie verwünschter Dickschädel!«
2
Zweites Kapitel
Am anderen Morgen schlief Nana noch um zehn Uhr. Sie bewohnte auf dem Boulevard Haussmann die zweite Etage eines großen neuen Gebäudes, dessen Eigentümer an ledige Damen vermietete, um seine Zimmer »trocken wohnen« zu lassen. Ein reicher Handelsherr aus Moskau, der für eine Wintersaison nach Paris gekommen war, hatte sie hier einquartiert und auf ein Halbjahr den Mietzins voraus entrichtet. Die Wohnung, die viel zu geräumig für sie war, wurde niemals vollständig ausmöbliert; ein prahlerischer Luxus, vergoldete Konsolen und Sessel fanden sich neben altem Trödelkram aus Rückkaufsgeschäften, Mahagoni-Nipptischchen und Zinkkandelabern, die Florentiner Bronzen darstellten. Dies alles gab ein Bild von dem Milieu einer Dirne, die von ihrem ersten ernstlichen Verehrer zu früh sitzengelassen und nun wieder zweifelhaften Liebhabern in die Arme gefallen war. Nanas Debüt war im großen ganzen keineswegs leicht gewesen, ihr Eintritt in die Welt völlig verunglückt; in diesem Augenblick war ihre Lage besonders schwierig, denn niemand wollte ihr mehr borgen, und jeden Augenblick konnte es geschehen, daß sie vom Hauswirt an die Luft gesetzt wurde.
Nana schlief auf dem Bauch, das Kopfkissen, in das sie ihr schlaftrunkenes Gesicht vergrub, preßte sie zwischen ihre nackten Arme. Das Schlafgemach und das Ankleidezimmer waren die beiden einzigen Räume, deren Einrichtung von einem Tapezierer des Stadtviertels besorgt worden war. Ein Lichtschimmer glitt unter einem Vorhang herein, man unterschied das Palisandermobiliar, die damastnen Vorhänge und Sitze, deren Muster große, blaue Blumen auf grauem Untergrund zeigte. Aber in der dumpfen Luft dieses verschlafen daliegenden Gemachs fuhr jetzt Nana jäh aus ihrem Schlummer auf: sie schien erstaunt zu sein, den Platz neben sich leer zu finden. Sie betrachtete das zweite Kissen, das neben dem ihrigen lag und noch die laue Höhlung eines Kopfes inmitten des Spitzenbesatzes zeigte. Sie tastete mit ihrer Hand nach dem Kopfende des Bettes und drückte auf den Knopf eines dort angebrachten elektrischen Klingelzuges.
»Ist er denn schon fortgegangen?« fragte sie die in das Gemach tretende Zofe.
»Ja, Madame, Herr Paul ist schon gegangen, es sind aber kaum zehn Minuten her ... Da Madame noch müde war, wollte er Sie nicht aufwecken. Aber er hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß er morgen wiederkommen werde.«
Zoé, die Zofe, öffnete die Jalousien. Das volle Tageslicht flutete herein ... Zoé war eine lange Brünette mit einem gelblich-blassen Teint; das mit Blatternarben bedeckte Gesicht mit dem breiten Mund, der platten Nase, den dicken, aufgeworfenen Lippen und den unaufhörlich in Bewegung befindlichen kohlschwarzen Augen umrahmte oberhalb das glatt an der Stirn herabgescheitelte Haar.
»Morgen, morgen«, wiederholte Nana, die noch immer halb verschlafen war; »ist denn das der Tag, morgen?«
»Ja, Madame, Herr Paul pflegt immer am Mittwoch zu kommen.«
»Nicht doch, mir fällt ein«, rief Nana und setzte sich im Bett auf, »das hat sich ja alles geändert! Ich wollte ihm das heute morgen sagen ... Er könnte leicht mit dem ,Mulatten' zusammengeraten, das könnte eine schöne Bescherung geben!«
»Madame hat mir nichts davon gesagt, ich konnte das also nicht wissen«, gab Zoé zur Antwort. »Wenn Madame ihre Besuchstage zu ändern beliebt, so sollte sie mir Kenntnis davon geben, damit ich mich zu verhalten weiß ... Der alte Geizkragen darf also dienstags nicht mehr kommen?«
Sie pflegten unter sich, ohne den Mund dabei zu verziehen, mit den Namen »alter Geizkragen« und »Mulatte« die beiden zahlenden Männer zu titulieren, von denen der eine ein Kaufmann aus dem Faubourg Saint-Denis mit großen Sparanlagen, der andere ein Walache, ein angeblicher Graf war, dessen Geldquelle nicht nur sehr unregelmäßig floß, sondern auch höchst zweifelhaften Ursprungs war. Daguenet hatte die Morgenstunden jener Tage mit Beschlag belegt, in deren Nächten der alte Geizkragen hier zu weilen pflegte; da der Kaufmann am frühen Morgen, spätestens gegen acht Uhr, zu Hause sein mußte, paßte der junge Mann immer in der Küche sein Fortgehen ab und nahm dann bis gegen zehn Uhr dessen warmen Platz ein. Nachher ging auch er seinen Geschäften nach. Nana und Daguenet fanden diese Einrichtung höchst bequem.
»Eine schlimme Geschichte!« meinte Nana. »Ich will ihm ein paar Zeilen schreiben; und sollte er meinen Brief nicht bekommen, so läßt du ihn morgen nicht eintreten.«
Unterdessen schritt Zoé mit leichten Tritten in dem Schlafzimmer auf und ab. Sie sprach von dem großen Erfolg des gestrigen Abends. Madame habe ein so großes Talent gezeigt, so vortrefflich gesungen! Oh, von jetzt an brauche Madame sich keine Sorgen mehr zu machen!
Nana, die sich mit dem Ellbogen auf das Kissen stützte, antwortete nur durch ein Wiegen ihres Kopfes. Ihr Hemd war herabgeglitten, die aufgelösten wirren Haare rollten über ihre nackten Schultern.
»Gewiß! Gewiß!« murmelte sie, in Träumen versinkend. »Aber wie soll man es machen, um das abzuwarten? Ich werde heute wieder alle möglichen Widerwärtigkeiten zu hören kriegen ... Sag', ist der Portier heute morgen noch nicht oben gewesen?«
Nun plauderten beide sehr ernst. Madame schuldete drei Mietbeträge, der Hausherr sprach bereits von Beschlagnahme des Mobiliars. Dann kam die lange Reihe anderer Gläubiger, die alle schon mehr als ungeduldig nach Geld drängten: ein Wagenverleiher, eine Wäscherin, ein Damenschneider, ein Kohlenhändler und noch verschiedene andere, die sich tagtäglich auf einer Bank im Vorzimmer festzusetzen pflegten; der Kohlenhändler besonders war ein gräßlicher Gesell, er schrie ohne Rücksicht auf der Treppe laut nach seinem Geld. Aber der Hauptkummer Nanas war ihr kleiner Louis, ein Kind, das sie mit sechzehn Jahren gehabt hatte und das sie bei seiner Amme in einem Dorf in der Nähe von Rambouillet gelassen hatte. Dieses Weib verlangte dreihundert Franken, wenn es den kleinen Louis wieder hergeben sollte. Seit dem letztenmal, da sie das Kind besucht hatte, verzweifelte Nana in einem Anfall von Mutterliebe schier bei dem Gedanken, ob ihr Vorhaben, die Pflegerin zu bezahlen und den Kleinen zu ihrer Tante, einer Madame Lerat, nach Batignolles zu bringen, wo sie ihn zu jeder Stunde sehen könnte, je zu verwirklichen war.
Während Nana, in Sinnen versunken, auf dem Bettrand saß, machte Zoé die Andeutung, daß Madame ihre bedrängte Lage dem alten Geizkragen hätte offenbaren sollen.
»Ach Gott, ich hab' ihm ja doch alles längst gesagt«, rief Nana; »er hat mir geantwortet, daß er in der letzten Zeit zu starke Verluste gehabt hat ... Der Lump kann sich von seinen Millionen nicht trennen. Und der Mulatte liegt jetzt auch krumm, ich glaube, er hat alles im Spiel verloren ... Und was den armen Mimi anbetrifft, so könnte er selber brauchen, daß man ihm was pumpte; die letzte Baisse hat ihn ganz ausgeplündert, er kann mir jetzt nicht einmal mehr Blumen mitbringen.«
Die letzten Worte bezogen sich auf Daguenet. Nana hatte, wenn sie sich dem Nachdenken über ihre Lage überließ, vor Zoé kein Geheimnis. Die Zofe, die an derlei Vertraulichkeiten gewöhnt war, nahm sie mit respektvoller Teilnahme entgegen. Da Madame sie würdige, von ihren Angelegenheiten mit ihr zu sprechen, dürfe sie sich wohl erlauben, ihren Gedanken über die dermalige Lage Ausdruck zu geben. Vor allen Dingen sei sie Madame in aufrichtiger Liebe zugetan, sie habe ihretwegen Madame Blanche im Stich gelassen, und Madame Blanche setze, weiß Gott, Hände und Beine in Bewegung, um sie wiederzubekommen! An Stellen fehle es ja nicht, sie habe ja Bekanntschaften genug, aber sie sei, selbst in Zeiten der größten Klemme, bei Madame gebliebert, weil sie eben fest an die Zukunft von Madame glaube. Und zum Schluß ließ sie ihre Ratschläge von Stapel. Solange man jung sei, begehe man eben noch Dummheiten. Jetzt müsse man aber die Augen offenhalten, denn die Männer dächten an nichts anderes als an Scherz und Vergnügen. Oh, da solle doch kommen, was da wolle! Madame brauche ja nur ein Wort zu sagen, um ihren Gläubigern den Mund zu stopfen und um das Geld zu bekommen, das sie benötige.
»Mit all deinen Reden aber bekomme ich keine dreihundert Franken«, versetzte Nana und vergrub die Finger in die wirr herabhängenden Locken. »Und dreihundert Franken muß ich haben, heute, auf der Stelle ... Es ist scheußlich, daß man keinen Menschen kennt, der einem dreihundert Franken gibt.«
Sie suchte unter ihrer Bekanntschaft; sie dachte einen Augenblick an Madame Lerat, die sie gerade am heutigen Morgen erwartete, um sie nach Rambouillet zu schicken. Ihre verdrießliche Stimmung, die Sehnsucht nach ihrem Kinde verdarb ihr den Triumph des gestrigen Abends. Sich sagen zu müssen, daß es unter all jenen Männern, die ihr Beifall geklatscht hatten, keinen einzigen gebe, der ihr fünfzehn Louisdor borgen würde! Und dann könne man ja Geld noch nicht einmal ohne alles weitere annehmen! Mein Gott! Wie unglücklich sie doch war! Und immer und immer wieder kamen ihre Gedanken zurück auf ihren kleinen Herzbuben, der so schöne blaue Engelsaugen hatte, der so possierlich »Mama!« stammelte, daß sie vor Freude schier hätte sterben mögen.
Im selben Augenblick aber ertönte die elektrische Glocke. Zoé kam zurück und meldete mit einer vertraulichen Gebärde:
»Eine Frau ist draußen.«
Sie hatte das Weib zwanzigmal schon gesehen, aber sie tat immer, als kenne sie sie nicht und auch nicht die Beziehungen, in denen sie zu den Pariser Damen vom Schlage Nanas stand, die fortwährend in der Geldklemme sitzen.
»Sie hat mir ihren Namen genannt ... Madame Tricon!«
»Die Tricon!« schrie Nana. »Ach, wahrhaftig, die hab' ich ja vergessen ... Laß sie eintreten!«
Zoé führte eine alte Dame von hoher Gestalt herein, die lange Locken trug und die ganze Haltung einer Frau von Adel hatte, die Besuche bei ihren Anwälten macht. Dann verschwand Zoé geräuschlos, mit jener schlangenhaften, geschmeidigen Behendigkeit, mit der sie stets aus dem Zimmer glitt, sobald ein Herr eintrat. Übrigens hätte sie ruhig bleiben können, denn die Tricon setzte sich nicht einmal; nur wenige kurze Worte wurden zwischen den Frauen gewechselt.
»Ich habe heute jemanden für Sie ... Haben Sie Lust?«
»Ja ... wieviel wirft's ab?«
»Zwanzig Louisdor ... Abgemacht?«
»Abgemacht!«
Dann sprach die Tricon sogleich vom Wetter; es sei recht hübsch trocken heute, recht angenehm zum Gehen. Sie müsse noch vier bis fünf Personen aufsuchen und könne darum nicht lange bleiben; als sie sich verabschiedete, warf sie flugs einen Blick in ein kleines Notizbuch. Sobald Nana allein war, atmete sie erleichtert auf. Ein leichtes Beben glitt über ihre Schultern, und fröstelnd kroch sie wieder in das warme Bett und räkelte sich behaglich mit der Faulheit einer verwöhnten Katze. Allmählich schlössen sich ihre Augen, sie lächelte bei dem Gedanken, daß sie morgen ihren kleinen Louis recht niedlich herausputzen wollte, während in dem Schlummer, der sie jetzt umfing, ihr fieberhaftes Träumen der vergangenen Nacht, ein langanhaltendes Rollen von Bravorufen wiederkehrte und sie in Schlaf lullte.
Um elf Uhr, als Zoé Madame Lerat ins Zimmer hereinführte, schlief Nana noch. Aber das Geräusch, das die Eintretenden machten, weckte sie auf:
»Ach, du bist's ... Du sollst heute nach Rambouillet fahren!«
»Ich komme ja deshalb her«, erwiderte die Tante. »Es geht gegen Mittag ein Zug; ich habe Zeit, ihn zu benutzen.«
»Nein, ich werde erst zu einer späteren Stunde Geld haben«, versetzte Nana, die sich jetzt im Bett aufrichtete und den Hals weit vorreckte. »Du kannst mit mir frühstücken, wir wollen dann sehen.«
Zoé trug einen Frisiermantel herein.
»Madame«, sprach sie leise, »der Friseur ist da.«
Aber Nana hatte keine Lust, in das Toilettenkabinett zu gehen. Sie rief deshalb: »Kommen Sie nur hier herein, Francis!« Ein sauber gekleideter Herr stieß die Tür auf. Er grüßte. Nana war eben aus dem Bett gekrochen und stand barfüßig da. Sie hatte es nicht sonderlich eilig und streckte die Hände vor, damit Zoé die Ösen des Mantels zuheften könne. Und Francis, der sich hier ganz behaglich zu fühlen schien, wartete ruhig, ohne sich umzudrehen. Als sich Nana gesetzt und er den ersten Strich mit dem Kamm durch ihr Haar geführt hatte, begann er zu sprechen.
»Madame hat wohl die Zeitungen noch nicht gelesen? Der ,Figaro' bringt einen ausgezeichneten Artikel.«
Er hatte die betreffende Nummer der Zeitung gekauft. Madame Lerat setzte sich die Brille auf und las, am Fenster stehend, den Artikel laut vor. Ihre Gendarmenfigur reckte sich in die Höhe, die Flügel ihrer Nase weiteten sich, wenn sie ein galantes Adjektivum aus ihrem Munde schnellte. Es war eine Rezension aus Faucherys Feder, die, nach Schluß des Theaters geschrieben, in zwei Spalten glühenden Inhalts die Künstlerin auf geistvolle Weise verhöhnte, das Weib aber in unverblümter Bewunderung verherrlichte.
»Ausgezeichnet!« meinte Francis.
Nana ärgerte sich nicht wenig, daß man sich über ihre Stimme lustig machte. Dieser Fauchery war wirklich ein toller Wicht, aber sie wollte ihm seine schlaue Manier schon austreiben! Madame Lerat erklärte, nachdem sie den Artikel nochmals gelesen hatte, daß die Männer samt und sonders den Teufel in den Waden hätten, und verzichtete, zufrieden über diese Anspielung, auf weitere Erklärungen. Francis hatte inzwischen die Frisur von Nanas Haarputz vollendet und empfahl sich mit den Worten: