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In dem Ankleidezimmer, wo Zoé ihrer Herrin eifrig in ein Hauskleid half, rächte sich Nana für die Widerwärtigkeiten, die man ihr bereitete, dadurch, daß sie die Männerwelt mit den verschiedensten Schimpfworten belegte. Die groben Ausdrücke bekümmerten die Zofe; sie wagte sogar die Bitte an ihre Herrin, daß sie sich doch beruhigen möge.
»Ach was, Quark!« gab Nana zur Antwort. »Da braucht's kein Blatt vor den Mund! Die Patrone wollen es nicht besser!« Bei diesen Worten nahm sie die stolze Haltung einer Fürstin an. Zoé hatte sie in dem Augenblick, als sie sich nach dem Saal begeben wollte, zurückgehalten und führte jetzt den Marquis de Chouard und den Grafen Muffat in das Ankleidezimmer. Das sei weit besser, meinte sie.
»Meine Herren«, empfing hier das junge Weib die beiden mit ausgesuchter Höflichkeit, »ich bedaure unendlich, daß ich Sie habe warten lassen.«
Die Herren verbeugten sich und nahmen Platz. Ein gestickter Tüllvorhang ließ ein mattes Halblicht in das Kabinett treten. Es war das eleganteste Zimmer der Wohnung mit hellen Vorhängen, einer großen Marmortoilette, einem mit buntem Holz eingelegten drehbaren Stehspiegel, einer Chaiselongue und blauatlassenen Fauteuils. Auf der Ankleidetoilette standen Buketts, Rosen, Holunder, Hyazinthen, die einen durchdringenden Duft verbreiteten, während die schale, muffige Luft, die aus Waschbecken und Eimer aufstieg, zuweilen von einem schärferen Geruch durchzogen wurde, der von ein paar Körnchen trockenen, auf dem Boden einer Schale kleingestoßenen Patschulis herrührte. Nana, die zusammengekauert dasaß und ihren lose zugeknöpften Hausrock enger um die Taille zog, sah ganz so aus, als ob sie bei der Toilette überrascht worden wäre.
»Madame«, begann der Graf Muffat, »wir bitten Sie um Entschuldigung, daß wir darauf bestanden haben, von Ihnen empfangen zu werden ... Wir kommen mit einem Ansuchen ... Der Herr Marquis und ich sind Mitglieder des Wohltätigkeitsausschusses des Arrondissements.«
Der Marquis de Chouard beeilte sich, mit einer galanten Gebärde hinzuzufügen:
»Da wir in Erfahrung gebracht haben, daß eine große Künstlerin in diesem Hause wohnt, haben wir uns erlaubt, ihr unsere Armen ganz besonders ans Herz zu legen ... Talent ist ja ohne Mitgefühl nicht denkbar.«
Nana spielte die Bescheidene. Sie antwortete mit leichtem Kopfnicken, während sie rasch dabei überlegte. Der Alte mußte es sein, der den anderen hergeführt hatte; der Ausdruck seiner Augen war zu durchtrieben. Indessen durfte man auch dem andern nicht trauen, dessen Schläfen sich eigentümlich dehnten.
»Ganz gewiß, meine Herren«, versetzte sie voll Anmut, »Sie haben recht getan, sich heraufzubemühen.«
Aber die elektrische Glocke ließ sich vernehmen. Noch ein Besuch mehr, und diese abscheuliche Zoé, die immerfort öffnete! Sie fuhr fort: »Man fühlt sich ja überglücklich, geben zu können.«
Im Grunde ihres Herzens fühlte sie sich auch wirklich geschmeichelt.
»Ach, Madame«, erwiderte der Marquis, »wenn Sie all das Elend kennen würden! Unser Bezirk zählt mehr als dreitausend Arme und ist noch einer der reichsten. Sie können sich einen solchen Jammer gar nicht vorstellen: Kinder, die kein Brot haben, kranke, jeder Hilfe beraubte, halb erfrierende Frauen ...«
»Die armen Menschen!« rief Nana gerührt aus.
Ihr Mitleid war so lebhaft, daß Tränen ihre schönen Augen füllten. Mit einer leichten Bewegung hatte sie, aus ihrer wohlüberlegten Rolle fallend, sich vorgebeugt: das offenstehende Gewand ließ ihre Brust sehen, während ihre Knie unter dem dünnen Stoff die Rundung des Beines ahnen ließen. Ein schwacher Blutstrom schoß in die erdfahlen Wangen des Marquis; der Graf Muffat, der gerade hatte sprechen wollen, senkte die Augen.
»Man möchte reich sein, wenn solche Anlässe sich bieten«, fügte Nana hinzu. »Zuletzt tut eben jeder, soviel er kann. Glauben Sie, meine Herren, wenn ich gewußt hätte ...«
Sie war eben im Zuge, in ihrer gerührten Stimmung eine arge Dummheit zu sagen. Aber sie vollendete den Satz nicht. Einen Moment lang blieb sie verlegen sitzen, sie wußte nicht mehr, wohin sie die fünfzig Franken gesteckt hatte, als sie ihr Kleid auszog. Aber sie besann sich, sie mußten in der Ecke der Frisiertoilette unter einer umgestülpten Pomadenbüchse sein. Als sie sich erhob, ertönte die elektrische Glocke wieder mit einem langhingezogenen Schrillen. Gut, wieder einer! Das schien ja gar kein Ende zu nehmen. Der Graf und der Marquis waren zu gleicher Zeit aufgestanden, und die Ohren des Marquis hatten, nach der Tür hinspitzend, leicht gezittert; ohne Zweifel kannte er diese Art des Läutens. Muffat schaute ihn an; dann wandten sie die Augen ab. Sie fühlten sich geniert und nahmen wieder ihre reservierte Haltung an; der eine, vierschrötig und bieder, strich über das stark gescheitelte Haar, der andere reckte seine mageren Schultern hoch, auf die ein Kranz spärlicher weißer Haare niederfiel.
»Meiner Treu!« rief Nana, brachte die zehn großen Silberstücke herbei und begann zu lachen. »Ich darf Sie doch damit beladen, meine Herren? Das hier ist für die Armen!«
Das kleine, liebenswürdige Grübchen im Kinn lächelte in vollendeter Anmut. Sie hatte jetzt wieder ihr gutmütiges Gesichtchen, jede Ziererei war aus ihrem Wesen geschwunden, und mit naiver Gebärde bot sie den beiden Herren den kleinen Stoß von Silberstücken, den sie in ihrer offenen Hand hielt, als wenn sie hätte sagen wollen: »Na, bitt' schön, wer will denn nun zugreifen?« Der Graf war der behendere, er nahm die fünfzig Franken, aber ein Stück blieb liegen, und er mußte es von der lauen, weichen Haut des jungen Frauenzimmers fortnehmen, was ihm ein heftiges Beben verursachte. Nana aber lachte in einem fort.
»So, das ist alles, was ich kann, meine Herren«, meinte sie, »ein andermal wird's hoffentlich mehr sein.«
Sie hatten keinen Vorwand mehr zu längerem Bleiben, verneigten sich und schritten nach der Tür. Aber in dem Augenblick, da sie gehen wollten, ertönte abermals der Klang der Glocke. Der Marquis konnte ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken, während der Graf noch ernster wurde. Nana hielt sie ein paar Sekunden zurück, um Zoé zu ermöglichen, noch ein Plätzchen aufzufinden. Sie hatte es nicht gern, wenn sich die Herrschaften bei ihr begegneten. Doch diesmal mußte ja alles förmlich vollgestopft sein. Sie fühlte sich darum wirklich erleichtert, als sie den Salon leer sah; Zoé hatte sie wohl in die Wandschränke gesteckt?
»Auf Wiedersehen, meine Herren«, sagte sie, während sie auf der Schwelle des Salons stehenblieb.
Sie bezauberte sie mit ihrem Lächeln und ihrem klaren Blick.
Der Graf Muffat verneigte sich trotz seiner Weltgewandtheit nicht ohne Verwirrung; er fühlte das Bedürfnis nach frischer Luft. Er nahm ein Gefühl der Beklommenheit mit aus diesem Ankleidezimmer, einen Blumen- und Frauengeruch, der ihn erstickte. Und hinter ihm wagte der Marquis de Chouard, der sicher war, nicht gesehen zu werden, Nana mit den Augen zuzuzwinkern, während sein Angesicht mit einem Mal die Fassung verlor und die Zunge zwischen den Lippen sichtbar wurde.
Als Nana in das Kabinett zurücktrat, wo Zoé mit einem ganzen Stoß von Briefen und Visitenkarten ihrer harrte, rief sie, noch stärker lachend, der Zofe entgegen:
»Das waren die richtigen Gauner ... Nun bin ich meine fünfzig Franken doch wieder los!«
Sie hatte sich nicht im geringsten darüber geärgert; es schien ihr im Gegenteil spaßig, daß ihr die Männer Geld abgenommen hatten. Immerhin aber waren es Halunken, denn sie hatte jetzt keinen Sou mehr. Der Anblick der Karten und Briefe brachte ihr die schlechte Laune wieder. Mit ihnen mochte es noch angehen, sie kamen von Herren, die jetzt Erklärungen machten, nachdem sie ihr gestern Beifall geklatscht hatten. Aber Besucher, oh, die konnten hurtig wieder den Weg die Treppe hinab suchen!
Zoé hatte sie überall untergebracht, und sie erlaubte sich die Bemerkung, daß die Wohnung überaus praktisch sei, da von jedem Raum aus eine Tür nach dem Korridor führe. Es sei nicht wie bei Madame Blanche, wo man immer erst durch den Salon müsse. Madame Blanche habe übrigens auch immer viel Ärger gehabt.
»Geh, schick' die ganze Sippschaft einen nach dem andern weg«, meinte Nana wieder, die den einmal gefaßten Gedanken hartnäckig verfolgte. »Fang' mit dem Mulatten an!«
»Oh, der ist schon seit geraumer Zeit gegangen, Madame«, erwiderte Zoé mit einem feinen Lächeln. »Der wollte weiter nichts als Ihnen sagen, daß er heute Abend verhindert sei zu kommen.«
Nun war die Freude groß. Nana klatschte in die Hände. Er kam nicht, welch ein Glück! Sie war also heute einmal frei! Und sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ob man sie von der abscheulichsten Leibesstrafe befreit hätte. Ihr erster Gedanke gehörte Daguenet. Der arme Wicht! Daß sie ihm auch gerade erst hatte schreiben müssen, bis zum Donnerstag zu warten! Halt, die Maloir sollte ihm flugs ein zweites Briefchen schreiben! Aber Zoé sagte, daß die Alte wie gewöhnlich verschwunden sei, ohne daß man es bemerkt habe.
Dann überlegte Nana wieder, obwohl sie eben noch davon gesprochen hatte, jemanden zu ihm zu schicken. Sie war heute wirklich recht müde. Und wie gut würde ihr das tun, eine ganze Nacht einmal ruhig zu schlafen! Der Gedanke an diesen Genuß erhielt endlich das Obergewicht: einmal durfte sie sich das schon gut und gern gestatten.
»Ich werde mich zu Bett legen, wenn ich aus dem Theater komme«, sagte sie und freute sich schon im voraus, »und vor Mittag, Zoé, sollst du mich nicht wecken!«
Dann rief sie mit erhobener Stimme:
»Hopp, hopp, nun treibe mir die anderen auf die Straße!«
Zoé machte keine Anstalten.
»Den Herrn Steiner auch?« fragte sie nach einer Pause mit scharfer Betonung.
»Ganz gewiß», antwortete Nana, »den zuerst vor allen anderen!«
Das Mädchen wartete noch immer, um Madame Zeit zur Überlegung zu lassen. Setze denn Madame gar keinen Stolz darein, Rose Mignon, ihrer Rivalin, einen so reichen Herrn wegzukapern, der in allen Theatern bekannt sei!
»Mach geschwind, meine Liebe, und sag ihm, daß er mir lästig ist«, rief Nana, die sehr wohl wußte, was sie wollte; aber plötzlich besann sie sich, morgen könne sie doch am Ende Lust haben, ihn zu sehen, und lachend, mit den Augen zwinkernd, rief sie mit einer ungezogenen Geste:
«Übrigens, wenn ich ihn wirklich festhalten will, so ist es das beste Mittel, ich werfe ihn zur Treppe hinunter!«
Das schien Zoé einzuleuchten. Sie betrachtete Madame, von einer plötzlichen Bewunderung ergriffen, dann eilte sie, ohne sich noch länger zu besinnen, aus dem Zimmer, um dem Bankier die Tür zu weisen.
Nana wartete ein paar Minuten geduldig, um Zoé Zeit zu lassen »auszufegen«, wie sie sich ausdrückte. Was sollte man von einem solchen Überfall denken! Sie steckte den Kopf in den Salon; er war leer. Das Eßzimmer war gleichfalls leer. Aber als sie jetzt, beruhigt, niemanden mehr vorzufinden, ihre Durchsuchung fortsetzte, stieß sie plötzlich, als sie die Tür zu einem Kabinett öffnete, auf einen kleinen, jungen Menschen, der sich auf einen Koffer gesetzt hatte und ruhig, in sehr artiger Haltung, ein ungeheures Bukett auf den Knien, der kommenden Dinge harrte.
»Ach du lieber Gott!« rief Nana aus. »Da ist ja doch noch einer drin!«
Der kleine junge Mann war, als er sie erblickte, rot wie eine Klatschrose aufgesprungen. Er wußte nicht, was er mit seinem Bukett anfangen sollte, das er vor Aufregung von einer Hand in die andere schob. Seine Jugend, seine Verlegenheit, der drollige Anblick, den er mit seinen Blumen gewährte, brachten Nana in gute Laune, so daß sie in helles Gelächter ausbrach. Das war zu stark! Wurden denn schon die Kinder nach ihr verrückt? Kamen denn die Männer jetzt schon in kurzen Höschen zu ihr? Sie zeigte sich vertraulich, mütterlich, schlug sich auf die Schenkel und fragte aus Ulk:
»Willst wohl, daß man dir die Nase putzt, Bübchen?«
»Ach ja«, antwortete der Kleine mit leiser, bittender Stimme. Diese Antwort belustigte Nana noch mehr. Er war siebzehn Jahre alt und nannte sich Georges Hugon. Gestern war er im Varietétheater gewesen und kam nun, ihr seine Aufwartung zu machen.
»Sind denn die Blumen da für mich?«
»Ja.«
»Na, so gib sie doch her, du Pinsel.«
Aber als sie nach dem Bukett griff, packte er mit dem Ungestüm der Jugend ihre Hände. Sie mußte ihm erst einen Klaps versetzen, damit er sie freigab. Ein grüner Junge, der schon solche Gedanken hatte! Während sie ihn gehörig auszankte, war sie rot geworden und mußte lachen. Sie schickte ihn weg, erlaubte ihm aber wiederzukommen. Er taumelte vor Glück und vermochte kaum den Ausgang zu finden.
Nana trat in ihr Ankleidezimmer zurück, wo Francis sich beinahe gleichzeitig einfand, um ihre Frisur für den Abend zu vollenden. Sie kleidete sich nur abends an. Stumm und träumerisch saß sie vor dem Spiegel und neigte den Kopf unter den geschickten Händen des Coiffeurs, als Zoé in das Kabinett trat:
»Madame, es ist noch einer draußen, der sich nicht abweisen lassen will.«
»Na, so laß ihn doch stehen!« gab sie ruhig zur Antwort.
»Auf diese Weise kommen die Leute aber immer wieder!«
»Bah! Sag ihnen, sie sollen warten. Wenn sie der Hunger treibt, werden sie schon gehen.«
Plötzlich hatte sie einen Einfalt, und vergnügt folgte sie der neuen Eingebung: sie entglitt Francis' Händen, eilte zu den Türen und schob die Riegel vor; nun mochten sie sich nebeneinander aufstapeln, die Mauer zu durchbrechen würde ihnen schwerlich gelingen; Zoé konnte ja durch die kleine Tür hereinkommen, die nach der Küche führte. Unterdessen läutete die Glocke in einem fort. Alle fünf Minuten ließ sich ihr Klingen hell und deutlich vernehmen, mit der Regelmäßigkeit einer in gutem Stande befindlichen Maschine. Und Nana zählte die Schläge, um sich Zerstreuung zu verschaffen. Aber plötzlich fiel ihr etwas anderes ein.
»Wo sind denn meine gebrannten Mandeln, Francis?« sagte sie. Auch Francis hatte nicht an die Mandeln gedacht. Er zog jetzt eine Tüte aus seiner Rocktasche mit der verbindlichen Gebärde eines Weltmannes, der seiner Freundin ein Geschenk überreicht; aber auf jeder seiner Monatsrechnungen fand sich immer ein stattlicher Posten gebrannter Mandeln verzeichnet. Nana schob die Tüte zwischen ihre Knie und begann, indem sie den Kopf unter dem leichten Händedruck des Friseurs bewegte, von den Mandeln zu knabbern.
»Sapperlot!« flüsterte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens. »Ist das eine Bande!«
Dreimal hatte plötzlich die Glocke hintereinander geschellt. Das Läuten wiederholte sich in rascher Folge; es waren sowohl bescheidene Töne, die mit dem Beben eines ersten Geständnisses gestammelt wurden, als kühne, die unter dem Druck eines unwirschen Fingers erschallten, als auch eilige, die mit jähem Schrillen die Luft durchschnitten. Ein förmliches Glockenspiel, wie sich Zoé ausdrückte, ein Glockenspiel, welches das gesamte Stadtviertel alarmieren müsse, da ja ein ganzer Schwarm Männer reihenweise auf den Elfenbeinknopf drückte. Dieser Schlingel von Bordenave hatte gewiß an zu viele Leute Nanas Adresse bekanntgegeben; das ganze Auditorium des gestrigen Abends begehrte ja Zutritt!
»Sagen Sie mal, Francis«, wandte sich jetzt Nana an den Friseur, »können Sie mir fünf Louisdor borgen?«
Er trat einen Schritt zurück, blickte prüfend auf die Frisur und erwiderte dann gelassen:
»Fünf Louisdor? Je nachdem.«
»Ah, Francis«, meinte Nana wieder, »wenn Sie eine Sicherheit wünschen ...«
Und ohne den Satz zu vollenden, deutete sie mit einer weiten Handbewegung auf die zunächst stehenden Stücke. Francis lieh die fünf Louisdor. Zoé trat, wenn sie ein paar Augenblicke Zeit hatte, in das Kabinett, um die Toilette ihrer Herrin vorzubereiten. Bald nachher mußte sie sie ankleiden, während der Friseur wartete, um an den Haarputz noch die letzte Hand zu legen. Aber die elektrische Glocke störte die Zofe in einem fort, so daß sie Nana mit halb zugeschnürter Taille und halb barfüßig sitzen lassen mußte. Sie verlor trotz ihrer reichen Erfahrungen den Kopf. Nachdem sie die Männer erst einzeln, jedes Winkelchen der Wohnung benutzend, überallhin postiert hatte, war sie nun genötigt gewesen, deren drei bis vier zusammenzuschachteln, so sehr dies auch allen Bräuchen und Wünschen ihrer Herrin widersprach. Ach was! Desto besser, wenn sie einander auffraßen, da gab's doch Platz! Und Nana, die hinter den zugeschobenen Riegeln wohlgeborgen in ihrem Kabinettchen saß, machte sich lustig über sie, deren Atem sie bis in ihren Winkel hinaus hörte; sie müßten, wie sie meinte, einen recht dicken Schädel haben, und die Zunge müßte ihnen ja schon lange aus dem Halse hängen. Ihr Erfolg vom gestrigen Abend nahm seinen Fortgang, die Männermeute war ihrer Spur gefolgt.
»Wenn sie wenigstens nichts zerbrechen«, meinte Nana.
Sie fing an, unruhig zu werden. Aber in diesem Augenblick führte Zoé Herrn Labordette in das Kabinett, und Nana stieß einen Ruf der Erleichterung aus. Er wollte mit ihr von einer Rechnung sprechen, die er für sie beim Friedensrichter beglichen hatte. Sie hörte gar nicht auf seine Worte, sondern rief ihm zu:
»Labordette, ich nehme Sie mit ... Wir speisen zusammen, und dann begleiten Sie mich nach dem Theater. Ich brauche erst um halb zehn Uhr aufzutreten.«
Der wackere Labordette, wie gelegen er gerade kam! Niemals begehrte er etwas für seine Dienste. Er war lediglich der Freund der Damen, deren kleine Angelegenheiten zu ordnen er keine Mühe scheute. So hatte er eben noch im Vorbeigehen die Gläubiger, die im Vorzimmer weilten, um eine Wartefrist gebeten; die braven Leute wollten ja übrigens gar nicht bezahlt sein: wenn sie hier gewartet hätten, so sei es ja nur geschehen, um der gnädigen Frau ihr Kompliment zu machen und ihre Dienste von neuem anzutragen: der ungeheure Erfolg, den die gnädige Frau am gestrigen Abend gehabt, habe ja ganz Paris auf die Beine gebracht.
»Kommen Sie, Labordette, wir wollen uns drücken!« wandte sich Nana, die jetzt angekleidet war, an ihren Besucher.
»Madame, ich mache ganz entschieden nicht auf ... Es stehen noch eine ganze Reihe Männer auf der Treppe!«
Das überstieg doch alle Begriffe! Sogar Francis mußte, gegen sein englisches Phlegma, das er affektierte, lachen, während er sein Frisierzeug in Ordnung brachte. Nana hatte Labordettes Arm ergriffen und drängte diesen nach der Küche. Glücklich, endlich von den Männerscharen befreit und sich selbst überlassen zu sein, eilte sie die Stufen der Dienertreppe hinab.
»Sie begleiten mich doch wieder zurück?« fragte sie ihren Führer, als sie den Hausflur betraten. »Ich werde dann wenigstens unbehelligt bleiben ... Denken Sie sich, Labordette, ich habe mir vorgenommen, heute einmal eine ganze Nacht allein zu schlafen ... Was einem doch so manchmal in den Sinn kommt, nicht wahr?«
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Drittes Kapitel
Gräfin Sabine, wie man sich gewöhnt hatte, Frau Muffat de Beuville zu nennen, um sie von ihrer Frau Schwiegermutter zu unterscheiden, die im vergangenen Jahr gestorben war, hatte jeden Dienstag in ihrem Haus in der Rue Miromesnil, an der Ecke der Rue de Penthièvre, Empfangsabend. Es war ein weites viereckiges Gebäude, das die gräfliche Familie der Muffat seit länger als einem Jahrhundert bewohnte. Auf die Straße hinaus starrte die schwarze und düstere Fassade in klösterlicher Melancholie mit ungeheuren Jalousien, die beinahe immer geschlossen blieben. Hinter dem Hause standen in einem feuchten Gartenwinkel ein paar Bäume, die keine Sonne erhielten und so lang aufgeschossen waren, daß man ihre Zweige über den Schiefern des Daches erblickte.
An dem heutigen Dienstag waren gegen zehn Uhr kaum ein Dutzend Personen in dem Saal. Da man nur Freunde des Hauses erwartete, öffnete die Gräfin weder den Salon noch das Eßzimmer. Man war auf diese Weise mehr unter sich und plauderte neben dem Kamin. Der Salon war übrigens sehr groß und sehr hoch; vier Fenster mündeten auf den Garten, dessen durch den regnerischen Apriltag erhöhte Feuchtigkeit man trotz der im Kamin brennenden Buchenscheite im Zimmer gar wohl verspürte. Nie drang die Sonne in dieses Gemach; am Tage erhellte ein grünliches Licht matt das Zimmer, und abends, wenn die Lampen und der Kronleuchter angezündet waren, hatte es mit seinem massiven Mahagonimobiliar, seinen gelbseidenen Vorhängen und großgemusterten Polstern nur einen ernsten, gemessenen Charakter. Man trat in den Bereich einer frostigen Würde, alter, ergrauter Bräuche und Sitten, in ein verschwundenes, vom Geruch frommer Andacht angewehtes Zeitalter.
Gegenüber dem alten viereckigen Lehnstuhl aus hartem Holz und rauhem Stoff, in dem die Mutter des Grafen gestorben war, ruhte die Gräfin Sabine in einem tiefen Sessel, dessen rotseidene Polsterung weich und elastisch wie Eiderdaunen war. Es war das einzige neumodische Möbel, das wie ein Phantasiestück inmitten dieser starren Strenge erschien und sehr von allem anderen abstach.
»Sind Sie unwohl, meine Liebe?« fragte Madame Chantereau, die Frau eines Hüttenwerksbesitzers, da sie die Gräfin leicht zittern und erblassen sah.
»O nein, nicht im geringsten«, gab diese lächelnd zur Antwort.
»Es ist mir nur ein wenig zu kalt ... Der Salon ist zu groß, um gut durchgeheizt werden zu können.«
Sie schaute mit ihrem finsteren Blick die hohen Wände bis zum Plafond hinauf. Estelle, ihre Tochter, ein junges Ding von sechzehn Jahren, im Backfischalter, von magerer und unscheinbarer Figur, erhob sich von dem Taburett, auf dem sie gesessen hatte, und schob schweigend eines der Scheite ins Feuer zurück, das zur Seite gerollt war. Aber Madame de Chezelles, eine Freundin Sabines, rief:
»Ach, was gäbe ich darum, wenn ich einen solchen Saal haben könnte wie du! Du kannst doch wenigstens Besuche empfangen ... Heutzutage bekommt man nichts anderes mehr als Schachteln von Sälen gebaut ... Oh, wenn ich an deiner Stelle wäre!«
Sie setzte mit lebhaften Gestikulationen auseinander, daß sie Vorhänge, Polster, alles verändern würde, dann würde sie Bälle geben, zu denen ganz Paris herbeiströmen sollte. Ihr Mann, der hinter ihr stand, eine Magistratsperson, hörte mit ernster Miene zu. Man erzählte sich, daß sie ihn hintergehe, ohne es zu verheimlichen; aber man verzieh ihr, man empfing sie trotzdem, weil sie, wie man sagte, so verdreht war.
Der Bankier Steiner, der seit kurzer Zeit durch Léonide de Chezelles, die ganz Paris kannte, bei der Familie Muffat eingeführt war, plauderte auf einem zwischen zwei Fenstern stehenden Kanapee; er fragte einen Abgeordneten aus, dem er geschickt Neuigkeiten zu entlocken suchte, die auf eine von ihm vermutete Bewegung an der Börse Bezug hatten, während der Graf Muffat, der vor ihnen stand, schweigend, mit noch strengerem Gesicht, als er es gewöhnlich zeigte, dem Gespräch zuhörte. Vier bis fünf junge Leute bildeten eine zweite Gruppe neben der Tür, wo sie den Grafen Xavier von Vandeuvres umstanden, der ihnen mit halblauter Stimme eine zweifellos sehr schlüpfrige Geschichte erzählte, denn sie erstickten fast vor Lachen. Mitten in dem Gemach, ganz allein für sich, schwerfällig in einen Fauteuil gestreckt, schlief ein dicker, robuster Herr, der im Ministerium des Innern als Bürochef angestellt war, mit offenen Augen. Aber einer der jungen Leute mochte Vandeuvres' Geschichte nicht recht glauben, vorauf dieser laut ausrief:
»Sie sind zuviel Skeptiker, Foucarmont; Sie verderben ja allen den Spaß!«
Lachend trat er zu den Damen zurück. Der letzte Sproß eines angesehenen Geschlechtes, weibisch, aber geistreich, brachte er sein Vermögen durch allerlei noble Passionen, denen er leidenschaftlich nachhing, durch. Sein Pferdestall, einer der berühmtesten von ganz Paris, kostete ein rasendes Geld; seine Verluste im »Cercle Imperial« erreichten in jedem Monat eine beängstigend hohe Summe; seine Maitressen verschlangen jahraus, jahrein, mochten die Erträgnisse seiner Besitzungen gut oder schlecht sein, mindestens eines seiner Pachtgüter und ein paar Morgen Land oder Feld dazu und rissen alljährlich einen Fetzen mehr von seinen ungeheuren Besitzungen in der Pikardie ab.
»Ich rate Ihnen, nicht die anderen für Skeptiker anzusehen, Sie, der Sie an nichts glauben«, sagte Léonide, indem sie ihm ein Plätzchen an ihrer Seite einräumte. »Kein anderer verdirbt Ihnen Ihr Vergnügen, nur Sie selbst tun es.«
»Ganz recht«, antwortete er. »Ich will indes den anderen die Möglichkeit geben, aus meiner Erfahrung Nutzen zu ziehen.« Man nötigte ihn jedoch zu schweigen, denn Herr Venot nehme Anstoß an seinen Worten. Die Damen rückten zur Seite, und plötzlich erblickte man, tief in einen Sessel gelehnt, einen kleinen Herrn von ungefähr sechzig Jahren mit feinem Lächeln, bei dem er seine häßlichen Zähne zeigte; er hatte sich ungeniert ausgestreckt, als ob er zu Hause wäre, hörte auf jedermanns Worte, sprach aber selbst nie eine Silbe. Mit einer Handbewegung gab er zu verstehen, daß ihm die letzten Worte der Unterhaltung mit den Damen Ärgernis bereitet hätten. Vandeuvres hatte seine vornehme Haltung wieder angenommen und setzte in gewichtigem Tone hinzu: