- -
- 100%
- +
Im Foyer war er der Pflegerin Maya begegnet. Er musste reden, um nicht zu heulen. Er erinnerte sie an seine Einladung zu Kaffee und Kuchen, doch so spät war kein Café in der Stadt mehr geöffnet. Er schleppte sie in eine Bar, kippte auf den doppelten Espresso zwei, drei Bourbon, vielleicht auch mehr und viel zu schnell, schwatzte unablässig, breitete sein ganzes verrücktes Leben vor ihr aus. Sie hörte ihm zu, mit traurigen, schwarz umrandeten Augen, im Taxi hielten sie Händchen, im Lift der erste Kuss. Liebe in Zeitraffer, er erinnerte sich nur noch an Bruchstücke. Hatten sie Kondome benutzt? Hatten sie überhaupt Sex gehabt, oder war er gleich eingeschlafen, behütet von diesem Bären, der ihn an wilde Tage im Westen erinnerte. Mit Andrea, dachte er, möchte ich einmal im Yosemite klettern, die Salathé am El Capitan fehlt mir noch, ein Klassiker. Würde ich vielleicht noch schaffen. Jetzt erinnerte er sich, dass er vom Yosemite geträumt hatte, er hängt in einer Wand, «Sea of Dreams», eine schwere Technoroute, auf der Hängematte neben ihm räkelt sich das Schneewittchen, ballt zarte Finger zu einem Fäustchen, hebt den Daumen, lächelt ihm zu. Ein abgründiges Gefühl der Verlassenheit hatte ihn ergriffen im Traum. Dann war er erwacht.
Er stemmte sich im Bett hoch, hockte auf den Rand, sah im Spiegel den Bauchansatz unter der behaarten Brust, die knochigen Schultern, er fasste sein Glied an, das sich warm und schlaff anfühlte. Bienensex, dachte er, honigsüsses Zungenlecken. Und der Bär hat zugeschaut. Blödsinn. Ich war viel zu besoffen und zu erschöpft, ein Schlappschwanz, klettere nicht mehr seit meinem Fehltritt in Israel und «Sea of Dreams» oder die Salathé schaffe ich nie im Leben. Die Muskelpakete sind weg, und vor Abgründen habe ich Angst.
Die Tür ging einen Spalt auf, Maya schaute herein, in schwarzem Lederrock und schwarzweiss gestreifter Jacke, die Haare gekämmt und gelackt, zum Ausgehen fertig. Kaffeeduft wehte ins Zimmer, sie beugte sich zu ihm, als sei er ein Patient, berührte mit den Lippen leicht seine Wange. Ihr Gesicht war kühl und glatt vom Make-up. «Ich hab Dienst», sagte sie. «Mach es dir gemütlich. Frühstück steht in der Küche bereit, der Schlüs sel liegt auf dem Tisch. Du kannst ihn mitnehmen.»
Sie schwebte davon, liess einen traumhaften Duft zurück, der Bär hüpfte vom Bett, trippelte ihr nach. Daniel hörte, wie sie mit ihm redete, mit ihrer sanften und langweiligen Stimme, er wollte etwas fragen, doch ein Schmerz fuhr ihm wie ein Messerstich von der Schläfe durchs Hirn.
«Im Bad liegen Frottétücher», rief sie. Dann ging die Wohnungstür. Die perfekte Pflegerin. Oberschwester Maya.
Endlich kam er hoch, betrachtete lange die Vitrine im Korridor, sie war ihm nicht aufgefallen, als sie in der Nacht nach Hause gekommen waren. Eine Sammlung von Barbiepuppen, schön drapiert auf gläsernen Tablaren mit Puppenstubenmöbeln, Barbie als Tennisgirl, Barbie in einer Bauerntracht, Barbie im Kampfanzug und natürlich als Krankenpflegerin mit Rotkreuzhäubchen. Sicher nähte Maya die Kleider selber in ihren einsamen Stunden. Ken allerdings, Barbies Boyfriend, fehlte. Offenbar sammelte Maya keine Männer. Ihr Beschützer war der Bär, der vollgefressene rote Perserkater. Er beobachtete Daniel aus Distanz mit seinem bösen gelben Blick, als wolle er ihn zerfleischen.
Daniel suchte seine Uhr, fand sie bei den Hosen, die gefaltet auf einem Stuhl lagen, darauf seine Unterwäsche, liebevoll glatt gestrichen. Jacke und Hemd hingen an Bügeln.
Er warf einen Blick in die Wohnküche, auf einem runden Tischchen in einem Erker war aufgedeckt, Käse unter der Glokke, Joghurt, Flocken, Schinken, mit Klarsichtfolie bedeckt, frisch aufgebackene Brötchen, Kaffee im Thermoskrug. Auf der Granitabdeckung der Kombination steckten zwei Eier in Bechern neben dem Eierkocher. Ein Zettel: Stell den Käse und den Schinken bitte in den Eisschrank, falls was übrig bleibt. Guten Appetit!
Es blieb alles übrig. Er mochte nicht einmal eine Tasse Kaffee, er musste so schnell wie möglich aus dieser Wohnung verschwinden. Den Schlüssel warf er in den Briefkasten.
17
Sie fand keinen Schlaf. Zählte die Glockenschläge vom Turm, die Viertelstunden, dann die Stundenschläge. Sie erinnerte sich, was Anita im Spital gesagt hatte: Da ist nur … der Glockenturm … Was hatte sie gemeint? Vielleicht hatte sie der Klang der Glocke oft um den Schlaf gebracht. Es gab Gerichtsurteile, die Kirchen- und Kuhglocken zum Schweigen brachten, weil sie die Anwohner störten.
Andrea drehte sich gegen die Wand, hörte leises Knacken und Knistern im Gebälk. Das Holz dehnte sich, spürte die Wärme und das neue Leben im Haus, die Holzwürmer nagten unentwegt. Es war ihre erste Nacht in der «Alpenrose». Sie hatte sich notdürftig eingerichtet, den Futon im hellsten Zimmer auf dem Boden ausgerollt, Nägel ins Täfer geschlagen für die Kleider, als ob sie sich nur vorübergehend hier aufhalten würde. Noch immer Nomadin. Der Gedanke, ein Haus zu besitzen, dieses uralte behäbige Haus, war ihr noch fremd. So ein Haus besitzt man nie wirklich, hatte Reto Kocher gesagt. Das Haus war hundert Jahre vor dir da und es wird hundert Jahre nach dir noch stehen. Du bist nur Gast, auch wenn du im Grundbuch als Besitzerin eingetragen bist. Vor dem Einzug hatte sich Andrea fast gefürchtet, obwohl das Haus gekauft und bezahlt war. Aus der abstrakten Zahl der Erbschaft war etwas Reales geworden.
Als erste «Amtshandlung», wie Reto es nannte, hatte sie über dem Eingang mit Bohrdübeln das Schild befestigt: Rock’n’Ice – Kletterschule. Dazu das Signet, eine Seiltänzerin zwischen zwei Bergspitzen. Kletterfreunde hatten ihr beim Umzug geholfen, es hatte aus Kübeln gegossen, doch ihr Mobiliar war schnell im Haus. Reto liess einen Sektkorken knallen und bemerkte: Beim Zügeln regnet es immer. Andrea prostete den Freunden zu und trank zur Feier des Einzugs ein halbes Glas.
Sie zählte die Glockenschläge, zwei Uhr nachts. Sie begann zu rechnen, addierte, subtrahierte, summierte Zins und Zinseszins einer allfälligen Hypothek für die sanfte Renovation. Neue Fenster, hatte der Architekt empfohlen, neue Fensterläden, Sickerleitung, um den Keller zu entfeuchten. Den Ersatz der alten ausgetretenen Treppen verlangte das Baugesetz. Das Amt für Heimatschutz hatte sich gemeldet, machte Auflagen. Die Schindelfassade und das Dach mit den Schwalbenschwanzziegeln mussten erhalten bleiben, eine kostspielige Angelegenheit. Das Amt für Umweltschutz forderte die Sanierung der Abwasserleitungen. Die Lebensdauer von sanitären und elektrischen Installationen war längst abgelaufen. Küche, Toiletten, Gästezimmer waren renovationsbedürftig. Ein Fass ohne Boden. Seit Wochen stellte Andrea in Computertabellen das Notwendige dem Wünschbaren gegenüber und wünschte sich manchmal wieder die Zeit herbei, als ein Zelt, ein Rucksack voll Kletterwerkzeug und eine Sporttasche mit Klamotten ihr einziger Besitz gewesen waren und die Unendlichkeit des Himmels über Amerika das Dach über ihrem Kopf. Ein Dach, das nie leckte, an dem keine Würmer und Schimmelpilze frassen. War ein neues Dach wirklich notwendig, wie Reto Kocher empfahl? Solange es nicht hereinregnete, wollte sie zuwarten. Und wieder schlug die Glocke. Drei Uhr.
Ein Rumpeln über ihrem Kopf schreckte sie auf, sie war doch eingeschlafen. Sie vernahm ein flüchtiges Trippeln im Estrich, ein Gegenstand fiel um, rollte über den Boden. Einbrecher! Sie stützte sich auf die Ellbogen, horchte. Es war so still, dass sie glaubte, ihr Herz zu hören, das heftig klopfte. Ein Viertelstundenschlag vom Glockenturm. Das Rumpeln und Rollen setzte in einem andern Teil des Estrichs wieder ein. Ein Gepolter, als ob jemand mit Kegeln spielte.
Andrea tappte auf allen Vieren von der Matratze zum Rucksack, schnallte den Eispickel ab, suchte zwischen Kletterwerkzeug nach ihrer Stirnlampe, setzte sie auf, trat in Socken und Pyjama ins Treppenhaus, den Pickel fest umklammert. Die Stufenleiter zum Estrich knarrte leise, als sie hinaufstieg. Sie horchte, hörte keinen Laut mehr, stiess die Bodenklappe auf und rief: «Ist da jemand?»
Der Lichtstrahl ihrer Lampe tastete über alte Möbel, die mit Leintüchern zugedeckt waren, über Truhen, Tische, kaputte Stühle, Säcke mit verrotteten Lumpen, einen Stapel Dachziegel, Bündel vertrockneter Schindeln, Zeitungen, Hanfseile, eine Kiste verstaubter Schuhe. Sie glaubte, Trippelschritte zu hören, die sich hinter einem Kamin entfernten, rief nochmals, doch kein Einbrecher oder sonst ein Eindringling zeigte sich. Dafür schlug ihr ein penetranter Gestank entgegen. Gespenster hinterliessen bei ihrem Verschwinden einen Geruch nach Schwefel und faulen Eiern, hatte einmal jemand erzählt. Der Estrich stank eher wie das Raubtierhaus im Zoo.
«Ist jemand da!», rief sie nochmals, um Mut aufzubauen, drang Schritt für Schritt vor, leuchtete jeden Winkel aus. Hinter dem Kamin trat sie beinahe auf eine schwarze Wurst von frischem Kot. «Verdammte Scheisse, Marder!», rief sie aus. «Auch das noch!» Ein Gespenst wäre ihr lieber gewesen.
Andrea schlug die Pickelspitze in einen Balken, ihre Angst kippte in Wut. Marder, das bedeutete, dass das Dach sofort repariert werden musste, vielleicht sogar erneuert.
Sie wusste, dass es fast unmöglich war, einen Marder aus dem Haus zu vertreiben, wenn er seine Duftspur hinterlassen hatte. Auch Marder waren sesshaft, keine Nomaden. Nach dem Lärm zu schliessen, war es ein Weibchen mit Jungen, die mit Vergnügen im Estrich herumtollten. Sie war also nicht allein.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.