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«Akku leer», murmelte Felix. Er lehnte sich an einen Baum, zermarterte sein Hirn. Tausend mathematische Formeln purzelten durch seinen Kopf, Matritzen, Differentialgleichungen, Eulersche Zahl, Binominalkoeffizienten, nutzloses Schubladenwissen, mit dem er ein Leben lang seine Studenten gequält hatte. Er schlug mit der Stirn gegen den Baumstamm, als ob er seine grauen Zellen wachrütteln könnte. 8889 Möglichkeiten gab es, doch die vier Ziffern des Codes waren aus seinem Gehirn gelöscht.
«Hina hat doch ein Handy dabei.»
«Wo steckt sie denn?» Tom sah sich um. Rief nach ihr, bekam keine Antwort.
«Ich lauf mal der Wand entlang, bestimmt sind noch andere Kletterer in der Nähe.» Sabine hatte sich gefasst, Volker eilte ihr nach.
Felix holte seine Sturmjacke aus dem Rucksack. «Wir müssen Andrea warm halten.»
Tom half ihm, die Jacke vorsichtig unter ihren Körper zu schieben. Mit Watte und Merfen aus der Apotheke tupften sie ihren zerschundenen Rücken ab, bedeckten ihn mit ihrer Regenhaut und dem Faserpelz. Felix zog ihr den Helm aus, löste den Klettverschluss des Kletterschuhs, streifte ihn vorsichtig von ihrem rechten Fuss, der unversehrt schien. Der linke war blauschwarz unterlaufen, mehrfach gebrochen wohl. Er redete leise auf sie ein. So, wie er manchmal mit seiner Frau sprach, wenn er sich vorstellte, sie sei noch am Leben. Einmal glaubte er, Andrea krümme die Zehen des unverletzten Fusses, gebe ihm ein Zeichen, dass sie ihn höre, dass seine Stimme ihr versunkenes Bewusstsein erreiche. Laut sprach er sie an, und erneut krümmte sie fast unmerklich die Zehen. Die Bewegung liess hoffen, dass ihr Rückenmark nicht oder doch nicht schwer verletzt war. Felix holte ihre Socken aus den Turnschuhen, die sie zum Klettern ausgezogen hatte, streifte sie ihr über die Füsse, zog dann ihren leeren Rucksack darüber. So hatte er es am Eiger gemacht, als er allein auf einer Eisstufe biwakierte, nachdem sein Freund abgestürzt war. Tausend Meter, und da war kein Busch gewesen, der seinen Sturz aufgefangen hätte.
Tom begann am Kletterseil zu zerren, das noch immer in der Wand hing. Er schüttelte es, die Karabiner der Expressschlingen klirrten.
«Es ist verklemmt. Irgendwas stimmt da nicht.»
Stimmen näherten sich, zwei junge Kletterer eilten herbei, fragten auf Italienisch, was geschehen sei. Felix deutete zur Wand. «È caduta.»
«Habt ihr Alarm durchgegeben?»
Felix schüttelte den Kopf. Einer der beiden zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, stellte eine Nummer ein, redete schnell, gab Erklärungen in einem lokalen Dialekt, den Felix nicht verstand.
«Die Feuerwehr schickt einen Helikopter von Savona.»
«Die Feuerwehr?»
Der Junge schnitt ein Gesicht. «Hier ist die Feuerwehr für Rettungen zuständig. Mi dispiace.»
«Was heisst das?»
«Das wirst du schon noch sehen.» Der Kletterer deutete mit dem Daumen nach unten.
«Du sprichst gut Italienisch», bemerkte der andere.
«Meine Frau stammte aus der Toscana.»
«Ist sie das da?» Der Kletterer deutete mit der Spitze seines Turnschuhs auf Andrea.
«Nein, das ist unsere Bergführerin.»
«Mamma mia. Wie konnte das passieren? Habt ihr nicht richtig gesichert?»
Felix hob die Schultern.
«Die meisten Unfälle passieren hier beim Sichern.»
Sabine und Volker kehrten zurück in Begleitung von zwei Italienern. Sie gaben ihre Faserpelzjacken her, um die Verletzte zuzudecken. Mehr konnten sie nicht tun, bis der Hubschrauber eintraf.
Nach einer Weile tauchte Tom auf. Er habe Hina gefunden, völlig ausser sich kauere sie am Fuss der Eisenleiter, heule und sei kaum ansprechbar. «Steht unter Schock. Hat wohl zugesehen, wie Andrea gestürzt ist.»
Sabine wollte sich um sie kümmern, nahm Andreas Taschenapotheke mit. Vielleicht brauche Hina ein Beruhigungsmittel. Volker begleitete sie.
«Sie soll eins kiffen», rief ihnen Tom nach. «Das hilft.»
Volker drehte sich um, tippte mit dem Finger an die Schläfe.
«Mein Ernst», gab Tom zurück. «Cannabis beruhigt. Das ist wissenschaftlich erwiesen.»
Vom Meer her schoben sich Wolkenbänke über den Grat jenseits des Tals. Felix schaute auf die Uhr, später Nachmittag, doch es schien schon zu dämmern. Die Kälte nahm zu. In seinem Rucksack fand er Dörrfrüchte, bot den Italienern an. Sie erzählten, drüben an der Rocca di Corno hänge eine Gedenktafel für einen jungen Deutschen. «Dirk Voigt, 1995.» Sein Kollege habe die Sicherung gelöst und ihn fallen lassen, weil er glaubte, Dirk seile sich selber ab von der Umlenkung. Ein fatales Missverständnis. Sie schauten Felix an, als ob sie von ihm eine Erklärung erwarteten. Er kaute eine gedörrte Aprikose und schwieg.
Einige Zeit später drang aus dem Tal das Wimmern von Sirenen herauf.
«Ambulanz und Polizei», bemerkte einer der Italiener. «Ich sause mal hinab.»
«Wo bleibt der Helikopter?»
Die Jungen zuckten die Schultern.
«Subito, haben sie gesagt. Aber was heisst das schon in diesem Land.»
5
Sie schwebt. Hoch über den Wolken der Cerro Torre. Sie spürt ihre Füsse nicht mehr, kalt, kalt, nach Tagen in der Wand aus goldgelbem Fels und sprödem Eis, das auf dem glatten Granitpanzer klebt. Prekärer Weg auf die Spitze der Pagode aus Urgestein. Verrückter Weg, unmöglicher Weg. Mehr Traum als Wirklichkeit. Dreimal versucht, dreimal gescheitert. Sie hatten eine Linie gefunden, Südwand, Seillänge um Seillänge durch Risse, Platten, über Eisbalkone. Über ihnen glimmt der Gipfel, wenn das Licht durchs Gewölk bricht, ein zerbrechlicher Eispilz. Ganz nah scheint er, doch unerreichbar im Sturm. Gescheitert, das Leben umsonst aufs Spiel gesetzt, aufgegeben, kurz vor dem Ziel. Aufgegeben für immer.
Hingestreckt liegt sie und zittert und der Sturmwind wimmert und weint, und fernes Pochen schlägt einen Takt, als steige ein Hubschrauber auf und hole sie aus dieser mörderischen Wand. Ein Schlagen und Klopfen an unsichtbare Türen aus Luft, ihr Herz, gepeitscht vor Angst und Sehnsucht. Ich will leben, leben, leben. Daniel … Stimmen reden in fremden Sprachen auf sie ein, schreien ihr Worte ins Ohr, die sie nicht versteht, Halluzination. Sie greift nach dem Seil, doch da flammt dieser lodernde Schmerz in der Seite auf, im Kreuz, im Bein, ein Höllenfeuer. Der Fuss kalt und leblos. Erfroren. Ist er überhaupt da? Links oder rechts? Warum? Wo bin ich, fragt sie, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Keine der fremden Stimmen antwortet. Wo bin ich, wo bin ich? Sie schreit, sie ruft, sie flüstert. Nichts. Eingetrocknet alles, ausgetrocknet, ausgedörrt. Kein Wasser mehr, kein Brennstoff, um Schnee zu schmelzen. Nur dieser unstillbare Durst.
Cerro Torre, Patagonien. Die Zeit tropft. Wie das Wasser von den Eisschwertern über ihnen. Sie liegen im Biwaksack und der Sturm tobt, und sie umklammern sich, um sich zu wärmen. Körper an Körper, eng umschlungen, ineinander verkrallt. Nicht aus Liebe, es ist der verzweifelte Wille, den Lebensfunken warmzuhalten, diese Hölle zu überleben, die Hölle, durch die der Weg in den Himmel führt. Zu Mutter. Hoch oben sitzt sie, auf der Spitze des gleissenden Bergs, auf dem Eispilz, blickt herab und zeigt ihr schneeweisses Lächeln. Weisst du noch, damals, als du gestürzt bist im Garten, auf die Kieselsteine. Dein Knie blutete, du hast geweint. So klein warst du noch, so klein und so tapfer. Ich hab dich aufgehoben, ins Haus getragen, aufs Sofa gelegt, verbunden, hab dich getröstet, geküsst. Ja, so war das. Und dann sind wir zusammen auf Berge gestiegen. Weisst du noch? So hat alles begonnen, und so wird alles enden. Im Mutterschoss.
6
Es dauerte lange, bis der italienische Kletterer zurückkehrte, begleitet von einem Sanitäter in einer orangeroten Jacke und einem Feuerwehrmann in Uniform. Felix sah auf die Uhr, seit mehr als einer Stunde lag Andrea neben dem Weg, reglos und schwer atmend. Die Gesichter der Retter waren erhitzt vor Anstrengung. Der Sanitäter schleppte einen Koffer mit einem Beatmungsgerät. In Halbschuhen hatte er sich vom Tal den Steilhang hochgekämpft, ein miserabler Weg, schimpfte er, Gestrüpp und Geröll, ein Bachbett. Zum Schluss an einem Seil um einen Felssporn herum. «Porca miseria!» Er wischte sich den Schweiss mit einem Tuch von der Stirn. Dann wandte er sich der Verletzten zu, betastete sie, stellte Fragen. «Come va, signorina? Ha dolori?» Andrea drehte ihren Kopf etwas zur Seite, bewegte die Lippen.
«Sie ist bei Bewusstsein», sagte er, «hat Glück gehabt.»
Der Feuerwehrmann trug feste Lederstiefel, die Jacke mit breiten gelben und silbernen Streifen stand offen. Er trat auf einen Felsabsatz hinaus, sprach in ein Funkgerät.
«Wo bleibt der Heli?», fragte Felix.
«Wird gleich kommen.»
Die italienischen Kletterer, die herumstanden, wiederholten: «Verrà fra poco.» Sie stiessen sich an, einer grinste. «Braucht ihr uns noch?»
Sie froren in ihren T-Shirts und halblangen Kletterhosen.
«Bleibt bitte hier, bis der Heli eingetroffen ist.»
«Verstehe. Ihr traut unseren Staatsorganen nicht.» Sie drängten sich an der Felswand, die noch etwas Wärme ausstrahlte, zusammen und schwatzten.
Sabine kam zurück, berichtete. Mit einem Seil gesichert, hatten sie Hina die Eisenleiter hinaufbugsiert. Volker begleite sie über den Felsrücken zurück nach Orco, werde sie ins Hotel fahren. «Sie hat eins gekifft, das hat sie wirklich beruhigt.»
Sabine setzte sich neben Felix auf den Boden. «Wie geht’s Andrea?»
«Schwer zu sagen.»
Andreas Atem ging ruhiger, so schien ihm. Von Zeit zu Zeit zog ein Schauer durch ihren Körper. Sabine sprach sie an, bekam keine Antwort.
«Habt ihr Rettungsfolien dabei?», fragte Felix den Sanitäter. «Die Verletzte friert.»
«Mal schauen.» Der Mann klappte seinen Koffer auf. Er enthielt Sauerstoffflaschen, eine Atemmaske, aber keine Spritze, kein Schmerzmittel, keine Folie, keinen Verbandstoff. Es sei sein erster Einsatz, entschuldigte er sich. Er gehöre zu einer Organisation von freiwilligen Samaritern. Er tippte mit einem Finger auf das Signet auf seiner Jacke, ein grünes Kreuz. Croce Verde Italia.
«Der Heli kommt!», rief Tom.
Vom Meer drang das Dröhnen der Rotoren herauf, schwoll an. Der Helikopter tauchte über dem Felsrücken jenseits des Tals auf, blieb über dem Grat stehen, als suche er den Weg, drehte dann gegen Orco ab und verschwand.
«Er sucht bei Feglino», rief der Sanitäter dem Feuerwehrmann zu. «Gib ihm die richtigen Koordinaten durch.»
«Keine Verbindung im Augenblick.» Der Mann fingerte an seinem Funkgerät herum, fluchte vor sich hin.
Die italienischen Kletterer riefen ihm, er solle sein Telefonino benutzen. Sie machten sich über den unerfahrenen Mann lustig. Er blieb auf dem Felsabsatz stehen, brüllte ins Mikrofon: «Pronto, pronto …»
Der Sanitäter setzte sich auf seinen Koffer. Er steckte sich eine Zigarette an, hielt Felix die Packung hin, doch er lehnte ab. Das Rotorengeräusch des Helikopters hatte ihn an jenen Morgen in der Nordostwand des Eigers erinnert. In der Dämmerung war er aufgebrochen von seinem Eisbalkon, mit steifen Gliedern von der kalten Nacht. Schritt für Schritt auf den Frontzacken der Steigeisen. Später streifte hoch über ihm die Sonne den Grat, Seilschaften kletterten darauf wie Ameisen. Er war allein, der Freund lag in der Tiefe. Er schläft, sagte er sich. Er wird erwachen, aufstehen, wir werden wieder miteinander auf Berge steigen. Er musste sich das einreden, sonst würde er seinen Pickelhammer fahren lassen, ihm folgen. Dann das vibrierende Pochen, das nicht aus seinem Herz kam. Ein rot-weisser Helikopter schraubte sich die Wand entlang hoch, überhöhte ihn, der Rotorwind peitschte ihm Schneekristalle ins Gesicht. Drohte, ihn aus dem Gleichgewicht zu schleudern. Doch er gab das Zeichen: Brauche keine Hilfe. Stieg weiter, zum Gipfel und zurück in sein anderes Leben.
Deutlich vernahm er das schlagende Dröhnen des Hubschraubers wieder, spürte den Luftzug, Staub im Gesicht. Aufgeschreckt aus den Bildern der Vergangenheit sah er den Sanitäter seine orangerote Jacke über dem Kopf kreisen. Der Heli stand wenige Meter vom Hang entfernt in der Luft, schwankte leicht, dürres Laub wirbelte auf, das Gebüsch wallte wie Brandung, eine junge Zypresse bog sich im Rotorwind. Felix konnte die Aufschrift lesen: Vigili del Fuoco. Blau war die Maschine, nicht rot-weiss. Vierzig Jahre waren vergangen.
Der Helikopter drehte weg, zog eine Schleife über dem Tal, näherte sich etwas höher wieder dem Abhang. «Er kann hier nicht landen», erklärte der Sanitäter.
«Haben sie keine Seilwinde?»
Er machte eine Kopfbewegung gegen den Felsabsatz hinaus. «Der da draussen müsste es wissen.»
Felix trat neben den Feuerwehrmann, der durch den Rotorlärm ins Funkgerät schrie. Luftstösse fuhren ihm ins Gesicht, blähten seine Kleider. Er sah den Piloten mit den Kopfhörern im Cockpit, neben ihm einen Uniformierten, der beide Hände hob. Er schien zu bedauern.
«Warum setzen sie die Seilwinde nicht ein?»
Der Feuerwehrmann gab keine Antwort, sah dem Heli nach, der abdrehte, talauswärts flog und in den Schatten tauchte. Vergeblich versuchte er nochmals Verbindung zu bekommen. Dann liess er das Funkgerät sinken, murmelte unablässig vor sich hin, Schaum in den Mundwinkeln. Es war plötzlich so still, dass Felix das Knistern der Blätter im Wind hörte.
«Was geht hier vor?»
Der Feuerwehrmann blieb stumm, hob das Funkgerät wieder ans Ohr, bekam endlich Verbindung, schrie ins Mikrofon. Felix verstand. Die Seilwinde war kaputt. Landen war unmöglich in diesem Gelände.
«Aspettiamo.» Der Mann spuckte auf den Boden. Die höhnischen Zurufe seiner Landsleute beachtete er nicht, machte ein paar Schritte zur Seite, knöpfte den Hosenschlitz auf und pisste ins Gebüsch.
Sabine trat neben Felix. «Was nun?»
«Wir müssen warten.»
Sie streckte ihre flache Hand aus. «Es beginnt zu regnen.»
Der Wind hatte nachgelassen. Im Tal glommen Lichter auf, Blaulicht pulsierte. Die Ambulanzen und Polizeiautos in der Tiefe sahen aus wie Leuchtfische am Grund des Meeres.
7
Nach Mailand lag Nebel über der Autobahn. Die Rücklichter eines Lastwagens waren das Einzige, was Daniel erkennen konnte. Er starrte auf die roten Punkte, die vor ihm im Dämmergrau dahintrieben. Es kam ihm vor, als bewegten sie sich nur noch im Schritttempo vorwärts. Immer wieder war er versucht, das Gaspedal durchzudrücken, loszupreschen. Die Vernunft hielt ihn zurück. In regelmässigen Abständen auftauchende Markierungen am Rand der Fahrbahn warnten, dass er bei dieser Sicht nicht schneller als fünfzig fahren dürfte. Sein Tacho zeigte achtzig. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und wenn sich der Nebel bis zum Apennin hinzog, würde die Fahrt eine Stunde länger dauern.
Er schob eine cd ein, hämmerte mit einer Hand den Takt aufs Lenkrad. You’re walking. And you don’t always realize it, but you’re always falling … Laurie Anderson, Andreas bevorzugte Songwriterin. Vor einigen Jahren waren sie zusammen nach Finale gefahren, hatten eine intensive Woche verbracht. Das Meer glatt und klar, die Felsen warm, das Essen und der Wein vorzüglich. Spätherbst, die Nächte schon kühl, sternenklar. Dann war er nach San Diego berufen worden. Nach seiner Rückkehr war ihre Beziehung schwierig geblieben. Er fast rund um die Uhr in der Klinik, sie ständig unterwegs mit Gästen oder mit ihren Kumpels auf wilden Expeditionen. Zu individualistisch beide, zu egoistisch auf ihren eigenen Weg fixiert, da machte er sich nichts vor. Eine Familie gründen, Kinder in die Welt stellen? In diese Welt? Sie waren wohl nicht die geborenen Eltern.
Nach der Brücke über den Po begann sich der Nebel aufzulösen, trieb in grauen Fetzen über die Ebene. Da und dort ein Traktor auf dem Feld, ein einsames Gehöft, ein Hochspannungsmast. Daniel überholte den Lastzug, blieb auf der linken Spur. Wählte Andreas Nummer, wie schon unzählige Male seit seiner Abfahrt. Das Pfeifsignal, die synthetische Stimme: «Sie sind verbunden mit der Mailbox von …» Andreas Nummer folgte. «Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.»
Er hinterliess einen Kraftausdruck. Warum meldete sie sich nicht? Was war los? Während des Nachmittags hatte ihn von ihrer Nummer eine eigenartige sms erreicht. Es war nicht ihre Art zu schreiben. Er kannte ihre Kurzmitteilungen zu gut, ihre kleinen Orthografiefehler und geheimen Zeichen, ihre verhaltenen Gefühle. Hatte sie jemals das Wort «Liebe» verwendet, hatte er es? Er konnte sich nicht erinnern.
Andrea gestürzt. Das ist der Preis der Liebe. Il Silenzio.
Für diese paar Worte fand er keine Erklärung. Andrea stürzte nie, niemals. Nicht in Finale in einer Kletterwoche mit Anfängern. Das war nicht wahr, das durfte nicht wahr sein. Finale war Routine für sie. Wessen Preis sollte das sein? Welche Liebe? Gab es Nebenbuhler? Die Kumpels, mit denen sie im Winter in Patagonien herumgeklettert war? Sie sprachen nie darüber, stillschweigend waren sie übereingekommen, dass diese Dinge tabu seien. Die zwei Jahre in Kalifornien hatte er sein Leben gelebt, sie das ihre. Er war kein Engel und sie keine Klosterschülerin. Beide hatten sie wilde Zeiten durchlebt, waren gereift, hatten ihren Weg gefunden. Egal, was immer sie an der Südspitze Südamerikas trieb in den Wochen, während Schneestürme tobten und sie mit ihren Freunden auf die wenigen Sonnentage für die Kletterei wartete. Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Il Silenzio, das Schweigen? War sie der Mafia in die Hände geraten, Omertà? Und mit der nächsten sms kam die Lösegeldforderung? Preis der Liebe? Blödsinn! Sie war gestürzt, hatte einen Knöchel gebrochen oder die Hand verstaucht.
Die Frauenstimme aus dem GPS holte ihn aus den Gedanken. Rechts abzweigen auf die A 26 Richtung Savona und Ventimiglia. Wenig später kündete eine Tafel einen Autogrill an. Er brauchte einen Kaffee, setzte den Blinker. An der Bar der Raststätte standen Leute herum, der Espresso schmeckte nach Teer. Trotzdem bestellte er einen zweiten, schüttete viel Zucker hinein, schob sich eine fettige, mit Marmelade gefüllte Brioche in den Mund. Seit er nicht mehr rauchte, war er süchtig nach Gebäck und allem Süssen, hatte ein paar Pfunde zugelegt. Schwer war er geworden, fand kaum mehr Zeit fürs Bergsteigen oder einen andern Sport. Dafür hatte sich Andrea, so schien ihm, umso hartnäckiger in ihre Kletterprojekte verbissen, plante Expeditionen, wilde Erstbesteigungen. Vielleicht gab es wirklich einen andern. Etwa den Typen, mit dem sie schon dreimal eine neue Route am Cerro Torre versucht hatte. Sie war ziemlich schweigsam zurückgekehrt von der letzten Expedition.
Eine halbe Stunde nach der seltsamen SMS hatte Daniel eine Vertretung organisiert, Silke Braun, eine tüchtige und karrierebewusste Ärztin aus Dresden, die wusste, dass er wahrscheinlich bald der neue Chef war im Haus. Seiner Sekretärin hatte er zwischen Tür und Angel zugerufen: «Ich muss dringend weg.»
«Professor Smits wollte dich morgen sprechen, wegen der Kommissionssitzung am Montag.»
Daniel tat, als habe er nicht gehört, obwohl die Sitzung entscheidend war für seine Berufung zum Chefarzt. Der Klinikchef hatte ihn als Nachfolger vorgeschlagen. Das war der eine Grund, weshalb er aus San Diego zurückgekehrt war in die Provinz. Der andere war Andrea. Ein Dilemma, denn als Chef der Klinik würde er noch weniger Zeit für sie haben, ihre Beziehung würde noch mehr strapaziert. Wegen dem Assessment hatte er die Kletterwoche abgesagt. Er müsse sich vorbereiten, doch das war ein Vorwand gewesen. Andrea hatte wohl etwas geahnt, war wütend und traurig abgereist, hatte sich nicht mehr gemeldet. Und nun? Nach der SMS hatte er keine Sekunde gezögert. Er musste fahren, er musste wissen, warum sie nicht mehr antwortete und was die ominöse Nachricht bedeutete, die jemand in ihr Mobiltelefon getippt hatte.
Zwischen Gestellen, die überladen waren mit Weinflaschen, Olivenöl, Parmaschinken, Parmesan und Teigwaren, suchte er den Weg zur Kasse und zum Ausgang. Es war schon dunkel, Nebelbänke schoben sich über den Kamm des Apennin. Neben seinem Saab stand ein Typ mit fettigen Haaren, wollte ihm eine gefälschte Rolex für fünfzig Euro andrehen. Er lehnte ab. Der Mann trat näher, er hatte schlechte Zähne und sein Atem roch nach Tabak. Daniel schaute ihm ins graue Gesicht, packte ihn hart an der Schulter und schob ihn zur Seite. Der Mann knurrte einen Fluch und verzog sich.
Als Daniel auf die Autobahn einspurte, begann es zu regnen.
8
Weitere Helfer waren eingetroffen, Kletterer aus andern Gebieten, die von dem Unfall gehört hatten, und freiwillige Retter, die aus dem Tal heraufgestiegen waren. Sie lehnten an Bäumen, hockten auf dem Boden, unterhielten sich. Zigaretten glommen auf. Felix hörte Italienisch, Deutsch und holpriges Englisch, wenn sich die verschiedenen Nationalitäten untereinander verständigten. Alle warteten, dass etwas geschehe, dass sie Hand anlegen, sich nützlich machen konnten. Er sass auf seinem Rucksack, musste immer wieder die gleiche Frage beantworten: «Wie ist es passiert?»
«Ich weiss es nicht.» Er deutete auf das Seil, das in der Wand hing.
Ein Kletterer zog am Seil, doch es blieb verklemmt. «Da ist noch ein Knoten drin.»
«Sie hat sich zum Umfädeln losgeseilt, ohne sich zu sichern, und ist dabei ausgerutscht.»
«Bestimmt nicht, sie war Bergführerin.»
«Oder der Typ da hat sie fallen lassen, hat sie losgebunden und das Seil wieder nachgezogen.»
«Vielleicht ist der Stand ausgebrochen.»
Einer wollte hinaufklettern und nachsehen, doch die andern hielten ihn zurück. Es war schon zu dunkel, die Felsen nass. «Ein Absturz genügt für heute.»
Zwei Sanitäter brachten eine Schaufelbahre, die man in zwei Teile zerlegen konnte und damit die Verletzte anheben, ohne ihre Wirbelsäule zu gefährden. Für den Transport gehöre eine Schale aus Kunststoff dazu, die sei noch unterwegs, erklärten sie. Sie trugen Helme mit Stirnlampen, leuchteten Andrea ins Gesicht. Der Blutstreifen aus ihrem Mundwinkel war eingetrocknet, sie kniff ihre Augen zusammen, als sie das Licht blendete. Die Sanitäter hockten auf den Boden, rissen eine Dose Bier auf, reichten sie hin und her.
Wenig später rollte unvermittelt das Dröhnen eines Helikopters über die Wand. Er war aus einem andern Tal aufgestiegen, schwebte dicht über dem Grat, schaltete Scheinwerfer ein. Die knorrigen Stämme von Zwergeichen ragten ins grelle Licht. Steine, Laub und Föhrennadeln prasselten herab. Die Seitentür wurde aufgeschoben, zwei Gestalten sprangen heraus.
«Was soll das? Was macht ihr dort oben?», rief einer der jungen Italiener hinauf.
Der Hubschrauber entfernte sich von der Wand, leuchtete den Fels an. Ein Seil kringelte herab. Ein Mann seilte sich ab, der zweite folgte. An einer Föhre machten sie Zwischenstand, zogen das Seil ab, warfen es wieder aus. Die Enden klatschten zwischen den Wartenden auf den Boden. «Bravo!», rief jemand. «Viva i pompieri! Viva l’Italia!»
Ein Feuerwehrmann glitt am Seil herab. Er trug eine Uniformjacke mit Gradabzeichen, einen Kletterhelm, am Gürtel pendelten Karabinerhaken aus Stahl und ein Beil. Ein Offizier offenbar, mit gepflegtem Schnauz und energischem Gesichtsausdruck. Er leuchtete mit seiner Stirnlampe in die Runde, trat kurz zur Verletzten. «Warum liegt sie noch hier? Wo ist die Bahre?»
Ein Sanitäter erklärte ihm, dass die Transportschale zur Bahre noch nicht eingetroffen sei. Der Mann, der sie herauftragen sollte, hatte offenbar den Weg verfehlt. Der Offizier stiess wüste Flüche aus, telefonierte. «Was stehst du herum? Geh suchen!», fuhr er den Sanitäter an.
«Es ist unmöglich, die Verletzte da hinunterzutragen», wandte der andere ein. Da gibt’s eine Felswand mit Seilen.»
«Wer sind wir denn?», brüllte der Offizier. «Packt an. Ein paar sollen schon vor, eine Seilbahn einrichten. Ihr seid doch Bergsteiger, oder nicht?» Dann begann er, mit seinem Beil einen Busch wegzuhacken, der ihm den Weg zu verstellen schien. Sein Kollege zog das Seil ab, schoss es auf und warf es einer Gruppe von Kletterern vor die Füsse. «Dai, dai, bewegt euch!»
«Was sollen wir?» Tom griff sich das Seil.
«Den Weg hinab, irgendwo hat es einen Fels, dort sollt ihr eine Seilbahn einrichten», übersetzte Felix.
«Und wie geht das?»