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Sarodnick lag in seinem gemieteten Bett, im gemieteten Zimmer für dreißig Mark in der Vorstadt von Leipzig und wog seinen Mut: Konnte er leben mit hundert Mark unter dem Kissen, mit Unvermögen sich Wege zerstreuen, mit abgerissen von gestern, von Eltern, von Freunden und mit keiner Richtung in Sicht? Er klang sich in Reue, im Schatten, und er wärmte darin, klammerte an den Büchern, um die Triebe in Nachsicht zu setzen, die Analyse zum Reif in die Leere – sein eigenes Ich.
Die Bänke im Saal waren schwer von den Köpfen, und Martin las in Märchen und Typen, die in Archen verpackt waren und ruhten. Er fand den Mann in der Schwüle der Endproduktion, den Hauch der Bürgerentsammlung, die Hochzeit im Beinhaus. Er spürte überall künstliches Licht, und das zog ihm über das Herz, diese Sprache im Tritt, die Krankheit verschmierte in Ordnung, die vor dem Meer einen Breitstrom, ein Delta abgab. „Drei Noten im Tristan“ und der Klang von gekippten Betten darin, das hohe Fieber mit Ironie – wer könnte da lachen im Krampf?
Drei Bänke weiter saß Linda, drei Straßen weiter von ihm in dreißig Mark Miete. Sie schied sich in Psychologie, schied sich die Geister, scheute bescheiden den Lärm und kannte Bescheid: Saß sie doch schon Jahre einige Reihen weiter im Saal. So kam für beide die Trauer gemeinsam, der Zweifel, der Einsang zu fragen und die Harmonie im einfachen Schweigen. Stumm hatte Martin sie zu küssen versucht, und sie staunte darin: Ihr Mund war weit vor der Antwort, klappte nicht zu, war ein Wochen- und Monatestaunen. Später dann nahm Martin die Hand mit zur Hilfe, und er öffnete zum Mund ihr die Bluse. Ein Knopf rollte ab, und Linda schlug die Empörung an ihn: „Wie konntest du nur?!“ – Fortab saß sie wieder ferner drei Bänke und suchte in ihren Büchern allein. Sarodnick aber war zum Fasching gegangen, lag Frederike selber Modell und stellte sich nie mehr für fünf Mark splitternackt aus: Er hatte seinen eigenen Preis. Oder ging er nur Gefahren zur Seite? –
„Clever wie sie“, sagte er sich und sah auf Monika seitlich. Sie hatte gewartet, bis der Zug den Bahnhof verließ, bis Martin abklang in sich, sacht und entschieden. Alsdann schickte sie ihre Freundin voraus mit dem Gruß: „In unserem Abteil ist ein Platz über.“ – Wie hätte er abschlagen, nicht überschlagen sollen – einen Platz zwischen den Mädchen? Er reute es nicht – gesorgt und gehegt von den Formen, geboten in Wahl und in Reihen – und Selbstruhe lag in dem, ein Grund in der Sache: „Ein Mädchen ist verteilt keine Frau.“ – Sarodnick muss sich nicht zeigen, vermag nicht und muss nicht vermögen; er kriecht in die Streuung und macht allen den Hof. Aber er schlief doch mit Petra? – Eben. Das einzige „Richtig“, das einzige Mal, die einzige Frau. Darum die Bindung, die Trauer, die Furcht. – Der Zug geht durch Fremde, durch Gebiete, die Sarodnick nur aus dem Schulunterricht kennt: wohlige Namen, die einstmals anders geheißen – deutsch-endig und -stämmig. Sie sind polnisch geworden, neulich und wieder, sind vom Leide gelöst, von dem Tod, den sie gaben, und sie sind Ausland, ausladend für die, die sie nahmen.
Noch niemals war Martin im Ausland gewesen – das eine Mal als Kind kann er nicht zählen, im Lager, als er sich verlief in den Bergen und nach dem Weg einen Bauern fragte, der ihn in einer fremden Sprache erschreckte. Und der Junge weinte damals davor. Tschechisch war es, und Polnisch ist dem verwandt, wie Russisch, wie alle slawischen Sprachen. Zehn Jahre hat er Russisch gelernt – und wie! –, mit Zensuren, die stimmten wie die anderen auch, und mit nichts, fast gar nichts, das hängengeblieben wäre davon. Monika indes hat zwei Sprachen in ihrem Hals, das ist wie eine Kette, ein Schmuck. Und er bittet: „Sag etwas in Russisch, ein Wort!“ – Dampf, Schienen und Müdigkeit schlagen auf Schwellen. Nacht zieht hinter die Fenster, und ungewohnt breitet der Schlaf sich in Fahrt. „Unter dem Weg, auf dem Wege, wegig, unterwegs – Kilometer im Leben, rollendes Leben …“ Im Sinken, im Eintauchen legt sich Vergessen, legen sich Träume zum bald, und Martin greift in die Tiefe, klammert die Hände daran. Allein in den Welten, Gleiten im Sein, mitten von löschenden Sinnen – nichts tun, ein Flackern, ein Blasen, ein Scheitholz im Feuer des Wagens, ein Silberton im Gesicht. Nacht. Endlich. Räder laufen im Atem. Eine Hand drückt die seine – gleichviel von wem. Man ist noch. Zählt. Und man hält in den Händen und sinkt. –
Als der Tag in den Wagen sich gießt, ist man in der Sowjetunion schon, in Weiß-Russland, und die Waggons laufen jetzt breit, auf breitbeinigen Schienen, anders genormt.
„Die könnten sie bei uns auch installieren“, meint jemand. „Unmöglich“, erwidert sein Gegenüber. „Der Westen macht da aber keineswegs mit, und wir sind leider immer noch abhängig von ihm.“ – Breitspurig erklärt er die Lage, und die Lage wird klar: Sarodnick ist in dem Land mit den anderen Normen. Schicksale gehen die Runde, und an die Türen klopfen Studenten in Uniformen und verteilen Broschüren, formen, was noch nicht ist geformt, Abteil an Abteil. In jedem Kopf stecken Plaketten, man fährt in die Sonne, und Martin bangt in der Frage nach Ankunft.
Berlin–Leipzig war klar. Er studierte hier, dort wohnte Petra. Martin nahm den Koffer, kam an, „zuhause“ bei ihr. In Berlin war seine Wohnung, in einem Gartenhaus bei einer vergessenden Dame, in einem Haus außer Häuschen, mit Musik und Festen darin. Dahinter lag Berlin als Hinterhalt, als Hauptstadt, als Zwilling vom verlorenen Sohn, mit Kultur und aufgeputzten Ruinen. Sarodnick spielte mit ihnen, zeichnete sich aus und steckte die Delegierung nach Moskau sich an den Hut: „Als Einziger! Einzig!“ Er klapperte sich die Fanfaren herunter, die Zirkel, die schönen Worte der Straße als Bühne. „Ein Theater würgt ab“, und Martin blähte gelähmt, flimmerte den Schein und den Spott in den Kegeln. „Das ist schon das Größte, weiter geht es nicht mehr – Kerzen in Schlössern und Sphären!“ – Er schluckte die Masken – Leipziger oder Berliner – die Drachen, die Bärte, den Sommernachtstraum, und er fiel über die Steine, die man ihm absichtlich stellte: Bert Brecht, die Zweifel im Hoch, die Krise als Zucht und die Maßnahme als Regel – das elfte Plenum als Spiel. Für Sarodnick waren es ausgelegte Karten zum Greifen, und er griff nicht daneben, noch nicht. „Glatt wie ein Scheit“, – und glatt rollten die Gespräche mit Monika über die Bühne. „Wir haben in der Oper herzlich gelacht.“
„Zum Kotzen, der ‚Faust‘! Der zweite Teil ist zum Vergessen.“ – Monika schaute die Könige alle in Leipzig, und Sarodnick hinkte voraus. „Über das Leipziger Ballett kann ich wohl richten“, spürte er und kannte ihre Tänzer sehr gut, ihr FF, ihre wie Faltern schwebenden Finger, ihr Freifeist und -geist, ihr fahrendes Fisteln, und er lockte sich mit in dem Spiel an den Hoden und ließ sich austanzen am Schweif. Ein Ausguss lief über die tanzenden Körper, lief über und goss manche Male aus Martin heraus. Es war ein Ringeltanz zum Anfassen unter dem Bauch. Petra freilich zog ihn vom Buhlen in ihren Sommer, und sie blitzte im Zimmer mit Teppich und Blumen. Da konnte Martin nicht anders, kroch in ihr Sofa und stellte die Schuhe auf ihre Löcher. Geborgenes Nest, eine Schwalbe im Herbst, Schwesterngeliebte – so nahm sie ihn auf. Sein Vater und seine Mutter waren entschuldigt mit ihr und ihre Flüche vergessen gemacht.
Der erste Geliebte. Die Erste geliebt. Zweiseitig klebte die Angst, es zu nehmen, und erst nach langen Monaten hemmte sie aus: Sie gruben sich ein – vorsichtig, rücksichtig, den anderen nicht störend im Tun. Es war Liebe ohne Schreie und Schmerzen, ein Dahinschaukeln, ein Interruptus – man unterbrach sich mitten im Wort: „Was wolltest du eigentlich sagen?“ – „Ach, nichts.“ – Zu hoch mutete die Erziehung im Fleisch, war eine Not nur verrichtend: „Nichts. Mache nur weiter“ – es war der Schreck vor dem Später, und weil es nun einmal anders nicht ging, war eine Bindung, die bindet und löscht – gleichgerichtet auf Flammen zu Glut: „Das Feuer schüren, solange es löscht.“ – Jetzt ist es in Sehnsucht verstellt, ist „nicht wichtig“, und Petra ist eine Fiktion – Petra ist Liebe. Wie soll er da raus? –
„Wir sind angekommen!“, erinnert ihn Monika unversehens an Moskau. „Was? Schon?“ Ein Wischen auf Scheiben, ein Tuscheln, und das Stechen im Hirn. Wieder Musik und wieder Plakate und Fahnen und Menschen.
Der Junge irrt, stößt sanft gegen die Leute und Rufe, gegen Wartende mit Schildern unter der Brust. Um jeden beschriftenden Bauch scharren die Neuen, die angekommenen Deutschen und ordnen sich zu. Für Sarodnick dagegen warten kein Schild, kein Institut und kein Ruf – er steht den Namen im Rücken. „Wo ist Monika nur?“ – Ordner treiben ihn weiter, ins Gitter, zu neugierigen Augen, die nach etwas ihn fragen. „Ich …“, steckt er bloß ein. „Wenigstens die Koffer irgendwo stellen!“ –
Der Bahnhof ist wie eine ausgetretene Wiese. „Farbiger“, denkt er, „Farbe vergossen für Jahre.“ – Eine Frau aus der Botschaft verzagt: „Auf meiner Liste finde ich nicht ihren Namen. Aber temporär … Ich kann telefonieren.“
Man geht „vorübergehend“ zur Universität – zu einer fremden. „Da sind Betten. Und später regeln wir alles von selbst.“
2
Kunstleder im Arm rollt Sarodnick auf der Treppe für Götter, für die Gestürzten, in marmorne Schächte: Die Moskauer Metro gibt ihr Karussell. In Steinen setzen schwingende Fäuste, und Mosaike sind in die Flechten der Haare geschnitzt. Halbwärts auf Flitter beugen sich brustfest Ritter vom Amt zu dem hastenden Volk – Mitfahrervolk –, zu den schwankenden Netzen und Taschen. Nichts ist zu schade hierfür. Die Wände sind mit Edelsteinen besetzt, und Lenin liest sich in georgischen Lettern. Im Überlicht steuern die Scheinwerfer aus, Kathedralen wanken unter der Erde Öffentlichkeit, Burgen und Schlösser steigen aus der Legende, und mit ihrer Freizeit im Schoße sitzen die Mädchen mitten darin. Ihre Zimmer aber schlafen auf Erden. Hier jedoch sind ihre Stunden, das Buch, der Freund und der Kuss. Unterstellen, um zärtlich zu sein, anonym sein, schön in dem Zelt. Die Sackgasse wird zur offenen Tür – allein und gemeinsam, riesig und klein – zu einem Tempel für unheilige Zeiten, zu einem Satzzeichen in einer wörtlichen Rede. – Sarodnick lädt sich selbst in die eisernen Betten des Internats, irgendwo weit im Moskauer Süden. Die Nächte sind heiß, und herbergig ist die Hoffnung nach Klärung – von Botschaft aus Botschaft – das Hoffen auf das eigene Bett. Er streift die Vertikalen zum Himmel, verdreht die Lomonossow-Universität sich von den Seiten, die wolkenhoch sozialisiert. Der Wunsch ist verhangen, das Wider zu den Kratzern im Westen: Kaukasische Berge, gedrechselte Wertarbeit unter dem Tisch, und eine Höhe ist „um Gottes willen“ erreicht. Für die Besten der Besten ist es gemacht, sind Volkshäuser für die Verdienten des Volkes. Man gab ein Exempel, das Exempel genügte: ein Vorzeigestück. –
Die geplante Versammlung am Morgen fiel aus, wie alle Versammlungen ausfielen, und man traf sich nur kurz, wie geniert, im Hofe der Uni, war gepresst von dem Mittag der Hitze. Ein Vertreter der Botschaft teilt sich mit – knapp, blitzknapp und leise:
„In dieser Nacht haben unsere gemeinsamen Streitkräfte des Warschauer Paktes die Grenzen zur Tschechoslowakischen Volksrepublik überschritten und haben damit den Weltfrieden gerettet.“ – Was für schreckliche Hitze! Irgendjemand ruft: „Bravo!“ Der Botschafter packt zusammen, verschwindet. Zweihundert Jungen und Mädchen sind wieder allein. „Das muss ausdiskutiert werden“, sagt einer. Keiner.
„Später! Ihr bekommt Direktiven.“
„Diskretion und Disziplin wahren!“
„Die Unterkunftsfrage wäre zu klären.“
„Die Essensmarken bitte bei mir!“ –
Warten und Teetrinken – russischer Tee mit viel Zucker.
„Das schlafft deine Nerven“, hatte Sarodnicks Großmutter gemeint und ihm den Topf mit selbstgemachtem Kandis heimlich gereicht. Heimlich musste es sein, die Eltern waren dagegen: „Das Unkraut! Der schmutzige Zucker.“ – Heimlichkeit war eine Zier in dem Haus, heimlich schmeckte es besser, heimlich sündigte es sich, heimlich hörte man westliche Sender, heimlich kam eine krumme Frau, um in der Zukunft zu lesen, derweil der Vater auf Versammlungen einstimmig wählte. Probleme lösten sich hinter vorgehaltenen Händen, und die Hand schob sich schnell in den Mund und manchmal auch tiefer – zum Kotzen war es.
Sarodnick hielt sich daran und hält die Hand gegen die Sonne, um von den Leninbergen zu schauen. Moskau ist dort, der Horizont seine Heimat und Petra und die Panzer, die fahren. Er nimmt die eigene Faust mit zu Hilfe und sucht die Zeitungen ab. Doch die deutschen sind gestern und hinken, nur die sowjetischen winken und strahlen:
Kinder und Mütter schmücken Soldaten. Martin kann die Buchstaben lesen, die aber geben ihm keinen Text: „Frieden“ und „Freundschaft“ – und Flechtwerk zu Prag. „Verdammt, diese Sprache! Es hat keinen Sinn.“ – Monika müsste er finden. Gleich an der Lubjanka, am KGB, hat sie ein Zimmer, in einem Haus mit viel Glas und aufgelockerten Mauern, mit Flügeln, Balkons und gestaffelten Fronten, mit krummen Winkeln und Winkeln, die tolldreist sich bilden, mit Treppenhäusern aus Licht: ein Wohnheim-Konstruktivismus. Und Martin erbaut sich darin.
In dem Haus teilt sich Monika den Raum mit einer Jüdin und einem georgischen Mädchen. Sie sind freundlich, und beide gewöhnt als Dreiheit zu leben. Die Jüdin ist rund um den Tisch, dunkel, untergestellt, mit offenen Augen wie Grauputz und Seide. Die Georgierin dagegen ist groß, gliedrig, mit olivenem Kopf, schwarzen Zopfhaaren über den Schultern und einem sehr lang gekrümmten Hals. Sie ist eine Frau aus den Epen, eine Unwahre, Ungefasste, mit schiefem winzigen Mund und hängenden Augen voll Ernst. Aus Suchumi stammt sie, und Suchumi hat Wasser und Berge und Honig. Martin lässt die Finger dran kleben und trinkt grusinischen Wein. „So tanzt Europa“, zeigt er den Mädchen, ist weit weg von den Körpern und sucht mit Gesten verständlich zu sein. Sie lachen: „Überhaupt nichts verstanden …“ – Er geht. Monika bringt ihn zur Treppe. „Ich hab’ dich gesucht.“ – Sie lässt ihren Mund ihm wie damals in Halle am Bogen, und es hat etwas an sich, etwas Wohliges, Sanftes, hat etwas von der Treppe dazu. Wie das Eisen stützt es, gibt den kühlen Kopf wieder, die Hilfe, die er jetzt braucht. Eine verschlüsselte Liebeserklärung murmelt er über die Diele, ein verhangener Nebel, der die Banalitäten verhüllt. Doch die mag sie erst recht nicht, mag sie ihn auch.
Monika ritzt und formt seine Sprache – eine Sprachführerin – und führt durch die Stadt.
„Entschuldigen Sie bitte, die Filmhochschule …?“ – Es ist am anderen Ende der Stadt, Nord weit und weg.
„Wie viele sind Sie aus Ihrem Staate?“, fragt der Direktor, und Monika springt in die Lücke, sagt:
„Einer. – Oh, der Martin, Herr Sarodnick kann alles verstehen, nur sprechen ist für ihn noch zu schwer, wegen der Scham …“ – und sie tritt ihm auf die Füße, so dass Martin zustimmend nickt. „Ein Vorbereitungskurs ist nicht nötig.“ – Der Direktor ist verführt von dem Charme: „Dokumentar- oder Spielfilmregie?“
„Spielfilm natürlich.“
„Das wird sicherlich schwer“, spricht der Mann und meint es so gut wie versprochen. Monika ist ins Institut aufgenommen, und der Direktor gibt ihr die Hand.
„Herr Sarodnick, hier!“
„Natürlich, Frau, Fräulein … bloß ‚Spielfilm‘, ich weiß nicht …“
„Es steht im Vertrag.“ – Wer hat Verträge gelesen?
„Gut. Kommen Sie in drei Wochen!“
„So lange wartet der Herr?“
„Das ist seine eigene Sache.“
Das Internat ist ein Steinklotz an der Jausa, ein nebenseitiger Arm von der Moskwa, am Bahnort nach Norden Sagorsk. Die Tataren hatte man nah von hier aufgehalten im Mittelalter am Fluss, der jetzt fast gänzlich weggetrocknet und bald nur noch die Erinnerung lässt. Hinter den Schienen ist ein Wald bis zum Sakolniki Park ausgeworfen, mit Birken, wie es in Büchern oft steht. Der Lärm der Züge weht in die Etagen des Heimes und zieht den Geruch der Bäume nach sich hinein. Die Fenster schmücken den Rest. Der Bau duldet den Zweck, die Unterbringung von Menschen. Er ist ein Zelt für den Winter, übereinander gestockt in fünf Reihen. Die erste ist für die Aspiranten gezogen, die zweite für die Ökonomen und Kameraleute, die dritte für Maler und Szenaristen, die vierte für Schauspieler und Regisseure, die fünfte für Mädchen. Vier Stöcke – vier Leute im Zimmer, drei Leute – wenn man drei Jahre schon wohnt. Jede Zeile fließt in die Küche, in die Toilette, in die Waschräume aus. Im Keller wärmt eine Dusche, darüber liegt eine Kantine, darüber das Leben, darunter aber die Erde und das Gewässer der Jausa von eins.
Ein Junge, zwei Koffer, zwei Taschen, zwei Zettel mit Stempeln würgen sich in das Zimmer im dritten Stock. „Tag Martin!“
„Ach ja, Fritz!“, sagt der eine von den Zimmerbewohnern.
„Martin. Sarodnick, Martin.“ – Die anderen lachen. Martin ist es ganz schnuppe, wo er seine Nächte verbringt.
„Willst du teilen mit uns?“ – Wladimir, Samwel, Wasili. Russe, Armenier, Bulgare. Im Schrank hängt ein Mantel, eine Jacke, zwei Hemden – Sarodnick richtet sich ein.
„Die Koffer wohin?“ – Ein Tisch, zwei Tag- und Nachtschränkchen, vier eiserne Betten, ein Schrank und ein mickriger Lautsprecher daneben geschraubt. „Ich brauche etwas Privates. Mit Schloss! Ich werde mit dem Internatsleiter reden. – Passt auf, dass niemand inzwischen was klaut!“ – Sarodnick geht.
„Deine Mutter hab ich gefickt!“, schleudert der Armenier gegen die Tür. Er kommt aus Tbilissi, wuchs auf unter Georgiern, lebte mit seiner Großmutter allein, denn die Eltern waren im VaterländischenKriege gefallen. Jura hat er studiert, als Advokat kurz praktiziert und beginnt „Regie“ heuer zu lernen. „Diesen Fritz, verdammten Scheißkerl, erschlage ich noch!“, schreit er und geht an die Luft, den blauen Schlips knotend, die Kunstlederschuhe sorgfältig hoch über die Knöchel geschnürt und die grau schlendernde Hose knapp unter das verwaschene Sakko geknöpft. Zeitlos sind sie gewaschen – die Jacke, das Hemd und der Binder –, zeitlebens sind die Schuhe gezeitigt, und bloß die Turnhosen wechseln von Jahr zu Jahr, wenn sie mal völlig verschlissen.
Am nächsten Tag ist Samwel mit den anderen schon aus dem Häuschen: Der erste Kurs fährt zum Ernteeinsatz – Kartoffel lesen und packen. Sarodnick dagegen hat inzwischen Zeit sich einzuleben, zu gewöhnen, einzurichten, Vokabeln zu lernen. „Wie gut, dass Monika ist!“ – Bis zum Abend büffelt, ächzt er sich durch und lässt Monika da, wo sie ist – es stehen ausreichend Betten.
„Frierst du nicht?“, fragt er, im Halse das Herz hörend, „unter der anderen Decke allein?“ – Und er streichelt sich ein, fängt das Gesicht und den Mund. Sie liegt wie die Ruhe daneben: „Geschieht es, gescheh!“, erwidert den Kuss, entkleidet von ihm sich die Haut. Martin tastet die Hand in sein Bein und spürt die Gleichgültigkeit bei: ein Mädchen, ein Junge – nah, lustig, lustzagen, lästig. Er hat nichts in den Händen, und Monika wartet aufs Ziel. Er hört seine Brust schlagen, lauter als sonst, und der Schlag wird zum Selbstschlag, schlägt die Lust nieder mit einem, und die Regung regt sich als Schmerz in dem Magen wie ein „Kann nicht“, ein „Ich kann nicht“, wie ein „Breit in dem Mädchen versagt.“ Brutal aber schmälert der Junge es nieder, und gewinnt mählich seine Macht über den Bauch: „Ich dachte, du hättest noch nie … mit einem Mann … – Mit jeder kann ich nun nicht“, beanstandet er und tröstet sich somit erleichtert. Monika weint:
„Einen. Einzigen. Einmal geschlafen.“
„Und doch!“
„Es war eigentlich nichts.“
„Und doch.“ – Sarodnick ist enttäuscht, sitzt auf der Kante vom Bett und wischt ihr die Tränen, wischt große Worte ins Dunkel: „Liebe ist rein. Not opfert den Geist. Verfrüht ist Finden vor Suchen, die Prüfung ist Leid zur Veredlung, die Zeit ekelt in Schnelle – schnelllebig, spannungsverladen –, es ist nur im Bett und ohne Sagen danach. Man schläft Langeweile verborgen … ich verzeihe es dir. Aber wisse es wohl! – Und dann ist noch Petra. Nicht einfach das Stück. Ich kann nicht wechseln wie Hemden; Treue vertrocknet nicht an der Leine so schnell. Alles ist mit dem Wind.“ – Seine Sprüche sind flattrig, gelesen, ohne Bezug in dem Bett, und der Körper des Mädchens entflieht verschämt in die Kleidung zurück. –
Nicht das erste Mal trifft Martin da auf den Kopf. Er kennt die Szenen, die Schlappen, aus denen er das Beste stets macht. Mit sechszehn fror es ihn schon, kroch er unter die Decke von einer Frau, und die Lust ging ihm fix in die Binsen. Nur der Schweiß stand gepanscht auf der Stirn, und er wollte rasch sich verziehen.
„Hast du ein Gummi bei dir?“, fragte plötzlich die Frau, und Sarodnick fiel es wie ein Stein in das Bett: Er fand Gott sei Dank wieder das Wort:
„Nein.“
„Dann lassen wir’s lieber.“
„Ja“ und „hurra“ – ein Jubel ohne Ekstase, aber Jubel trotzdem, ein Motiv für die ungeschehene Tat, für die Nichtfähigkeit.
Später traf er Ilona. Er kannte sie schon aus der Schule, kannte ihren Busen für zwei offene Hände, die Küsse vor ihrer Haustür, die ihn verschlangen, und seine Finger spielten gefurcht mit ihren Beinen daneben. In Leipzig war er ihr wieder begegnet, und ihr Körper stand vor ihm in den Tag, und er nahm sie ins Kino, spürte die Gier neben sich, die sich mit den Bildern der Leinwand synchronisierte, spürte das Bild nicht zu Ende und lockte daher zu sich.
Sie saßen in der Kneipe zur Ecke bei Brause, und Martin beobachtete das Licht im zweiten Stock gegenüber vom Haus. Seine Wirtin brannte noch wach, und erregt stierte er an Ilona vorbei zu den Fenstern: „Verflucht, die Alte findet nicht Schlaf!“ – Nach der fünften Limonade flackerte es endlich und löschte, und die beiden schlichen ins verbotene Zimmer hinauf. Martin nahm einen Likör aus dem Schrank und reichte den Trunk genau unter der Lampe dem Mädchen. Der Plan spannte sich auf, und Sarodnick drehte schnell an der Birne. Im Dunkel suchte er Schutz und versteckte Ilona ins Bett.
„Und weiter? – Diese Brause! – Ach, küssen, streicheln die Lust.“ – Er fühlte die Patsche in ihr, setzte sich zu, kramte im Handeln – schnell musste es gehen! –, tat so, als täte er ob, und die Kälte lief ihm über den Rücken. Ilona ließ sich gewähren, eine Erfahrung bediente sich ihr: „Dieser Kerl hat mit vielen geschlafen.“ Doch der Kerl stand nicht da wie ein Kerl, überlegte zu viel und verhedderte sich weiter im Stecken. Plötzlich warf er verzweifelt den Schuh, lauschte sich eine Frist: „Die Wirtin ist wach!“ – Einen Moment verharrte sie heiß, schmiegte sich schnell dann wieder an ihn und suchte die Form in der Hand. Wieder schleuderte er den Filz gegen die Tür:
„Die Alte!“ – und er zog sich was drüber. Ilona verstand nicht, schüttelte den faulen Trick von sich ab, fand sich zerknittert, erniedrigt. Die Wirtin trat ein.
„Eine Kommilitonin“‚ stellte Martin sie vor. „Sie kam ein Buch holen, mehr nicht. Indes, sie wollte dann bleiben – wegen der letzten Straßenbahn…
die ist nun schon weg.“
Die Hausherrin drohte mit Polizei, und ihr Nachthemd wehte beklemmend: „Besoffene Weiber bei mir! Ich kündige ihnen … unmittelbar … auf.“ – Verbraucht, ungebraucht heulte Ilona in ihrer Wohnung und schrieb zehn Seiten Abschied an Martin. Er hatte sie nicht mehr gesehen.
Linda, Frederike, Elke – die noch unberührt war und weinte ganz nackt: „Ich habe so Angst“, – und Sarodnick weinte mit ihr: „Dann lieber nicht.“ – Zufrieden teilte er ihren Dank. Petra, Monika … Sie rauchte. Martin strich ihr über die Haare, balancierte über die Sprache und setzte sich hart in die russischen Sätze, die anders sich setzen als seine, die weniger kalt, die verschiedene Worte für gleiche Begriffe sich nehmen und nach den Gefühlen klar unterscheiden. Eine Sprache, die nicht verallgemeinert, sondern verstreut, die sich in Räumen bewegt und wenig im Transzendenten, die Blutwärme hat, Traufe, ein Nest. „Sie klingt wie die Sinne.“ – Es ist eine Sinnlichkeit tief, reifend, beschreibend, und die Träger sagen mehr, was sie empfinden und weniger, was sie gedacht, sagen es geradeheraus, direktweg zum Du, wie ein Hinüber ins andere, über andere, Äußere, ohne Vermittler und Eigen. Die Gefühle genieren nicht mehr, schämen nicht Worte zu machen daraus, die für Sarodnicks Sprache abgenutzt schienen, abgegriffen, unsagbar, nicht wiederzuholen, banal. Und mit Genuss lernt er diese neue Sprache, den Ursprung, von klein sozusagen, wo alles frisch, neuwertig, fremd, wo man vorbeigeht und fragt: „Was ist das?“, und man antwortet nur: „Ein Garten“ –, und das Wort ist hier noch sehr rein, festgewachsen im Beet, ganz konkret „so und nicht anders“, das Wort schaut aus dem Gegenstand raus. Wenn alsdann jemand ein anderes Haus, einen anderen Garten ihm zeigt und sagt: „Das ist ‚Garten‘“, ist er verblüfft, ist es wie ein Missgriff für ihn, ein Ausrutscher, eine zweite Liebe, die kurz war und nur so heißt, um irgendetwas erklären zu müssen oder um eben gar nichts klären zu müssen. Leicht sind die Phrasen, die Schemen, die Schilder; man passt sich hinein und stopft Fragen mit falschem Bewusstsein. Indes war jedes Wort doch ein Ding, jedes Ding war ein Zeichen und jedes Zeichen ein Graufleck auf Karten. Sarodnick hat in seiner Sprache über Gefühle wie in einer Geschichte gelesen, als Bezug über Gedanken, weislich gehütet, und im Leben fand er sie fad, wertlos, unoriginell. Oder lag es nicht dort? Hat er bloß nicht sprachlos und sprachlich gefühlt? „Ich liebe“ war abgerückt und verloren. „Liebe“ in der neuen Sprache hingegen ist neu, nicht wirklich, noch nicht erfasst wie ein Haus oder Garten. Sie wächst nicht und schmeckt, sie ist kein Schulfach für Martin.