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Die Großmutter nahm sich des Waisen an mit dem Wink von dem Freunde: „Für immer auch mein.“ – Tretin wuchs dem Alten ans Herz – hatte er doch seines – und mit ihm seinen Sohn – im Kriege verloren. Er „bemutterte“ ihn, ließ ihn rufen, prüfte die Arbeiten in der Schule und übergab ihn überdies den alten Erziehern, den alten Lehrern, den alten Genossen: Blieben diese doch ihrem glücklicherweise nicht vorzeitig „entlarvten“ Meister treu bis ans Grab und auch darüber hinaus.
Tretin fiel dadurch die Freude in seinen zu kleinen Schoß: Er bekam bessere Noten, bessere Kleidung, bessere Nahrung – er war ein Kind mit „vorbildlichem“ Vergangenheitsgrad. – „An Vaters-Statt“ nahm Kuleschow ihn ins Filminstitut, anstatt und an Statt – staatlicher Aussteuer-Statt. Und Tretin hielt die Klinke von Lews Wohnung in seiner eigenen Tasche. Das wissen alle im Institut, das nutzen viele, das nützt einigen auch: „Jakob, nimmst du mich zum Professor nach Hause mit?“ – „Was hat der Professor gesagt?“ Tretin lässt es sich auskosten im Munde. Jedoch Martin schmeckt das nicht sehr: „Was geht mich deren Vergangenheit an!“ –
„Was meint die Gruppe dazu?“, fragt Kuleschow. Und der Kurs ist gegruppt und gespalten: „Von wo weht der Wind eigentlich?“ – „Ist es nicht gut Kirschen essen dabei?“ – „Ist es rot?“ – „Eine Ampel?“ – Samwel steht auf:
„Ich bin zehn Jahre in der Partei und fresse mit Sarodnick an einem Tisch. ‚Antisowjetisch‘ – ist doch eine Fatz. Martin ist, wie er ist, und wie die meisten von uns. Der hat es im Kasten, sabbelt, wie er einfach so denkt und ist Kumpel und Kimme. Ich bin sein Freund und lege meine Hand ins Feuer für ihn. ‚Antisowjetisch!‘ – dass ich nicht lache. Tretin soll seine Worte vorsichtig wählen! Ich warne dich Zapp!“, wendet er sich an den Verräter. „Das Kollektiv bist nicht du, das Kollektiv bin ich und die anderen.“ – Tretin ist in seinen Holzsitz geklappt.
„Das, was Samwel sagte, kann ich nur noch bestätigen“, nickt Ljuba, die Lehrerin Ljuba, deren Mann und ihr Kind in Woronesch blieben und mit Ungeduld duldend warten auf sie. Ljuba, die jeden Morgen leise klopft an die Tür, auf die Bettkante zu Wowa sich setzt und ihm zart unter der Decke auf und ab streicht: „Wowotschka, du musst jetzt aufstehen, mein Kater.“ – Diese Ljuba knüpft eine neue Schleife in ihre Bluse, und ohne aufzusehen, sagt sie: „Das ist die Wahrheit!“ – André der Gruppenälteste, dreht sich zwei Meter in die Luft und saugt diplomatisch daran:
„Herr Professor, ich glaube, das ist alles ein großes Missverständnis. Jakob hat, seiner Jahre wegen, einfach nicht den Hintergrund, den eigentlichen Sinn in den Späßen, in den ironischen Äußerungen Martins begriffen.“
„Damit wäre die Sache abgeschlossen“, wischt der Professor die Unannehmlichkeit von dem Katheder, und mit einem Blick zu Tretin fügt er hinzu: „Mit Jakob red’ ich später noch selbst.“ –
„Die hätten dir ganz schön die Eier gebraten!“, meint Sjoma am Abend zu Martin. „Und das mit der Tschechoslowakei – behalte es lieber für dich“‚ ergänzt Wladimir. „Prag liegt zu weit weg, um es von hier richtig sehen zu können.“
„Mein Vater hat persönlich Dubček gekannt“, sagt plötzlich Wasili und drückt sich seine Locken zurecht.
„Dein Vater ist in der Partei?“, fragt Sarodnick neugierig den Bulgaren. „Sein Vater ist die Partei“‚ antwortet Sjoma. „Er hat im Politbüro sein Büro.“
„Sie haben auf der gleichen Schulbank gesessen“, erklärt Wasili‚ „auf der Parteihochschule in Moskau.“
„Die gleiche russische Küche und auf die gleiche russische Bank – für ihre Dienste den Lohn“‚ lacht Sjoma.
„Aber sie haben daraus nicht die gleichen Lehren gezogen“‚ ergänzt Wladimir schlau. „Die eine war kurz, die andere tief.“
„Alle zehn Jahre rückt er weiter nach oben“, glossiert der Armenier die Karriere von Wassilis Vater. „In dreimal zehn Jahren hat er nur noch unter sich einen winzigen Rest von den auserwählten Gesalbten: dreimal gewünscht, dreimal darfst du raten, dreimal geht es in die Hosen. Es hängt an der einmaligen Höhe, und die hängt bis sie fällt – die hängt, bis sie henkt. Sein Vater hofft auf das Letzte. Er will in den Himmel.“
„In dreimal zehn Jahren ist sein Vater dort, wo sein Banknachbar stand“, unterbricht ihn Wolodja.
„Vielleicht. Aber die Überlebenden leben heute sehr lange“, widerspricht ihm der andere.
„Zu Hause bei uns klebt ein Foto im Schrank“, erzählt Wasili weiter, „die ehemalige Klasse des Vaters von Moskau: In der vordersten Reihe, Seite an Seite, sitzen mein Vater und Dubček.“
„Es war nicht die richtige Seite gewesen“‚ weiß Samuel jetzt.
„In Moskau waren sie das allererste Mal zusammen, und auch das letzte Mal war es in Moskau gewesen. Das war Jahre danach.“
„Vor dem letzten Tag Dubčeks“, ironisiert der Armenier.
„Sie saßen da noch vor kurzem in Moskau hart auf der Bank, alle gemeinsam, die Genossen. Mein Vater sagte zu ihm: ‚Wir sind doch Freunde gewesen!‘ – Dubček sah sich um und fing an zu … weinen. Von den Bänken tröstete man ihn. ‚Wir sind das letzte Mal Freunde gewesen!‘“.
„Danach hat er ihn nie wieder gesehen.“
„Siehst du, Fritz, so schnell kann das gehen! Einmal probiert und dann in die Sterne gerotzt. Und du willst im Institut Vorträge halten! So etwas ist für die Fotz. Nimm dir ein Mädchen und schlaf mal darüber!“
„Ein Mädchen? Als wäre das hier bloß so einfach.“
„Du Klöppel bist natürlich verwöhnt. Bei euch lassen ja auch die Kinder schon an die Möse.“
„Na, na.“
„In Europa nehmen die kleinen Mädchen bereits Pillen“‚ bestätigt Wasili. „Was heißt ‚kleine Mädchen‘?“, fragt Martin.
„Dreizehn, vierzehn, fünfzehn usw.“‚ sagt Sjoma.
„Das glaube ich nicht“‚ zweifelt Wolodja.
„Oh ja! Ich leg dir die Eichel unter den Hammer. Da findest du garantiert keine mehr, die Jungfer noch wäre.“
„Ganz so schlimm ist es nicht“, streitet der Bulgare. „Samwel übertreibt wieder wie immer.“
„Meine Fresse! Übrigens, Fritz, erzähl doch mal! Bei euch gibt es jedes Jahr im Frühjahr ein Fest.“
„Hm. Und?“
„Und? – Da werden die kleinen Schnecken geknackt. Alle vierzehnjährigen Mädchen springen über die Klinge. Stimmt doch?“
Sarodnick wird rot, stottert, lacht hilflos und spürt die Augen auf sich gerichtet: „Na?“, fragen sie, und „Das kann doch nicht sein!?“ – Was soll er ihnen nur antworten? „Es gibt bei uns sicher für die Kinder, die die achte Klasse beenden, eine Feier …“
„Na bitte!“
„Nein! Das ist so eine … das ist die Konfirmation.“
„Was für Zeug?“
„Oder auch Jugendweihe.“
„Was hab ich gesagt? Weihe. Sakrale Weihe, wie zu vorchristlichen Zeiten: Das Mädchen wird dem Schwanze geweiht.“ – Und Sarodnicks abwehrende Worte verschlucken sich unhörbar im lauten Gelächter.
13
Beides hatte Martin damals gewollt, wünschen müssen unter Nachhilfe und Druck: Konfirmation für die Eltern und für das Dorf, die Jugendweihe jedoch für die Schule, für seinen Lehrer, der geradeheraus ihm erklärte: „Ohne Weihe – keine Oberschule, und ohne Oberschule – kein Studium.“ – Damit hatte man ihm freilich die Unschuld genommen, die Unschuld der freien Entscheidung, das, was vor der Vergewaltigung steht.
Die Bibel und „Weltall, Erde, Mensch“ schenkte man ihm: zwei Bücher – für jede Hand eins, für jeden Glauben einen Titel oder für den Nicht-Glauben eine Erklärung. Als Vorhang oder als Fortsetzung las sich die Heilige Schrift als ein hinter dem Weltall, ein „Was kommt nach dem Buche der Erde und unseres Alls“. – Sie war Strenge für Martin, schwarzer Ornat, war weiße Gesichter und auswendig gelernte Gesänge. Die Konfirmation indes war das Dorf, die Isolation, war das Ghetto der Religion.
Manchmal hörte man hinter dem Altarraum Gelächter, das aus den Ruinen kam, welche die Kirche – die selbst fensterlos, turmlos, mit abgeschlagenem Haupte – umgaben, umtrauten, trauerten, den Krieg beschworen und „Gott bewahre“ noch schrien. Dieses Lachen war ein Schieflachen also, eins aus den Trümmern, in denen die Stadtkinder Tabak verteilten und Seiten aus ihren Heften fetzten, um sich Zigaretten zu drehen. Zu Hause sagten sie „Religionsunterricht!“, hier aber starrten sie in die Asche, die glühte, verschluckten das Husten, und ihre Augen warteten auf das Wunder.
Zwei Mal in der Woche, zwei Mal Gottesdienst mit ängstigen Fragen, die oben hängenblieben im dritten Gestock, im wurmkränkelnden Gestühl, das knarrte, wenn man dranstieß. Unten freilich saßen bloß die Dorfkinder in der Buße, Kinder mit Eltern, die von früh bis abends auf den Feldern rackerten, die wussten, dass es zu Essen nichts gab, wenn die Ernte verreckte. Wer könnte da schon helfen, wenn nicht der liebe Gott? Wer könnte die Arbeit verfluchen, sonntags und feiertags und abends und nachts? Und wer könnte verzeihen und die Verzweiflung nehmen und geben und nehmen und weinen und wissen, dass jemand einem zuhörte, wenn die Eltern schon nicht, die abgenutzt, Ohren verschlossen, und verschlissen die letzte Kraft gaben für Schläge, um den Ärger irgendwo in die Ecke zu werfen? Die Schuldigen saßen zu weit. – Zwischen diese Kinder, zwischen Dorf und die Stadt, zwischen Arbeit und Tun, zwischen Demut und Trotz hatte sich Martin gesetzt. Er fuhr die fünf Kilometer in die Schule und nur in die Schule, denn für mehr, für Freundschaften, für Spaziergänge war die Stadt für ihn Ende der Welt, „für den Hund“, unrückbar, unreichbar, und selten gewährte man ihm den längeren Atem dorthin. Immer war es nur ein Moment, ein Blitzmoment, ein Sprung, ein „Satz“ und geschafft. – Das Dorf lag näher gewiss, aber für Martin war es noch weiter, um in sein Leben zu greifen: Andere Kinder, andere Fragen, andere Welten wuchsen da drin. Er wohnte dazwischen, war Zwischenkind – mitten hinter dem Walde, mitten hinten und vorn. Sein Vater war Lohnarbeiter, seine Mutter und Großmutter waren Bauern, das machte zusammen einen schönen Arbeiter- und Bauernsohn wohl. Wäre es bloß so einfach dieses Gemisch aus Eigentum und geeignet fürs Schuften! Der Bauer gab dem Arbeiter Fressen, und am Sonntag gingen beide zur Kirche. Ein Rucksackarbeiter war der Vater, und auf dem Rücken hatte er immer etwas in stiller Reserve – kein Arbeiter also, kein echter, keiner nach Marx, denn er ging freiwillig in die Fabrik. Aber auch kein richtiger Bauer, denn zwei Kühe machten die Sahne nicht fett. Dafür waren die Brotstullen dicker, und der Sohn lief zum Religionsunterricht – wie alle im Dorf. In diesem Punkt war Martin also das Dorf, im anderen hingegen standen die Jugendweihe und die Arbeiterluft. Martin schnüffelte an beiden: Fuhr zur Schule in die Stadt und war nachmittags auf dem Feld, ging in die Kirche und ebenso zur neuen Aufklärungszunft.
„Weltall, Erde, Mensch.“ Da gab es Filme und Exkursionen, und da besuchte man das Hygienemuseum mit mahnenden Worten: „Wer onaniert, dem steigt es zu Kopfe! Oder: Wer onaniert, dem bläst es den Geist aus, und er wird demzufolge ein Blöder. – Finger davon!“, sagte der Leiter, „das könnte ins Auge gehen und tiefer.“ – Und die Kinder schauten sich in die Augen und suchten darin zu begreifen, wer unter ihnen ein Blödian wär’.
Im Frühjahr reisten die Kinder nach Weimar zu Goethe und Schiller, während Nietzsche stillschweigend im Grabe verblieb, grabstill, ohne ein Wort, denn bestimmt hat so einer auch nicht gelebt, hat vielmehr den Geist sich überschnappen lassen von der Un-Onanie, vom Gar-nicht-geliebt oder doch von Onanie auch: Sich ruiniert in dem Kopf von der Sich-Liebe, vom „Immer nur begatten das Ich“. – Darüber aber sprachen sie nicht, diese Kinder, die sich aufklären ließen von deutscher Klassik und vor Goethes Ei im Gartenhaus staunten. Von Weimar chauffierten sie zu Fichte und ins Weltplanetarium nach Jena. Das war eine Kugel in Weiß, oder eine Halbkugel besser, ein zerschnittener Globus, in dem die Bänke drum herum ellipsenförmig aufgestellt waren. Die Kinder starrten auf die Decke, warteten auf die Erscheinung, dass die Tünche zerfließt und der Globus zerplatzt. Ziemlich dicht saßen sie, waren erregt, und auch Angst spielte dazu, als das Licht schnell verlosch und lange nur Dunkelheit herrschte. Eine Hand fasste plötzlich Martins, ein Mädchen drückte sich enger an ihn, suchte die Augen und suchte den Mund. Die Sterne kreisten um ihn, und die Schatten zogen über Gesichter, die hinauffuhren in Monde, in Milchstraßen – ins All. Martin hatte die Lippen des Mädchens, hatte seine Zähne im Mund, sah die Sterne in seinen Haaren, auf seiner Brust, und er tastete in die Sonnen, berührte die Wangen, spielte zu den Himmelskörpern hinauf. Aufgerührt spürte er den Kosmos in sich, griff in das All, das mählich sich drehte, und die Lichtpunkte flohen und flossen ins Ich. „Nicht gehen!“, flüsterte sie, „ich halte sie fest.“ – Und Martin nahm die Sterne, saugte das Licht zwischen das Dunkel und atmete es gierig in sich. Schmerzhaft erschrocken rauschte es hin. Ihre Hände glitten herab, er küsste ihre Brüste im Wall, und seine Finger fanden die Bahnen in Gräben. Das Blut rann auf der Lippe, die Hände klammerten, öffneten die Gestirne und ließen die Freude, steigen ins All, in die Unendlichkeit, in den Fluss, in den Sprung, in das Nichts. –
Das Kreisen wurde ein Karussell, die Lichtfetzen jagten die Bahnen, und zwei Sterne stürzten in eins. Das Mädchen schütterte, taumelte, das Beben lief wie eine Schlange zu ihm, kehrte im Kreise, zog über die Erdwelle hin. Fasern spannten in Lust, und die Hände glitten am Ende ins Zittern, ins Herz mit dem Schlage aus Glut. Er ergoss in die Wonne, lief über die Arme, mischte sich mit den Sternen – wurde zum Milchstraßenfluss. – Hernach erloschen sie alle, das Kreisen beschloss, der Globus wurde zur Decke, und die Decke zum Kalk. Man rieb sich die Augen, die Lampen schmerzten darin, man suchte zu kennen und verzagte vor Mut. Sie war Ricarda, mit Lippen, die rot-schwollen waren. „Martin“, sprang es von ihnen, „ich fühl dich im Fuß.“ – „Du hast Sternschnuppen im Kleid“‚ sagte er und war für lange entsprungen. –
Später traf er sie wieder – am ersten September, am Tag, als für ihn eine neue Schule begann: Ober-Schule, ein Gymnasium für heute, eine Schule für die, die besser waren als die anderen, besser nach Meinung der Lehrer, nach Meinung der Zettel, die man zweimal im Jahre verteilte. Eine Belohnung war es, und die zog über vier Jahre sich hin, eine Standleiter, die von Grundschule, Mittelschule, Oberschule bis zur Hochschule sich streckte. In die andere Richtung aber wäre nur Sturz, wäre ein infantiles Geheule. Nach acht Klassen waren es vier für Sarodnick noch in der oberen Schule – angesammelt, gesiebt, geordnet aus den vielen mittleren Schulen im Kreis. Ein kleines Häufchen sammelte sich zum Viellernen, Besserlernen, Vergessen. – Unter ihnen saß auch Ricarda aus Neudorf. Neudorf, weil neues Dorf, und neues Dorf hieß ein Ort mit einer schon vor Jahren geschaffenen Genossenschaft für die Bauern, war so viel wie Vorreiterposten, eine Aktivistengemeinde, ein Voraktivist. Ricarda Kaiser war das Kind vom Vorsitzenden dieser Genossenschaft, der ein Abkommandierter vom Landwirtschaftsrat im Bezirk war, der den rückgewandten Bauern der anderen Dörfer auch vorführen konnte und vor allem sollte, was Zukunft hieß und was ihre Stunde geschlagen. Aus diesem Grunde konnte seine Tochter auch nur eine Jugendweihtochter sein – ohne dieses Halbe und Halbe. Noch dazu damals in diesem entscheidenden, in diesem wichtigsten Jahr, als der Sturm auf die Bauern anhob, als der Auszug der Vorposten begann und zum Einzug der Noch-Besitzer ins Allgemeinwohl und Habenichts Stadium führte: Die Proletarisierung der Bauern, das vollprozentige Genossenschaftsdorf nannte es sich.
Ricardas Vater streifte durch Lande, rührte kräftig die Trommel, redete Stunden, zerredete Nächte, hob warnend den Finger, die Fäuste, gab zu denken, zu schenken: Den Ersten kam er mit Autos, den späteren mit Zement und mit Schlachtscheinen – die Letzten bissen die Schweine. Auch in Martins Dorf, in Sorbwinkel war Vater Kaiser gewesen – bei Metaschk, bei Paulik, bei Petschick, bei Sarodnicks in dem Haus und agitierte, propagierte und drohte. Seither kannte man ihn nicht mehr, wollte man ihn nicht mehr sehen und hören, sagte: „Was mischt der sich hier bloß ein!“ – Martins Mutter hatte schnell ihre Kühe verkauft, hatte sich verkleinert, verwinzigt von sechs Hektar auf ganze drei Morgen, wurde vom Bauern zum Groß-Schrebergarten-Besitzer. „Schuld hat die Kolchose“, schimpfte sie, „die LPG, der Fortschritt, der Kaiser.“ – Zwar kam man gerade noch einmal herum – von dem Genossenschaftlichen, von dem Gemeinen – , aber zurückblieb der Bauer, zurück blieben die eigene Milch und die Butter, blieben die fetten Jahre, der Acker, der 16-Stunden-Tag und das Jahr ohne Urlaub. Martin wurde zum Arbeiterkind, zum ganzen, zum echten, ohne Geruch von Sahne im Haar. — Ricarda jedoch war stolz auf den Vater. Die Schlacht war gewonnen, der Staat 100-prozentig – ein Volk, eine Gemeinde –, und der Bauer eingegliedert ins Wohl und Wehe für alle. Ricardas Vater schritt ganz vorne mit an. Martin indes verfluchte die Tochter oder schämte sich wegen der verlorenen Sterne.
So oder so, er ging ihr aus dem Wege, obgleich sie in derselben Klasse saßen und lernten. Er konnte den Vater ihr nicht verzeihen oder ihren Fortschritt, ihr Weiter-Sein, ihre Überlegenheit in den Fragen – „In welchen eigentlich denn?“ –, in Fragen der Liebe. Martin spürte es, fühlte, dass sie ihn mochte, möchte für immer, für lange, für mehr – für das ganze Milchstraßensystem. Allein, er hatte ihr nur die Furcht zu bieten und ein wenig seichtes Gesabber und kaltes Gelächter dazu: Einer, der nimmt sich selber nicht ernst. Er ging seiner Wege, Umwege, um sie weit herum und sah vier Jahre ihr nicht mehr direkt in die Augen. Ab und an nachts wohl, wenn er träumte, wenn der Stoff haftete am Leib, und er am Morgen sich abwusch vom Schleim, spürte er sie: ein grausames Spiel – Spielverderber, verdorbenes Ei. Vier Jahre. Beinahe.
Einmal noch, in der Hälfte der Zeit drang er in sie ein, verstohlen, wie ein Dieb, in ihre Wäsche, in ihre Gedanken: Er hielt ihr Tagebuch in den Händen, wollte lesen, blätterte drin. Seinen Namen konnte er entzifferte, und der Kopf tat ihm weh – das Kreisen wie damals begann, die Nacht, das Zeitlose, das All. Dann war sie plötzlich in die Klasse getreten, berührte ihn, sagte irgendetwas und suchte den Blick. Der aber war in dem Absatz, im Wegfall, mit Augäpfeln ganz weiß und Erschrecken. Roh stieß er sie fort, und das Buch fiel schreiend zur Erde. – Martin wurde daraufhin, als Konsequenz und wegen sträflichen Verhaltens aus dem Schulensemble ausgeschlossen, erhielt einen strengen Verweis, und sein Name wurde ausgehängt in der Halle wie vor dem Richter: „Sarodnick, Martin – ein Dieb!“ – Ricarda hatte sich beklagt und geklagt: „Der dort hat mir die Tasche gestohlen!“ –
Endlich aber war da noch einmal ein kurzes Aufblitzen, ein Zusammenstoß, ein „Noch-einmal-Vergessen“. Das war kurz vor dem Abitur, vor dem letzten, vor dem Auseinandergehen für immer. Ricarda sollte Nachhilfestunden in Mathe bekommen, und der Lehrer bestimmte Martin dafür. Seltsamerweise. Obwohl Sarodnick in Mathematik nicht schlecht gewesen, gut, vielleicht sehr gut war. Aber warum er, warum ein Junge, warum überhaupt dieser Kram? Doch es gab kein „Nein“ und kein Aufbäumen: Vor dem Abitur hielt jeder das Maul, „bloß durchkommen“, „Glück haben“, „nur nichts verscherzen!“ – Sarodnick nickte und ließ sich seine Arbeit diktieren. Drei Mal lief alles recht gut. Sie lernten gleich nach dem Unterrichtsschluss, und sehr viele Leute rumorten auf den Korridoren laut. Martin streifte nicht seine Hemmungen ab, das ist, seinen Humor oder, besser, seinen Sarkasmus, streifte nie seinen Blick ab von der Tür und ließ sich die Zeit abrollen in bloßer Routine. Eines Tages freilich konnte Ricarda nur am Abend erscheinen, und ihr Vater sollte sie dann abholen um elf. – Leicht erhitzt betrat Martin die Klasse. Die Sonne stand schon tief, und wie ausgebrannt wirkte die Schule. Ein Windlächeln drückte von außen ins Fenster, und Ricarda spielte im Haar. „Es ist heiß“, sagte sie. „Früher haben wir bei so einem Wetter Hitzeferien bekommen.“ – Aber nun waren sie Abiturklasse, und niemand gab ihnen frei. „In vierzehn Tagen ist alles vorbei“, antwortete Martin lässig. „Dann machst du sowieso, was du willst.“ – Und der Sinus huschte über die Tafel, die Kreide zeichnete auf der Haut und fiel mehlig auf die nackten Füße von ihm. „Wir müssen nochmals Kurven berechnen!“, versuchte er besonders wichtig zu sein. Wenn nur die Sonne noch bliebe und der Abend noch einen Tag währte – vor dieser Nacht! Draußen heulte ein Motorrad laut rufend auf, und Martin erhob seine Stimme. „Da könnte man singen.“ – Der Schwamm schmierte trocken über die Tafel. Man müsste ihn waschen, man müsste alles neu wischen, saubermachen, wieder ins Reine bringen. Drunter auf der Tafel tauchten die Konturen des Vormaligen auf: „Man sollte wenigstens einen Lappen hier haben. Die alten Kurven erscheinen, verwirren das Bild. – Verdammt, es ist schon zu dunkel. Aber kein Licht! Das Geschmiere – kein Licht! Ich sehe, was du nicht siehst …“
Und Ricarda war still, sagte etwas später bloß: „Ich setze mich näher, von hier sehe ich nichts.“ – Doch „Licht“ sagte sie nicht. „Das hat sie vergessen. Vielleicht haben sie in Neudorf auch keins? Nur Kerzen. Oder liegen um diese Zeit schon im Bett. – Quatsch! Ein Dorf ohne Licht! Außerdem hat ein Vorsitzender alles. – Noch einmal von vorne! Von Anfang. Wir waren bei Minus …“, reflektiert Martin.
„Du hast Kreide im Haar“, meinte sie plötzlich, und Martin verhaspelte sich, schluckte Mut und schielte auf ihre Stimme. Ihre Zehenspitzen drückten sich ab, und ein Mund hauchte ihm Wärme ins Ohr. Sie knickte ein in den Knien, lachte: „Ich bin wohl zu klein“, und Martin hielt ihre Schultern im Arm. Schatten gerannen, die Helle machte sich rar, und auf den Boden glitten zwei Rücken. Ihr Hals beugte sich zu den Lippen, und von der Tafel sprangen die Kurven ins Kleid. Haut suchte Kühle, sprengte die Hülle, wollte die andere Haut reißen an sich, und die Finger spielten im Hirn. Eine Öse rollte über die Dielen, und er spürte das Heiße, spürte die Beine an ihm, fühlte das Vibrieren unter dem Nagel, benetzt von dem Haar. Herzschläge zerrten in ihm, Hochschläge und Auffall – ein leichtes Rauschen im Sinn. Es verlangte Unendlichkeitsgründe, wünschte den Abgrund, die Metamorphose, begehrte das eine: über in sie. – Ihre Füße krümmten sich weg, legten sich breit. Martin ging über Nacktes, über den Leib, und das Mädchen strebte zu ihm. „Nein!“, löste sich überströmend sein Schrei in die Angst, und der Sinn sickerte ihm über den Boden – dem Mädchen zum Trotz. – Sarodnick suchte den Schwamm, suchte das Du und fand sein eigenes nicht. Fluchtträchtig entleert in der Hoffnung, hatte das Mädchen auf den Falschen gesetzt.
Draußen aber heulte wieder dieses Motorrad, und die Schläfe litt von dem Klang. Ein Vater schaute nach seiner Tochter, und in dem Zimmer brannte kein Licht.
„Ach guten Tag, Herr Kaiser! Wir sind gerade fertig.“ – Doch fertig war Sarodnick bloß, und Ricarda fiel durch das Mathematikabitur. Die Schuld war wohl in den Sternen verwirkt.
14
Im Frühjahr reist Petra nach Moskau. „Oh, endlich!“ – Sarodnick wird ihr die Stadt zeigen, den Kreml, die Universität, die breiten Boulevards. Doch Martin kennt die Stadt nicht, kennt die Straßennamen nicht, nicht die Plätze, die Vororte, die Museen – er sollte anfangen bei null: „Hier ist null. Siehst du von weitem die Stellen hinter dem Komma? –
Ein Buch sollte ich kaufen. Drei Tage Moskau, von hinten bis vorne, auswendig lernen und hinbeten zum Staunen: ‚Wie viel hat der doch gelesen!‘ Ein Buch – drei Tage für Petra, im Frühling in Moskau. – Was habe ich nur die übrige Zeit angestellt? Studiert bis in die Nacht und gedacht, das Internat stände mitten drin in der Welt. Mit Monika hätte ich die Gegend abfahren sollen. Aber von Monika lieber kein Wort, kein Wort an Monika für die paar Tage mit Petra!“ —
Mit Wolodja holt Sarodnick Petra vom Flugplatz. Der Freund ist besser im Bilde.
„Das ist übrigens …“ Sarodnick drückt Petra ungeschickt mit dem Mund auf den Mund. „Wie schön!“
„Guten Tag, Petra!“, artikuliert Wiadimir geschickt. Er hat Deutsch in der Schule gelernt. „Und das dort ist ein Denkmal, Panzer-Stopp. Hier waren Deutsche – bis hier.“
„Oweia! So weit? Man kann von hier Moskau schon sehen“‚ ist Petra überrascht. Normalerweise sieht sie Moskau von den Ansichtskarten nur, die Martin ihr schickt, formt dieses Land aus den Albträumen des Vaters einst und der vielen Väter daheim.