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Insofern man die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als eine Art historischen „Schlussstrich“ des sogenannten „deutschen Sonderwegs“ auslegt, erweist sie ihre Relevanz auch für das hier erörterte Thema. In seinem 1990 veröffentlichten Buch „Volk ohne Zeit“ stellte Lothar Baier folgende Behauptung auf: „Die Berliner Mauer, obgleich ein Erzeugnis des Kalten Krieges, wurde von vielen, bewußt oder unbewußt, als ein Bauwerk wahrgenommen, das in einem unbestimmten Zusammenhang mit Auschwitz stand, jedenfalls ein Symbol der fortdauernden und im Hinblick auf die Schwere des Verbrechens nicht übertriebenen Bestrafung akzeptiert werden konnte“. Seit der Nacht der Maueröffnung und angesichts der „bevorstehenden Lösung“ der historischen „deutschen Frage“ erübrige sich jedoch die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit: „Keine Klage mehr über verpaßte historische Chancen und verhängnisvolle Sonderwege“. Das, so will es scheinen, war des Pudels Kern: In der Tat stellte sich die DDR den deutschen Linken seit jeher vornehmlich als eine opportune Fläche für die Projektion der aus der deutschen Vergangenheit zu ziehenden historischen Lehren dar. Als nun aber diese Lehren gleichsam objektiv „revidiert“ wurden, als sich unzweideutig herausstellte, wer als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen war, kurz, als sich der ostdeutsche Staat (aus „eigenem Willen“) in vermeintliches Wohlgefallen auflöste, wurde der politischen Linken das Wenige, das sie noch hatte, weggenommen: die Projektionsfläche, deren sie sich bei ihrer zukunftslosen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedient hatte. Dies verwundert keineswegs, denn nachdem sich die ehemalige Neue Linke (die in ihren außerparlamentarischen Glanzzeiten noch sehr wohl zu begründen wusste, warum man vom Faschismus zu schweigen habe, wenn man nicht vom Kapitalismus reden will) etabliert und in ein rosa-grün linkelndes Konglomerat verwandelt hatte, gliederte sie sich nicht nur alsbald ins Lager der deutschen Sozialdemokratie ein, sondern richtete sich insgesamt recht komfortabel im kapitalistischen Establishment der Berliner Republik ein. Nicht von ungefähr meinte denn der Publizist Ulrich Greiner, etwa zwei Jahre nach der Vereinigung, lakonisch, die deutsche Linke gäbe es nicht mehr.
Somit war auch die weitere Beschäftigung mit dem, was den anderen Aspekt des vorliegenden Buches ausmacht (die historische Genese der politischen Kultur der Deutschen in der Moderne) insofern obsolet geworden, als man sich nicht mehr mit „verhängnisvollen Sonderwegen“ zu befassen hatte. Die Auseinandersetzung mit dem autoritären Charakter, ein zentrales Moment der in diesem Buch offerierten Diagnose dieser politischen Kultur und des sich von ihr ableitenden antirevolutionären Sonderwegs, war schon in der Nachkriegszeit – im Wirken der Frankfurter Schule, der Politpraxis der Neuen Linken und durch den kritischen Impakt, den sie auf die öffentliche Sphäre der alten BRD ausgeübt hatten – sozusagen abgehandelt worden, konnte mithin abgehakt werden.
Stimmt das so? Können die im vorliegenden Band herausgearbeiteten und erörterten historischen Strukturmomente ad acta gelegt werden? Das kann und soll hier nicht beantwortet werden. Denn die Beantwortung der Frage nach Kontinuitäten der modernen deutschen Geschichte, nach subkutanen Erbschaften, nach überwunden Geglaubtem und tatsächlich Aufgehobenem bedürfte einer eigenen komplex-diffizilen Forschung, eines eigenen Buches.
Moshe Zuckermann
Mai 2021
»[…] Franzosen und Briten sind von Natur
Ganz ohne Gemüt; Gemüt hat nur
Der Deutsche, er wird gemütlich bleiben
Sogar im terroristischen Treiben.
Der Deutsche wird die Majestät
Behandeln stets mit Pietät.
In einer sechsspännigen Hofkarosse,
Schwarz panaschiert und beflort die Rosse,
Hoch auf dem Bock mit der Trauerpeitsche
Der weinende Kutscher - so wird der deutsche
Monarch einst nach dem Richtplatz kutschiert
Und unterthänigst guillotiniert.«
Heinrich Heine
Einleitung
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der historiographischen Rezeption der Französischen Revolution im deutschen Vormärz. Sie berührt somit einen bestimmten Aspekt jenes umfassenderen Themas, das die Beziehung der Deutschen im 19. Jahrhundert zur Revolution als einer Möglichkeit wirklicher politischer und sozialer Veränderung zum Inhalt hat. In diesem Sinne wird Frankreich und Deutschland eine paradigmatische Bedeutung zugeschrieben, derzufolge Frankreich als Archetyp eines Revolutionslandes aufgefaßt wird, wohingegen Deutschland ein durch den sogenannten »Sonderweg«1 gekennzeichnetes Staatswesen symbolisiert, ein Land also, in dem sich keine erfolgreich abgeschlossene politische Revolution ereignet hat.
Dieser Gesichtspunkt, das Spezifische am Verlauf der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, ist an sich in großem Maße umstritten, da dem »Endpunkt« jenes »Weges«, dem nationalsozialistischen Regime im 20. Jahrhundert, die Funktion eines Kriteriums beigemessen werden muß, das bei keinem Versuch, diesen Weg erklären zu wollen, ignoriert werden kann2. Es läßt sich behaupten, daß sich das Forschungsfeld der modernen deutschen Geschichte seit 1945 im Zeichen der Debatte über die Frage bewegt, welche politische und soziale Bedeutung der Tatsache zuzuschreiben sei, daß Deutschland, im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern, ein Land ohne erfolgreiche bürgerliche Revolution geblieben ist, und ob zwischen diesem Sachverhalt und dem, was Meinecke als »die deutsche Katastrophe« bezeichnet, eine Verbindung herzustellen sei3.
Man kann die in dieser Hinsicht vertretenen Positionen in zwei historiographische Hauptlager unterteilen und ein drittes, das sich in den letzten Jahren herangebildet hat, hinzufügen:
1. Das erste Lager vertritt die Anschauung, Deutschlands »revolutionsloser« Weg sei gerechtfertigt gewesen – habe er doch bewiesen, daß sich sowohl der graduelle Übergang von einer feudalistisch strukturierten in eine industrialisierte bürgerliche Gesellschaft als auch der Eintritt in die nationalstaatliche Phase ohne eine gewaltsame Revolution vollziehen ließ. Das Dritte Reich wird aus dieser Sicht nicht als Resultat der vorangehenden Entwicklung aufgefaßt, sondern vielmehr als eine Art »Betriebsunfall«.
2. Das zweite Lager erblickt gerade im deutschen Faschismus ein gültiges historisches Kriterium für die Fehlentwicklung der deutschen Gesellschaft und erkennt in der von Plessner4 so genannten »Verspätung« der deutschen Nation auf wirtschaftlicher und politischer Ebene sowie in ihrer »Revolutionslosigkeit« unheilvolle Determinanten der Folgen dieser Fehlentwicklung im 20. Jahrhundert5.
3. Das dritte historiographische Lager ist bestrebt, die den obigen Positionen eigenen ideologischen Spitzen abzubiegen, um »Mythen deutscher Geschichte« sozusagen »wissenschaftlich« zu widerlegen. Zwar ignoriert diese Richtung den Nationalsozialismus nicht unbedingt, sie konzentriert sich indes vorwiegend auf die Darstellung der doch auch im monarchistischen Deutschland des 19. Jahrhunderts herangereiften bürgerlichen Gesellschaft sowie auf die Untersuchung der historischen Zulänglichkeit des Begriffs vom »a-politischen Deutschen«6.
Dem ist nicht zu entnehmen, daß die hier gerafft umrissenen historiographischen Bezüge offen als politisch-ideologische Bekenntnisse ausgegeben würden; fast keiner der sich mit der Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert beschäftigenden Historiker nimmt auf den Nationalsozialismus ausdrücklichen Bezug. Und dennoch: Da man nicht annehmen kann, daß auch nur einer von ihnen die späteren Fakten als Gegebenheit der Chronik aus seinem Bewußtsein auszumerzen vermag (und es ist hierbei von geringer Bedeutung, ob diese Fakten als integraler Bestandteil der Gesamtentwicklung aufgefaßt werden oder nicht), erzwingt das Wissen a posteriori die Konfrontation der vorausgegangenen Ereignisse und Entwicklungsstrukturen aus irgendeiner Position – mit anderen Worten: Der sich seit 1945 mit der modernen deutschen Geschichte auseinandersetzende Historiker kann sich nicht einer Position entziehen, die ihrer Tendenz nach eine Bezugnahme zum Nationalsozialismus als gegebener Tatsache in der Gesamtchronik seines Forschungsobjektes inkorporieren muß. Die ideologische Komponente dieser immanenten Position ist im Modus der inhaltlichen Verknüpfung enthalten, welche der Historiker zwischen dem Ereignis selbst und der ihm vorausgehenden Entwicklung schafft bzw. in der Bedeutung, die er dieser früheren Entwicklung beimißt, selbst dann, wenn er den Nationalsozialismus nicht explizit erwähnt7. In diesem Sinne besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Historiker, der am Ende des 19. Jahrhunderts über die Einigung Deutschlands schreibt, und dem Historiker, der sich mit diesem Thema heute beschäftigt. Der heutige Historiker, der sich des Entwicklungsganges seit der von Bismarck oktroyierten Einigung bewußt ist, wird sich (und sei es indirekt) mit der Problemstellung auseinandersetzen müssen, ob es eine wie auch immer geartete Verbindung gibt zwischen dieser autoritären politischen Lösung der »deutschen Frage«, dem autoritären Regime der wilhelminischen Zeit8, den imperialistischen Bestrebungen, die – unter anderem – zum Ersten Weltkrieg führten9, dem zögernden Eintritt in die Weimarer Republik10 und eben der Etablierung der hitlerischen Terrorherrschaft.
Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß wir eine solche Verbindung für unsere weiteren Überlegungen voraussetzen. Unserer Auffassung nach läßt sich kein historisches Ereignis von seinen historischen Prädispositionen trennen, auch dann nicht, wenn diesem Ereignis im nachhinein das Attribut eines »Wendepunktes« zugeschrieben wird. Dieser Sichtweise gemäß muß also die »Revolution von oben« der Jahre 1870/71 vor allem mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 oder auch, allgemeiner ausgedrückt, mit dem sogenannten »gestörten Verhältnis der Deutschen zur Revolution« in Verbindung gebracht werden11. So besehen beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung mit dem Symptom einer sowohl strukturellen als auch mentalen Entwicklung, die wir als determinant für die gesellschaftliche und politische Kristallisierung Deutschlands im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zur nationalsozialistischen Herrschaft erachten.
Dies will wohlverstanden sein: Unsere Auffassung des Nationalsozialismus als Kriterium für die Wesenserfassung der Entwicklung Deutschlands in der modernen Zeit postuliert nicht eine deterministisch vorgegebene, quasi unumgängliche »historische Notwendigkeit«. Die von uns anvisierte historische Epoche weist mehr als genug alternative Optionen12 auf; dennoch läßt sich der Tatbestand nicht ignorieren, daß die republikanischen und demokratischen Möglichkeiten, welche in verschiedenen Phasen die Matrix für eine sozio-politische Selbstbestimmung hätten abgeben können, nicht wahrgenommen worden sind. Man kann dies natürlich mit der Konstellation der »partikularen Umständen« einer jeden Phase erklären wollen; wir hingegen meinen, daß wenn sich eine lange Reihe solcher »Konstellationsumstände« nachweisen läßt, die sich jedesmal durch die Nichtwahrnehmung der emanzipatorischen Möglichkeit auszeichnen, man eher von einem Verhaltensmuster (Pattern) reden sollte. Gemeint ist nicht ein Pattern, das wir (als die nachkommenden Betrachter) den Entwicklungsstrukturen deutscher Geschichte in den letzten 200 Jahren im nachhinein zuschreiben, sondern jene Pattern, welche der politischen Handlungsweise des Kollektivsubjekts »Deutschland« als Grundlage dienten, und jene Entwicklungsabläufe (unter anderem) selbst in Gang setzten.
Der Begriff »Kollektivsubjekt« erfordert eine nähere Erörterung. Selbstverständlich handelt es sich bei Begriffsverwendungen wie »Deutschland« oder »die Deutschen« um Verallgemeinerungen, die spezifische Unterschiede in einem solchen Maße verwischen können, daß man ihre Tauglichkeit als analytisches Instrumentarium nachgerade bezweifeln möchte. So ließe sich z.B. in dem von uns behandelten Zusammenhang behaupten, daß die in Deutschland damals existierenden Klassen- und ideologischen Unterschiede, die man im Rahmen einer Rezeptionsanalyse der Revolution wohl nicht außeracht lassen sollte, mit einer solchen Verallgemeinerung übergangen würden. Diesem Einwand ist folgendes entgegenzusetzen:
Erstens: Wir verwenden Begriffe wie »Deutschland« oder »die Deutschen« als Kategorien zur Unterscheidung der von uns untersuchten Gruppe von anderen Kollektivwesen, wie »Frankreich« oder »die Franzosen«. Die Validität eines solchen verallgemeinernden Vergleichs ergibt sich vorrangig aus dem historischen Kriterium, das wir in Beziehung auf beide Nationen applizieren: In der einen hat die Revolution stattgefunden, und es entstand in ihr gar eine politische Revolutionstradition, wohingegen die andere in ihrer modernen Geschichte keine erfolgreich abgeschlossene Revolution zu verzeichnen hat, und es etablierte sich in ihr eher eine »politische Kultur«, die von je darauf aus war, die Revolution zu umgehen.
Zweitens: Was die innerdeutsche soziale Schichtung anbelangt, so gilt unser Hauptinteresse dem von der Aristokratie allgemein und vom Hofadel besonders abgegerenzten »Bildungsbürgertum«. Diese Kategorie (und speziell die ihr angehörende Intelligenzschicht) wird von uns als eine Art pars pro toto des gesamten Bürgertums aufgefaßt13, und zwar vor allem deshalb, weil in der hier zur Deabatte stehenden Epoche noch keinerlei scharfe ideologische Trennung zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser gesellschaftlichen Klasse auszumachen ist. Dies soll keineswegs besagen, es habe damals nicht schon klare sozio-ökonomische Unterschiede gegeben; da sich aber der Industrialisierungsprozeß noch in den Anfängen befand, kann man gewiß nicht von einer bewußten Polarisierung der Klassenideologien sprechen, und in jedem Fall haben besagte Unterschiede keinen Niederschlag in konträr entgegengesetzten, fest umrissenen politischen Programmen gefunden.
Andererseits bildete die Intelligenz als wohl prägnanteste Gruppe innerhalb des Bildungsbürgertums, ähnlich wie in anderen Ländern des 19. Jahrhunderts, auch in Deutschland die Speerspitze der politischen und sozialen Kämpfe. In dieser Hinsicht kommt ihrer politischen Aktivität gerade in Deutschland eine doppelte Funktion zu: Ihr politischer Kampf hat objektiv einen Klassencharakter14, und sei es wegen ihrer sozialen Zugehörigkeit zur Kategorie »Bürgertum«; aber es ist auch der klassenlose Kampf der, von Karl Mannheim so genannten, »freischwebenden Intelligenz«, d.h. also in unserem Fall jener Gebildetenschicht, die in besagter Epoche aus dem Glauben an Ideale und Grundsätze der Aufklärung gegen die politische Realität räsoniert. Wir werden die spezifische Situation dieser Schicht in Deutschland noch genauer zu betrachten haben, es läßt sich indes jetzt schon behaupten, daß der Charakter ihrer politischen Aktivität sowohl von der immanenten Marginalität einer »auf dem Zaun sitzenden« Intellektuellengruppe als auch von der bürgerlich sozialen Herkunft dieser Schicht, welche sich in ihrer Selbstbestimmung sowohl vom Adel als auch von den »unteren Schichten« unterschieden wissen wollte, stark beeinflußt war.
Mehr noch: Die Verwendung verallgemeinernder Begriffe ist gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften höchst verbreitet, denn sie ist letztlich unumgänglich. Denkt man sich nämlich die soziale Realität atomistisch, d.h. als umfassende Zusammensetzung einer Vielzahl von Individuen, so ist jeder Versuch, auch nur einen Teil dieser Realität vernünftig erfassen zu wollen, von vornherein und unweigerlich an einer begrifflichen Verallgemeinerung bzw. an eine Unterteilung in Kategorien gekettet, deren Erklärungsvalidität von der Definition abhängt, die man dem zu erforschenden Objekt nach logischen Erwägungen und methodologischen Zwängen zukommen läßt, Erwägungen, die im Grunde aber nichts anderes sind als das Erzeugnis eines wertbeladenen (sehr oft ideologischen) Ausgangspunktes in der Auffassung des Forschers. Der Grad der Annehmbarkeit besagter Definition und der von ihr abgeleiteten begrifflichen Verallgemeinerung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist Funktion eines konjunkturbedingten Konsenses, welcher selber jederzeit angesichts eines bevorstehenden Paradigmenwechsels zersetzt werden kann, oder er existiert von vornherein erst gar nicht infolge der die Wissenschaftsgemeinde selbst beherrschenden ideologischen Differenzen. So z.B. unterscheidet sich der »Klassen«-Begriff der marxistischen Theorie von der der struktur-funktionalen Schule; beiden Strömungen gemeinsam ist jedoch der unumgängliche Gebrauch einer verallgemeinernden Abstraktion des Begriffes selbst zwecks Formulierung einer Theorie über das Wesen sozialer Prozesse. Die diesbezüglich mögliche Einwendung, eine Theorie sei nicht gültig, wenn sie nicht empirisch überprüfbar sei, verliert zumindest einiges von ihrer Eindeutigkeit, sobald man sich gezwungen sieht, den Bereich sogenannter »harter Variablen« zu verlassen, um sich mit Parametern wie »Image«, »Ansehen« u.s.w. auseinanderzusetzen; es stellt sich dann nämlich heraus, daß auch der zur Überprüfung der Abstraktion und ihrer Gültigkeit bestimmte Apparat mit Begriffen angefüllt ist, die in nichts anderem als den (wertbeladenen) Erwägungen des Forschers wurzeln.
Wir betonen all dies, um herauszustreichen, daß es vor der Verallgemeinerung und der auf ihr gegründeten Abstraktion praktisch kein Entrinnen gibt15. Gleiches trifft auch für die Geschichtswissenschaft zu16, obwohl deren Selbstbestimmung als idiographische Wissenschaft die Vorstellung erwecken könnte, daß dem nicht so sei. Letztlich besitzt diese Wissenschaft kein wirklich eigenständiges Erkenntnis- und Erklärungsvermögen17; sie kann sich lediglich auf das Grundpostulat berufen, daß die von ihr angegangenen Phänomene sich genetisch aus den ihnen chronologisch vorangegangenen Faktoren entwickelt hätten, d.h. also, daß alle menschlichen Erscheinungen aus ihren historischen Prädispositionen heraus zu verstehen seien. Dieses (an sich richtige und nicht unwichtige) Postulat läßt sich indes nur dann umsetzen, wenn man sich in der Analyse besagter Erscheinungen und deren Prädispositionen auf theoretische Erwägungen stützt. Akzeptiert man aber diese Voraussetzung, so wird es leicht verständlich, wieso sich »das deutsche Bürgertum« als »Kollektivsubjekt« begreifen läßt, ohne daß man deshalb den Nachweis gleichen Verhaltens, identischen Handelns oder gar Denkens aller ihm zugeordneten Individuen erbringen müßte – genauso wie es müßig, ja überflüssig erscheinen muß, beweisen zu wollen, daß jeder der Jakobiner oder der Aristokraten in der Französischen Revolution sich in Übereinstimmung mit der Tendenz verhielt, die man diesen Gruppen in den unterschiedlichen historischen Situationen gemeinhin zuzuschreiben pflegt. Für gewöhnlich sehen wir die häufig auftretende und herausragende Neigung im Verhalten einer Gruppe als deren Charakteristikum an, und die Abweichungen von ihr werden als negative Bestätigung der allgemeinen Tendenz verstanden, als eine Art kontrapunktische Affirmation des Charakteristischen18. Es läßt sich natürlich einwenden, daß es gerade die dieser allgemeinen Tendenz innewohnenden partikularen Unterschiede seien, welche die historische Aussage beleben, sie interessant machen. So wahr dies an sich sein mag, meinen wir demgegenüber, daß das zur Debatte stehende Erklärungsvermögen historischer Aussagen primär in jenen Strukturen, Tendenzen und Mustern, die wir in dem erforschten Phänomen auszumachen vermögen, zu suchen sei, ohne daß dabei der Individualität des Phänomens Abbruch getan werden muß.
Eines der in der Historiographie moderner deutscher Geschichte und im Rahmen der Debatte um das sogenannte »gestörte Verhältnis der Deutschen zur Revolution« am häufigsten erwähnten sozialpsychologischen Verhaltensmuster (wir verwenden künftig den treffenderen englischen Begriff »Pattern«) ist die von Meinecke als »Obödienzgesinnung«19 umschriebene Beziehung deutscher »Untertanen« zur »Obrigkeit«, oder breiter formuliert: das autoritäre Verhältnis der Deutschen zur Autorität. Bereits im Jahre 1918 hat Heinrich Mann diesem autoritären Verhalten in der exemplarischen Gestalt des Diederich Heßling ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt20. Einen besonderen Impetus erhielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema aber erst nach 1945, als das akute Bedürfnis aufkam, die Entwicklung, welche zum Dritten Reich, zur Unterwerfung des deutschen Volkes unter das autoritäre Nazi-Regime, geführt hatte, »erklären« zu wollen. Aber die in diesem Zusammenhang etablierte Charakteristik des Autoritären implizierte oft nicht viel mehr als schnöde Stigmatisierung, sodaß sie letzten Endes als leicht abgegriffene Phrase in den gängigen strukturorientierten Faschismustheorien absorbiert wurde und unterging. Die in dieser Charakteristik enthaltene mentale Grundlage verlor somit vollends ihre Gültigkeit und verkümmerte zugunsten einer sich zunehmend ausbreitenden, nach rein politisch-ideologischen Gesichspunkten klassifizierenden und wertenden Ausrichtung. Die Frage, wie es passiert war, daß sich das deutsche Volk dem autoritären Nazi-Regime unterworfen hatte, wurde (unter Heranziehung der Beschaffenheit von Umständen, der Analyse von Machttrukturen und der Darstellung von Repressionsmechanismen) vor allem als eine Frage des Systems thematisiert; so bedeutend die in diesem Zusammenhang gemachten Aussagen gewesen sein mögen, führten sie doch zu einer um sich greifenden Vernachlässigung der sozialpsychologischen Dimension dieser Fragestellung; man meinte, das zur Debatte stehende Phänomen könne durch sie nicht erklärt werden, befürchtete aber auch darüberhinaus die pauschalisierend stigmatisierende Gefahr eines irrationalen Determinismus, der sich in eine solche Erklärung einschleichen könnte.
Eine Sonderstellung nahm in dieser allgemeinen Entwicklung die Frankfurter Schule21 ein. Ihre Gründer, die die multidimensionalen Grundlagen der Faschismus-Erscheinung im 20. Jahrhundert analytisch anzugehen versuchten, schufen eine theoretische Synthese zwischen der marxistischen Gesellschaftslehre und der Psychoanalyse mit der Zielsetzung, die Verknüpfung der sozialen und mentalen Faktoren des Phänomens systematisch zu untersuchen. Nicht von ungefähr wurde hierbei besondere Aufmerksamkeit dem Wesen des Autoritären und den autoritären Charakterstrukturen der faschistischen Persönlichkeit geschenkt.
In der vorliegenden Untersuchung stützen wir uns weitgehend auf das grundlegende Paradigma dieser Schule. Bevor wir jedoch die ihm unterlegten theoretischen Erwägungen vorstellen, müssen wir kurz bei einem Schlüsselproblem verweilen, das sich schon aus der Verbindung zweier vermeintlich so extrem konträrer Lehren stellt22. Es erhebt sich nämlich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es überhaupt möglich sei, ein Begriffssystem, das das Verhalten des Individuums zu erklären vorgibt, auf die Analyse der Verhaltensmuster sozialer Kollektive anzuwenden; oder anders ausgedrückt: Mit welchem Gültigkeitsanspruch kann man vom Verhalten einzelner Individuen auf das Wesen gesellschaftlicher Prozesse schließen?
Soweit bekannt, gibt es kein einziges, allgemein akzeptiertes theoretisches Modell, das dieses mit einer sehr langen Diskurstradition befrachtete Problem, philosophisch gesehen, umfassend angegangen wäre oder gar endgültig gelöst hätte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die sich um diese Fragestellung zuspitzende soziologische Debatte zu einer Art Höhepunkt in der Form einer Polarisierung der in Emile Durkheims und Max Webers Lehren verkörperten Paradigmen gelangt. Der um die Erfassung des Wesens des gesellschaftlichen Gebildes und der sich aus ihm ableitenden Prozesse bemühte Franzose ging von der Annahme eines a priori existierenden, das Verhalten des Individuums determinierenden sozialen Körpers aus. Der Wille, die Wünsche und somit auch das Verhalten des Individuums sind (dieser Auffassung zufolge) als Ableitungen jenes vom Einzelnen introjizierten und zu einer Art »höheren Natur« seiner selbst gewordenen sozialen Wesens zu verstehen. Aus dieser Sicht wird also das als Teil des sozialen Kollektivs gedachte Individuum von dessen Institutionen beherrscht und überwacht. Demgegenüber ging Weber davon aus, daß das Wesen sozialer Prozesse gar nicht zu begreifen sei, wenn man nicht das Handeln des »Einzelmenschen«, die diesem Handeln zugrunde liegende Entscheidung und die sich in ihr widerspiegelnden Werturteile zum Ausgangspunkt wählt. Der soziale Körper verändert sich unentwegt im Verlauf historischer Prozesse, welche aber widerum letztlich als unzählige Handlungen von Einzelmenschen zu begreifen seien. Die in diesen Prozessen auszumachenden Strukturen und Pattern sind zunächst vor allem Konzeptionen im Bewußtsein dessen, der sie betrachtet und zu verstehen beansprucht: Sie beschreiben nicht die in unzählig vielen Schichten gestaffelte soziale Realität, sondern repräsentieren vielmehr lediglich einen Teil dieser, einen Teil freilich, der das theoretische Verstehen der Strukturen ermöglichen soll. Die soziale Wirklichkeit läßt sich nicht voll erfassen, und in keinem Fall darf ihr eine a priori wirkende, determinierende Kraft zugeschrieben werden; da sie als ein Resultat menschlichen Handelns zu verstehen sei, ist sie auch gewissermaßen kontingent.






