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Diese im Rahmen der soziologischen Disziplin etablierten, konträr entgegengesetzten Auffassungen verzweigten sich im 20. Jahrhundert in zunehmenderem Maße selbst, sodaß ein Konsens hinsichtlich des Wesens der Soziologie oder gar des sozialen Körpers in immer weitere Ferne zu rücken scheint, zumal die allumfassenden Gesellschaftstheorien der »klassischen« Periode einiges von ihrer Anziehungskraft eingebüßt haben. Ähnliches läßt sich von den Entwicklungen im Bereich der Psychologie behaupten, und es sei hier lediglich auf die paradigmatische Diskrepanz zwischen den Anhängern der Freudschen Tiefenpsychologie und denen des positivistisch ausgerichteten behavioristischen Ansatzes hingewiesen. Obwohl sich jedoch die innerdisziplinären Divergenzen nicht überbrücken ließen, entstand eine Art stillschweigende Übereinstimmung, was die Aufteilung des Forschungsfeldes unter den Disziplinen anbetrifft: Die Psychologie – so das Klischee – untersucht das Individuum und die Soziologie das gesellschaftliche Kollektiv. Dem ungelösten theoretischen Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wurde somit eine quasi institutionelle Lösung zugetragen, indem sich eine künstliche Teilung zwischen den verschiedenen Bereichen offizell etablierte.
Es stellte sich indessen heraus, daß eine solche »Lösung« dem Bedürfnis nach konzeptueller Synthese nicht nachkommen konnte. In den letzten Jahrzehneten begannen sich denn auch interdisziplinäre Fachbereiche heranzubilden; so z.B. die Sozialpsychologie, welche sich ihrerseits sowohl an den mikrosoziologischen Studien eines Georg Simmel oder George H. Mead als auch auf den Grundannahmen und Erkenntnissen der rein psychologisch ausgerichteten Forschung orientiert. Indem er sich auf die enge Verknüpfung der individuellen psychischen Welt (samt der ihr entspringenden Verhaltensmuster) mit der objektiven sozialen Realität (samt den in ihr auszumachenden strukturellen Prozesse) konzentriert, überbrückt dieser Forschungsansatz zwar die künstliche Teilung zwischen den pseudoautonomen Entitäten »Individuum« und »Gesellschaft«, er beschränkt sich jedoch gemeinhin auf die Sphäre sichtbarer Erscheinungen und auf rein kognitive Aspekte. Er kettet sich also an eine positivistische Sicht des Problems »Mensch und Gesellschaft« und vermeidet es, sich mit den »irrationalen«, d.h. unbewußten, Dimensionen sozialen Verhaltens und dessen psychisch-individuellen Quellen auseinanderzusetzen.
Es ist nun dieser Aspekt, auf den sich die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule23 (und besonders jener sich mit dem »autoritären Charakter«24 beschäftigenden Teil in ihr) bezieht. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe der »Authoritarian Personality« vermerkt Adorno in diesem Zusammenhang die Anlehnung der in diesem Buch präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, daß »die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.«25 Zwar ist Adornos Hauptaugenmerk auf das von ihm sobenannte »potentiell faschistische Individuum« gerichtet, wir meinen jedoch, daß die der forschungsmäßigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen unterlegten theoretischen Erwägungen ihre Gültigkeit auch auf einer umfassenderen Ebene bewahren. So läßt es sich grundsätzlich behaupten, daß jede Untersuchung, die dem »Problem politischer Typen« nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der »Ideologie« und der »der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse« bedarf.26 Akzeptiert man die Definition der Ideologie als ein »System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, als »eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft«, so ist es ein leichtes, Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen beizupflichten:
»Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft.«27
Die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, welche Bestandteile des ideologischen Systems des Einzelnen sind, artikulieren sich zwar mehr oder weniger offen, psychologisch gesehen bleiben sie indes »an der Oberfläche«. Die Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von dessen spezifischer Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher »Diskrepanzen« ergeben »zwischen dem, was er sagt und dem, was er ›wirklich denkt‹«. Adorno betont, daß besondere Wichtigkeit der Erfassung jener »verborgenen Tendenzen« zukomme, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, weil angenommen werden könne, daß genau hier »das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegen.«28 In diesem Zusammenhang stellt sich denn auch die Frage hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen der verbalen und der praktischen Dimension der Ideologie. Zwar ist es klar, daß sie beide von der jeweiligen spezifischen sozio-ökonomischen und politischen Situation des Einzelnen abhängen; dies reicht jedoch nicht zur Erklärung hin, da sich offenbar die einzelnen Individuen wesentlich in ihrer Bereitschaft zur Tathandlung unterscheiden. Das Problem der »Potentialität« muß also näher beleuchtet werden.
Es wird von der Annahme ausgegangen, daß »ideologische Aufnahmebereitschaft, Verbalideologie und Ideologie in Aktion«, trotz der zwischen ihnen möglichen Unterschieden, Elemente einer einzigen gesamten Struktur seien – und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese Elemente, vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, logisch miteinander verbunden sind. Jeder Versuch, einer solchen Struktur beizukommen, ist daher unweigerlich gekettet an die Analyse des von Adorno sobenannten »Gesamtcharakters«, welchen er als »eine mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten – ob verbal oder physisch – bestimmen« definiert; er fügt hinzu:
»So konsistent das Verhalten jedoch sein mag, es ist nicht gleich Charakterstruktur; der Charakter liegt hinter dem Verhalten und im Individuum. Die Kräfte im Charakter sind nicht Reaktionen, sondern Reaktionspotential […]. Gehemmte Charakterkräfte gehören tieferen Schichten an als jene, die sich unmittelbar und konsistent im Verhalten manifestieren.«29
Adorno bemerkt, daß sich diese Theorie zur Charakterstruktur »eng an Freud«30 anlehne; die Charakterkräfte hat man daher als »Bedürfnisse«, d.h. also als »Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse« zu begreifen. In diesem Sinne läßt sich der Charakter in seiner Funktion als »Organisation von Bedürfnissen«, welche auf die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als »Determinante ideologischer Präferenzen« betrachten, jedoch nicht als »endgültige Determinante«.31 Adorno hebt ausdrücklich hervor, daß der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies um so gründlicher, »je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten«; da also die Genese des Charakters in entscheidendem Maß vom Erziehungsprozeß und der häuslichen Umgebung des Kindes geprägt wird, muß man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflußnahme auf diese Entwicklung beimessen32; denn:
»Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungenwirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus.«33
In theoretischer Hinsicht hat man die hier beschriebene Wechselwirkung zwischen individuell-psychischen Prädispositionen und historisch-sozialen Bedingungen als Schlüsselpunkt zu begreifen. Die Annahme einer solchen Wechselwirkung ermöglicht nicht nur die anlogisierende Parallelisierung individuellen und kollektiven Verhaltens34, sondern überbrückt auch darüberhinaus die Diskrepanz zwischen den ontologischen Konzeptionen vom Individuum und von der Gesellschaft, indem sie erklärt, durch welches Element die Individuen im kollektiven Rahmen aneinandergebunden werden und somit die Erhaltung des Kollektivs erst möglich machen. Erich Fromm drückt dies wie folgt aus: »Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.«35 D.h. also, dieselben Kräfte, von denen wir behaupteten, sie formierten den Charakter in der individuellpsychischen Sphäre, sind es auch, die jenen »Kitt« bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, auf das kollektive Leben also, einwirkt; diese Kräfte sind jedoch selbst von der sozialen Realität beeinflußt, in deren Rahmen sie sich zur Charakterstruktur entfalten. In diesem Sinne kann Adorno die Charakterstruktur als »eine Agentur« definieren, welche »soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt«.36
Diese Konzeption schreibt demnach der »Charakterstruktur« eine duale Natur zu. Sie enthält eine passive Seite, welche die Erscheinungen der objektiven Realität aufnimmt und auf sie reagiert, aber es gibt in ihr auch jene aktive Dimension, die (unter gewissen Bedingungen) fähig ist, sich einer »realistischen« Bezugnahme auf eben diese Erscheinungen zu entziehen. Obgleich er sie als vermittelnde »Agentur« definiert hat, betont daher Adorno:
»Die Charakterstruktur, obwohl Produkt der frühen Lebensbedingungen, ist, nachdem sie sich einmal entfaltet hat, dennoch kein bloßes Objekt der gegenwärtigen. Was sich entfaltet hat, ist eine Struktur im Individuum, etwas, das selbst zum Handeln gegenüber der sozialen Umwelt und zur Auswahl unter den mannigfaltigen von ihr ausgehenden Stimuli fähig ist; das, wenn es auch modifizierbar bleibt, gegen tiefgreifende Veränderungen häufig sehr resistent ist.«
Diese Konzeption erklärt auch das konsistent gleiche Verhalten in gegensätzlichen Situationen und die »Hartnäckigkeit ideologischer Trends angesichts ihnen widersprechender Fakten und radikal veränderter sozialer Bedingungen«. So kann denn Adorno postulieren: »Charakterstruktur ist ein Begriff, der für etwas relativ Dauerhaftes einsteht.«37
Begreift man das Individuum als Archetypen, welchem zwar eine historische Wirklichkeit eigen ist, jedoch nicht im Sinne eines »persönlichen Lebensschicksals«, sondern als »idealtypischem« Vertreter des kollektiven Rahmens, dem er angehört38, so kann man sich auf den Begriff des »Gesellschafts-Charakters« (social character) berufen, den Fromm als »den Teil der Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist«, definiert, und zu dem er bemerkt:
»Der Gesellschafts-Charakter […] umfaßt nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen [des Individual-Charakters], und zwar den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat. Wenngleich es immer ›Abweichler‹ mit einer völlig anderen Charakterstruktur geben wird, stellen doch die Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe Variationen dieses Kerns dar, wie sie durch die zufälligen Faktoren von Geburt und Lebenserfahrung zustande kamen, die ja von Mensch zu Mensch verschieden sind.«39
Fromm sieht in der Konzeption des »Gesellschafts-Charakters« einen der Schlüsselbegriffe für die Erfassung sozialer Prozesse. Seiner Auffassung nach sind einerseits die Anpassungsformen menschlicher Bedürfnisse an die Seinsbedingungen einer bestimmten Gesellschaft im Charakter verkörpert, andererseits werden aber Denken, Fühlen und Handeln des Individuums von eben diesem Charakter geformt. Dies ist ein für unser Anliegen besonders wichtiger Punkt, da Fromm auch die intellektuelle Welt des Menschen nicht von dieser Auffassung ausgrenzt; mit Beziehung auf »Begriffe«, »Ideen« und »Doktrinen« als Elemente dieser intellektuellen Welt, behauptet er:
»Ein jeder derartiger Begriff und eine jede Doktrin besitzt eine emotionale Matrix, und diese Matrix ist in der Charakterstruktur des einzelnen verwurzelt. […] Die Tatsache, daß Ideen eine emotionale Matrix besitzen, ist von größter Bedeutung, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis des Geistes einer Kultur. Verschiedene Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft besitzen einen spezifischen Gesellschafts-Charakter, und auf dieser Basis entwickeln sich unterschiedliche Ideen, die zu mächtigen Triebkräften werden.«40
Er geht gar einen Schritt weiter und postuliert, die Triebkräfte der Ideen könnten sich erst dann voll entfalten, wenn sie eine Antwort auf die besonderen menschlichen Bedürfnisse eines spezifischen Gesellschafts-Charakters ermöglichten. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang der Prozeß wechselseitig. Der Gesellschafts-Charakter entsteht natürlich nicht im leeren Raum; trotz des gestaltenden Einflusses, den er auf soziale Prozesse ausübt, ist er in nicht geringem Maße selber eine Funktion der aus dem gesellschaftlichen System resultierenden Zwänge und introjiziert äußere Bedürfnisse, um die menschliche Energie in die Aufgaben des wirtschaftlichen und sozialen Systems, in dessen Rahmen er sich verwirklicht, sozusagen einzubinden. Daher insistiert auch Fromm darauf, daß man die Gesellschaftsstruktur (oder die Persönlichkeitsstruktur der in ihr lebenden Individuen) nicht als Ergebnis des Erziehungsprozesses erklären könne, sondern, umgekehrt, »das Erziehungssystem mit den Erfordernissen erklären [müsse], die sich aus der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der jeweiligen Gesellschaft ergeben.« Andererseits liegt die Wichtigkeit der Erziehungsmethoden darin, daß sie Mechanismen darstellen, mittels derer das Individuum »in die gewünschte Form gebracht wird«. Wenn wir also oben behauptet haben, der familiäre Rahmen spiele eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der individuellen Charakterstruktur, so kann man mit Fromm »die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft ansehen.«41
Auf diesen theoretischen Erwägungen stützt sich Fromm bei der Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters, als deren für unser Anliegen wichtigste die des sogenannten »autoritären Charakters« erachtet werden muß. Er verwendet diese Benennung stellvertretend für die des »sado-masochistischen Charakters« und begründet dies damit, daß sich der sado-masochistische Mensch deutlich durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne42: »Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben.«43 Es sei hervorgehoben, daß die Autorität nicht als Eigenschaft des Einzelnen, sondern als »zwischenmenschliche Beziehung« begriffen wird, »bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet.« Fromm unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen zwei Idealtypen solcher Beziehungen, von denen er den ersten als »rationale Autoritätsbeziehung« (z.B. die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler) und den zweiten als »hemmende Autoritätsbeziehung« (z.B. die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven) bezeichnet. Die elementaren Unterschiede zwischen beiden Beziehungsformen sieht er in der Interessengemeinschaft, welche die erste Beziehung im Gegensatz zur zweiten kennzeichnet, und in der grundlegend verschiedenen psychologischen Situation: In der ersten Beziehung herrschen vorwiegend positive Gefühle, wohingegen in der zweiten Ressentiment und Feindseligkeit vorherrschend sind. Natürlich vermischen sich in der Realität beide Arten der Autoritätsbeziehung, und jede Analyse einer konkreten Beziehung erfordert daher die spezifische Gewichtung der jeweils in ihr auftretenden Art.44 Obgleich wir hier also vorzüglich mit dem Begriff der zweiten Beziehungsart operieren werden, betonen wir ausdrücklich, daß die Unterschiede in der Realität, auch in der von uns anvisierten historischen Situation, keineswegs polarisiert sind, schon gar nicht dem Augenschein nach. Wir werden also bemüht sein zu zeigen, mit welchen Schwierigkeit die Auflehnung gegen die Autorität verbunden ist, und zwar gerade wegen der aus der psychologischen Verschmelzung beider Beziehungsarten resultierenden Ambivalenz.
Fromm spricht von einem weiteren Aspekt der Autorität: »Die Autorität muß nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ›Du mußt das tun‹ oder ›Das darfst du nicht tun‹. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten.«45 Im Grunde – so Fromm – läßt sich das ganze moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant als die Ersetzung der äußeren Autorität durch die internalisierte denken46:
»Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ›Selbstbeherrschung‹, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit. Die Analyse zeigt, daß das Gewissen ein ebenso strenger Zwingherr ist wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, daß die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?«47
Fromms rhetorische Frage verdeutlicht die besondere Bedeutung, die dem Begriff »Auflehnung« (und dessen komplementäre Ergänzung »Gehorsam«) im anstehenden Zusammenhang zukommt; nicht von ungefähr bezeichnet er »die Einstellung zur Macht« als das wichtigste Merkmal des autoritären Charakters.48 Wie wir oben darlegten, bewundert der autoritäre Charakter die Macht, welche seine Liebe und seine Bereitschaft zur Unterwerfung entfacht, während Schwäche und Ohnmacht (seien es die eines Menschen oder einer Institution) in ihm Verachtung und die Angriffslust gegen sie erwecken. Es muß jedoch auch hier darauf hingewiesen werden, daß (ähnlich wie die oben beschriebenen Autoritätsbeziehungen) auch der autoritäre Charakter in seiner puren Form selten in der realen Welt vorzufinden ist. Mehr noch: Seine »realen« Erscheinungsformen können trügen; Fromm hebt dies ausdrücklich hervor, indem er auf die Neigung des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse »von oben« zu wehren, eingeht. Er bemerkt, daß diese Widersetzung zuweilen dermaßen dominant sei, daß sie den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich immer gegen irgendeine Autorität, ohne dabei wahrzunehmen, wann er sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie können sich gegen eine bestimmte Autorität auflehnen (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen Autorität zu unterwerfen, welche ihre »masochistischen Sehnsüchte« besser zu erfüllen vermag. Es gibt auch den autoritären Charakter, der seine Auflehnungsneigungen vollkommen verdrängt, so daß diese nur a posteriori in Form von Haßgefühlen gegenüber der Autorität auszumachen sind, besonders dann, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht.
Wenigstens bei der ersten Kategorie – so Fromm – handelt es sich vermeintlich um Menschen mit einem stark ausgeprägten Unabhängigkeitsbedürfnis, die mutig gegen jene Machthaber und Autoritäten ankämpfen, welche der Erfüllung dieses Bedürfnisses im Wege zu sein scheinen. Dieser Schein trügt jedoch, denn der Kampf des autoritären Charakters gegen die Autorität ist seinem Wesen nach im »Trotz« verankert49; es handelt sich um den Versuch, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, ohne daß dabei das (bewußte oder unbewußte) Bedürfnis, sich der Autorität zu unterwerfen, tatsächlich bewältigt würde: »Ein autoritärer Mensch ist niemals ein ›Revolutionär‹, lieber würde ich ihn einen ›Rebellen‹ nennen. Viele Menschen und viele politische Bewegungen sind dem oberflächlichen Beobachter ein Rätsel, weil sie anscheinend unerklärlicherweise vom ›Radikalismus‹ zu einem äußerst autoritären Gehabe hinüberwechseln. Psychologisch handelt es sich bei solchen Menschen um typische ›Rebellen‹«. Fromm geht gar in seiner Behauptung einen Schritt weiter:
»Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte Weltanschauung wird von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Der autoritäre Charakter hat eine Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebt es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was er unter ›Schicksal‹ versteht, hängt von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. […] Man kann Schicksal philosophisch als ›Naturgesetz‹ oder als ›Los des Menschen‹, religiös als ›Willen des Herrn‹ oder moralisch als ›Pflicht‹ rationalisieren – für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich jeder nur unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit. Was einmal war, wird in alle Ewigkeit so bleiben. Sich etwas noch nie Dagewesenes zu wünschen oder darauf hinzuarbeiten, ist Verbrechen oder Wahnsinn. […] Der Mut des autoritären Charakters ist im wesentlichen ein Mut, das zu ertragen, was das Schicksal oder ein persönlicher Repräsentant oder ›Führer‹ für ihn bestimmt hat. […] Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus.«50
Es sei wiederum betont: Völlige Unterwerfung, vorübergehende Rebellion gegen die Autorität, ohne sie tatsächlich gänzlich stürzen zu wollen, oder Auflehnung gegen eine Autorität aus Sehnsucht nach einer anderen, gar stärkeren, sind graduell unterschiedliche Erscheinungsformen desselben autoritären Patterns: die Abhängigkeit von der Autorität ist in allen Formen als konstante Determinante erkennbar; in dieser Abhängigkeit ist die emotionale Matrix des autoritären Charakters verkörpert, durch sie wird seinVerhalten und seine Handlungsweise, auch wenn dies zunächst nicht klar ersichtlich zu sein scheint, bestimmt. Mehr noch: Diese Abhängigkeit »neigt« dazu, sich selbst zu erhalten, denn gerade weil sie die »psychologische Sicherheit« des Bekannten und des Gewissen sowie die Abwehr gegenüber der Bedrohung durch das Unbekannte und das ungewisse Neue verkörpert, bedarf es für gewöhnlich mächtiger Anstrengungen, um sich von ihr loszulösen. Die Angst des autoritären Charakters vor der Loslösung von der Autorität ist daher mit seiner Angst vor der Verantwortung, welche es bei der Gestaltung der neuen Lage ohne Schirmherrschaft der Autorität zu übernehmen gilt, aufs engste verbunden. Die Verehrung der Vergangenheit, von der Fromm spricht, ist in diesem Sinne nichts anderes als die Angst vor der Zukunft.
Auf der Grundlage dieses Begriffssystems können wir nun zur Darlegung der Hauptthese dieser Untersuchung übergehen. Wir behaupten, daß die historiographische Rezeption der Französischen Revolution im vormärzlichen Deutschland von dem in breiten Schichten des deutschen Bürgertums und der ihm angehörenden Intelligenz vorwaltenden autoritären Pattern entscheidend geprägt, wenn nicht gar gänzlich bestimmt wurde. Da man den Ablauf der Revolution (zumal in ihren Anfangsphasen) sowohl politisch als auch kollektiv-psychisch als eine Auflehnung gegen die Autorität begreifen kann, meinen wir in diesem Aspekt einen besonders abschreckenden Faktor einer Rezeption der Revolution als Modell einer möglichen Nachahmung in Deutschland erkennen zu dürfen. Unter diesem Gesichtspunkt erhält denn auch die Hinrichtung des französischen Königs eine ganz besondere Bedeutung; sie symbolisiert die gewaltsame Auflehnung gegen die Autorität im allerarchaischsten Sinne: der »Königsmord«, wie ihn viele jener Epoche zu nennen pflegen, wird mit der psychischen Folie des »Urvatermords«51 rezipiert, wenn man will: Der Landesvater wird von den Landeskindern ermordet.