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Das historische Indiz für eine solche Interpretation läßt sich am deutlichsten an der Wende in der Reaktion der meisten deutschen Gebildeten auf die Revolution erkennen. Diese Wende setzt zwar vor der Hinrichtung an, jedoch auch da immer im Zusammenhang mit dem, was sich als Auflehnung gegen die Autorität auslegen läßt. In ihren Anfängen wird die Revolution mit großem Jubel empfangen, der in den beiden ersten Jahren teilweise verklingt, mit dem Schock, den die Hinrichtung des Königs auslöst, aber vollends in Abscheu und allgemeine Verwerfung umschlägt. Dieser Prozeß reflektiert an sich das Element der Ambivalenz in der Beziehung zum Gesamtereignis. Von Anfang an ist die Französische Revolution im Grunde nichts anderes als eine Auflehnung gegen die Autorität52, und eben diese ersten Phasen werden von den deutschen Gebildeten begrüßt, weil sich in ihnen der Ausdruck einer eigenen Aggression gegen die Autorität ermöglicht; es handelt sich hierbei freilich um den von Fromm als »Rebellion« bezeichneten Reaktionsmodus: Die deutschen Gebildeten können eine Rebellion gegen die Autorität akzeptieren, nicht aber eine wirkliche Revolution, welche die Autorität gänzlich stürzen würde. Als die französischen Revolutionäre den entscheidenden Schritt machen, indem sie die Monarchie abschaffen und den König physisch liquidieren, setzt sich der autoritäre Charakter der deutschen »Beobachter« in eine psychisch motivierte ideologische Reaktion um, welche sie alsdann veranlaßt, dem gesamten Geschehen den Rücken zu kehren.
Wir werden die individuell-psychischen Quellen der Ambivalenz weiter unten noch zu erörtern haben. Es scheint indes angebracht, schon an dieser Stelle hervorzuheben, daß sich das in diesem konkreten historischen Zusammenhang beschriebene Pattern bei allen politischen Schlüsselereignissen im Verlauf der deutschen Geschichte – von der Französischen Revolution bis hin zum Revolutionsversuch von 1848, wo es am entscheidenden Moment moderner deutscher Geschichtsentwicklung am krassesten zum Ausdruck kommt und den erfolgreichen Abschluß der Revolution letztlich verhindert – reproduzierend wiederholt.
Damit soll nicht behauptet werden, der autoritäre Charakter sei ein Produkt der Französischen Revolution gewesen. Seine kollektive Genese hing vielmehr mit der historischen Sonderheit der strukturellen Entwicklung Deutschlands in den der Revolution vorangegangenen Jahrhunderten, mit den der territorialen Zersplitterung einwohnenden Erziehungsprozessen und mit der aus ihnen erwachsenen partikularistischen Mentalität und »politischen Kultur« zusammen.53 Und dennoch: Die Bedeutung der Französischen Revolution als katalysierender Faktor für die Verfestigung und historische Objektivierung des latenten Patterns in der Ára nach dem großen französischen Ereignis kann gar nicht übertrieben werden; denn die Revolution, als Scheideweg moderner Geschichte, erstellt einen neuen und bis dahin unbekannten Maßstab für die politische Ideologiepraxis. Sie bettet die Auflehnung gegen die konventionelle Autorität in eine umfassende Konzeption der Emanzipation ein: Sie affirmiert nicht nur die bewußtseinsmäßige Möglichkeit, daß der Sturz der Autorität weder eine Sünde noch die Übertretung eines sakralen Tabus darstelle, sondern erhebt ihn gar zur notwendigen Bedingung für die Befreiung des Menschen von seinen herkömmlichen sozialen und politischen Fesseln. Das der Revolution von der Seite »zuschauende« Kollektivsubjekt (wie etwa die deutsche Gebildetenschicht) kann diese Option nicht mehr ignorieren, wenn es daran geht, seine politischen und sozialen Zielsetzungen zu definieren. Freilich, gerade das Revolutionäre am Beschreiten des neuen Weges – d.h. gerade das Verlassen bekannter Strukturen zugunsten der bedrohenden Kontingenz einer ungewissen Zukunft (und trotz der in ihr utopisch umrissenen emanzipatorischen Verheißung) – kann all jene Ängste aufkommen lassen, welche die revolutionäre Wegbeschreitung verhindern und die Klammerung an die bestehenden Verhältnisse sichert, deren wichtigstes und bekanntestes Kontinuitätssymbol eben von der politischen Autorität verkörpert wird.
Wir betonen die Dimension der Entscheidung hinsichtlich der Rezeption der Revolution und der in ihr enthaltenen Optionen. Wir meinen hierbei nicht eine bewußte, auf Zweckrationalität ausgerichtete Entscheidung54, sondern die psychologisch motivierte, auf die Befriedigung emotionaler und mentaler Bedürfnisse zielende Entscheidung, der sich das Subjekt, trotz ihres offensichtlichen Widerspruchs zu seinen sozialen, ökonomischen und politischen Interessen, verschreibt.55 Dies bedeutet, daß die deterministische Dimension des autoritären Charakters als ihrem Wesen nach relativ zu begreifen ist und nicht als eine a priori gegebene alternativlose Unumgänglichkeit. Die Alternative manifestiert sich im Bewußtsein des Subjekts, im Bewußtsein seiner objektiven Lebensbedingungen und der zu deren emanzipierenden Veränderung aufzubringenden Opfer.56 Wenn das Subjekt es vorzieht, in seinen herkömmlich vorgegebenen Lebensbedingungen zu verharren, um sich deren Veränderung zu entziehen, trifft es eine Entscheidung, wenn es sich ihrer auch nicht immer bewußt ist. Die »Rechtfertigung« (d.h. die »logische« Erklärung für das Verharren in Bedingungen, die den eigenen Interessen widersprechen) nennen wir beim Individuum »Rationalisierung« und beim Kollektiv »Ideologie«.57 In diesem Sinne können wir also behaupten, daß jene typische Ideologiestruktur, welche sich in der Beziehung der Gebildetenschicht des Vormärz zur Revolution als politischem Mittel überhaupt und zur Französischen Revolution als historischer Vorgabe ausmachen läßt, ihre Quelle in einem für sie aufgrund einer historischen Entscheidung charakteristisch gewordenen autoritären Pattern hat.58
Die inhärente Verbindung zwischen dem autoritären Pattern und der politischen Ideologie des Bürgertums ist in der hier zur Debatte stehenden historischen Epoche besonders eng, und zwar gerade wegen der eigentümlichen Rezeption der Französischen Revolution. Hatte doch diese Revolution die mit der Zügellosigkeit der unteren Schichten einhergehende »Gefahr« und »Bedrohung« deutlich bewiesen, indem sie deren von der »Freiheit« sozusagen sanktionierten »triebhafte Wildheit« konkret veranschaulichte. Es kann freilich von einer etablierten, auf die Kaschierung von Klasseninteressen ausgerichtete Ideologie, wie etwa die des Kapitalismus, noch nicht die Rede sein, denn der Industrialisierungsprozeß und die aus ihm resultierenden polaren Klassengegensätze waren im Vormärz-Deutschland noch nicht weit genug fortgeschritten und entwickelt. Es lassen sich gleichwohl erste Blüten dieses Prozesses nachweisen, und in jedem Fall bestand schon seit längerem die Neigung des Bürgertums, sich selbst »nach unten« hin zu bestimmen und abzugrenzen, und sei es mittels der Konzeption der »Bildung«, welche (genau genommen) zu einer Art politischen Parole dieser Klasse geworden war59; in dieser Situation symbolisieren die unteren Schichten die »Unordnung«, die »Anarchie« und das »Chaos«. Diese Bedrohung ist deutlich genug, denn, wie gesagt, hatte die Französische Revolution die »Massen« als aktives Kollektivsubjekt mit konkret artikuliertem Willen und zielgerichteten Aspirationen auf die Bühne der Geschichte gehievt. Zwar läßt sich daher die ständig lauernde Gefahr der Gewalttätigkeit nicht aus der Welt schaffen, aber man kann ihr zumindest eine Schranke in der Gestalt der herkömmlichen politischen Autorität setzen, um wenigstens ihren akuten Ausbruch zu verhindern; gegen einen König erhebt man sich nun mal nicht so ohne weiteres, er garantiert daher die Erhaltung der althergebrachten sozialen Ordnung.60 Nach unserem Dafürhalten wurzelt das Streben des deutschen Liberalismus nach der konstitutionellen Monarchie und seine Bekämpfung der Republik in diesem für Deutschland eigentümlichen Zusammentreffen einer Verehrung »nach oben« und einer Angst »vor unten«, d.h. in der affirmierenden Verknüpfung des autoritären Charakters mit der politischen Ideologie.
Diese enge Verbindung zwischen dem kollektiv-psychischen Pattern und der ideologischen Struktur ist der Schlüssel zum Verständnis der Tragweite der Französischen Revolution in ihrer Bedeutung als ein die politische Kultur des Bildungsbürgertums im Vormärz und in der Folgezeit prägender Faktor. Wir haben oben dargelegt, daß der Revolutionsrezeption eine emotionale Matrix unterlegt ist, welche sich kognitiv in einem ideologischen System artikuliert.61 Es erhebt sich nun die Frage, durch welche in der Französischen Revolution auftauchenden Motive die beide Beziehungsebenen, nicht nur während des aktuellen Geschehens, sondern auch noch vierzig oder fünfzig Jahre später aktiviert werden. Die Beantwortung dieser Frage hängt mit einer prinzipiellen Klärung des Begriffs »Rezeption« zusammen, wie wir ihn hier verwenden. Wir gehen von der Grundannahme aus, daß historische Ereignisse gemeinhin kodifiziert erfaßt werden: Der Gesamtkomplex historischer Tatsachen enthält Schlüsselworte, Namen und Begriffe, deren Gebrauch eine bestimmte Assoziationsstruktur erweckt. Die Assoziationen können sich mit den Tatsachen verbinden oder gar decken, sie können sich aber auch – und das ist im anstehenden Zusammenhang besonders wichtig – vom eigentlichen historischen Ereignis loslösen, um sich als quasi autonome Gedankengebilde zu verselbständigen. Wir nennen solche Schlüsselbegriffe »Kodes« und schreiben ihnen die Funktion der Symbolisierung von Gestalten, Dingen, Ideen oder Prozessen zu. Unserer Ansicht nach ist es die jedem historischen Ereignis innewohnende »Kode-Matrix«, welche die Rezeption eben dieses historischen Ereignisses erst eigentlich ermöglicht.
Die Französische Revolution assoziert sich, beispielsweise, wie von selbst mit Begriffen und Namen wie »Menschenrechte«, »Guillotine«, »Terror«, »Robespierre«, »Danton« u.s.w. Es ist klar, daß der Begriff »Menschenrechte« (zumindest bei uns heute) eine emanzipatorische Assoziation hervorruft, wohingegen »Guillotine« und »Terror« die von Gewalt und Unterdrückung. »Robespierre« kann sowohl die Gewalt als auch die Befreiung der »Massen« repräsentieren – es hängt ganz vom ideologischen Ansatz ab62; im Grunde kann sich der Begriff »Revolution« selbst sowohl mit »besserer Welt« als auch mit »Zerstörung und Chaos« in Verbindung setzen lassen. Oft erscheint eine solche Zweideutigkeit nicht unbedingt als dichotomische Möglichkeit der Wahl, sondern als untrennbare Einheit (z.B. »Menschenrechte« und »Terror« oder »Mirabeau« und »Marat«). Dies hängt mit der Ambivalenz zusammen, welche sich gemeinhin mit der Idee der Revolution verbindet; sie wird begriffen als ein Etwas, das sowohl die Verheißung einer besseren Zukunft als auch den Preis der Zerstörung und des Chaos für die Verwirklichung eben dieser Verheißung zum Inhalt hat. So lassen sich denn die spezifischen Kodes der Französischen Revolution in vier Sinnwelten zusammenfassen, welche, aneinandergereiht, ihre Kode-Matrix darstellen: »Auflehnung gegen die Autorität«, »Gewalt«, »Emanzipation« und »Ambivalenz«. Obwohl sich die Erscheinungsform dieser Kodes von Fall zu Fall ändern kann und obgleich sie nicht immer leicht zu identifizieren sind, meinen wir feststellen zu dürfen, daß sie in dieser oder jener Form in jeder historiographischen (und wohl nicht nur historiographischen) Rezeption der Revolution vorzufinden seien.
Man kann dagegen einwenden, daß diese Feststellung wohl eine Selbstverständlichkeit sei: Begann doch die Revolution tatsächlich als eine Auflehnung gegen die traditionellen Autoritäten, es gab in ihr wirklich extreme Erscheinungen der Gewalttätigkeit, und sie bewirkte in der Tat die politische Emanzipation der sich auflehnenden Bevölkerung; und weil eben in ihr Freiheit und Tod, Emanzipation und Repression nebeneinander und gleichzeitig auftraten, kann das Gefühl der Ambivalenz als legitim und natürlich erachtet werden. Die Kode-Matrix hat also nichts anderes zum Inhalt als was die historischen Fakten ohnehin zeigen, und es ist von daher nur zu logisch, daß sie sich aus jeder einigermaßen akzeptablen Geschichtsschreibung der Französischen Revolution herauslesen läßt. Darauf muß in zweierlei Hinsicht geantwortet werden:
Erstens: Nicht der Konnex zwischen den Kodes und dem historischen Ereignis ist im zur Debatte stehenden Zusammenhang relevant, sondern die Tatsache, daß die Kodes zwischen dem, was in dem Ereignis selbst motivisch enthalten ist, und dem Assoziationshorizont, der sich (unabhängig von der Beziehung zum konkreten historischen Geschehen) auf der Grundlage dieser Motive auftut, vermitteln. D.h., wir sind nicht an der Strukturierung der Französischen Revolution zwecks besseren Verständnisses ihrer selbst interessiert, sondern an den in ihr befindlichen Gebilden, welche ihren Rezeptionsprozeß im historischen Zusammenhang dieses Prozesses selbst bestimmen.63
Zweitens (und dieser Punkt ist entscheidend für unsere These): Die oben dargestellte Kode-Matrix ist nicht nur die der Französischen Revolution. Wie wir im 2. Kapitel noch ausführlich darlegen werden, sind die in ihr enthaltenen Kodes auch Schlüsselbegriffe der Freudschen Konzeption des ödipalen Konflikts. Kodifiziert läßt sich dieser Konflikt beschreiben als emotionales Bestreben des (männlichen) Kindes zur gewalttätigen Auflehnung gegen die Autorität des Vaters (um der Mutter willen); dieses Bestreben ist in der Realität zum Scheitern verurteilt, unter anderem wegen der ambivalenten Gefühle des Kindes seinem potentiellen Opfer gegenüber. Das aus diesem Konflikt resultierende Schuldgefühl ist ein Haupthindernis im langwährenden Kampf um die Emanzipation, welches das Kind bestreiten muß, um seine emotionale Abhängigkeit von den Eltern überwinden und sich auf dem Weg der Entwicklung zum eigenständigen Individuum von der Autorität seines Vaters lösen zu können.
Wie wir oben bemerkten, erachten wir nicht die sich aus der Parallelisierung beider Ebenen ergebende Ähnlichkeit als bedeutsam, sondern die Tatsache, daß die in der Matrix der Französischen Revolution enthaltenen Kodes emotionale Kodes anregen, welche aus einer persönlichen psychischen Erfahrung »bekannt« sind, einer Erfahrung, von der wir annehmen, daß sie universell sei. Das ist der Grund dafür, daß der Hinrichtung des Königs durch die französischen Revolutionäre eine archetypische Bedeutung beigemessen wird – dies umso mehr, als es sich (in unserem Fall) um die Rezeption des Ereignisses durch den autoritären Charakter handelt. Dies will wohl verstanden sein: Wir behaupten nicht, daß die Hinrichtung des Königs den ödipalen Konflikt als solchen erweckt, sondern, daß das, was Fromm »emotionale Matrix« nennt, als ein im ödipalen Konflikt verwurzeltes Pattern der Rezeption zugrunde liegt und sich im Fall des autoritären Charakters in eigentümlichen Rezeptionsstrukturen artikuliert. Der König symbolisiert den Vater, weil beide, König wie Vater, zur Kategorie »Autorität«64 gehören, und eben diese Kategorie ist, wie wir erläutert haben, von entscheidender Bedeutung für die Reaktion des autoritären Charakters auf Geschehnisse, welche die Autorität involvieren: Die äußere Reaktionsdimension findet sich in der politischen Ideologie vor, aber deren latente, im allgemeinen unbewußte Quelle ist im psychologischen (aus der Kode-Matrix herauslesbaren) Pattern verankert.
Kehren wir also zur Darlegung unserer Hauptthese zurück. Wir vertreten die Auffassung, daß eine Verbindung der Kode-Matrix der Französischen Revolution mit der emotionalen Matrix des autoritären Charakters der spezifischen Rezeption der historischen Umwälzung durch das deutsche Bürgertum zugrunde lagen, und daß sich diese Rezeption in einer politischen Ideologie niederschlug, deren praktische Bedeutung in der Unterlassung, ja Verweigerung einer tatsächlich vollzogenen Auflehnung gegen die (herrschende) Autorität zu sehen ist. Dies besagt nicht, daß es keine Erscheinungen der Auflehnung gab, sie wurden aber sublimierend in die Welt des Geistes verlagert65: Der aggressive Bestandteil der Beziehung zur Autorität verwirklichte sich nicht als politisch-emanzipatorischer Akt, sondern verharrte im Rahmen einer ideellen Konzeption, die die Veränderung zwar ideologisch denkt, sie aber nicht in die Praxis umsetzt.66 Unserer Auffassung nach läßt sich diese Neigung als typisches Charakteristikum deutscher politischer Kultur im 19. sowie im 20. Jahrhundert, als der Autoritarismus im nationalsozialistischen Regime kulminierte, verfolgen. In diesem Sinne muß wohl auch Adornos (gegen den Begriff des »Volkscharakters« gerichtetes) Diktum verstanden werden: »Die Wendung nach innen, das Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll, wie es in den authentischen Gebilden um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorwaltet, hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen. Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes – der Verbürgerlichung – in Deutschland nicht so eng gesponnen wie in den westlichen Ländern, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrbaren Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls.«67
Es dürfte also klar sein, daß unsere These ihrem Wesen nach historisch ist. Es handelt sich weder um den »Nationalcharakter« im Sinne »angeborener Eigenschaften des nationalen Kollektivs« noch um die wie auch immer geartete Dämonisierung des »deutschen Charakters«68, sondern um das spezifische Ergebnis der Entfaltung universeller Prädispositionen auf der Basis einer historisch bedingten sozio-politischen Struktur.69 Mehr noch: Es könnte der Eindruck entstehen, als deuteten wir eine »politische Krankheit« der Deutschen an; davon muß eindeutig Abstand genommen werden, wie auch Adornos in einem solchen Zusammenhang gemachten Bemerkung zu entnehmen ist: »Es gibt keine ›politische Neurose‹, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären.« In Beziehung auf den deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert fügt er noch hinzu: »Die totalitäre Psychologie spiegelt den Primat einer gesellschaftlichen Realität, welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, daß die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, daß ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet.«70 Dennoch muß betont werden, daß die Realität nicht aus dem Nichts entsteht – sie wird von den Menschen geschaffen, auch oder gerade als Funktion der in eben dieser Realität wirkenden Kräfte.71 Daher muß die Wechselwirkung als eine dialektische Verbindung begriffen werden, nach der die Realität zwar die »Agenten« zur Verwirklichung der ihr innewohnenden Tendenzen erzeugt, aber ebenso auch die potentiellen »Agenten« zur Durchbrechung dieser Tendenzen; im nachhinein kann man immer behaupten, die Wende selbst sei eine Tendenz gewesen, dann aber freilich muß auf das, was wiroben als psychologische »Entscheidung« umschrieben haben, hingewiesen werden.
Die äußeren Ausdrucksformen der für das von uns anvisierte Zeitalter typischen sozialpsychologischen Tendenzen lassen sich in unzähligen historiographischen Werken72, publizistischen Aufsätzen und Schriften literarischer Prosa deutscher Verfasser im Vormärz deutlich erkennen. Wir haben darauf hingewiesen, daß dieser Zeitraum von besonderer Bedeutung sei, weil er dem ersten deutschen Revolutionsversuch vorangeht, den wir als entscheidenden Wendepunkt der modernen Geschichte dieses Landes erachten.73 Es darf wohl angenommen werden, daß eine erfolgreiche Beendigung der Revolution eine andere als die tatsächlich stattgefundene soziale und politische Entwicklung Deutschlands zur Folge gehabt hätte.74 Nachdem jedoch die Auflehnung gescheitert war, wurde der weitere Weg von Mächten der Reaktion vorgezeichnet, wobei der politische Liberalismus kapitulierte, sich den alt-neuen Zuständen anpaßte75, und die ohnehin spärlich vorhandenen demokratischen Kräfte machtlos auf die Fortsetzung eines jeglichen Kampfes von wirklicher Bedeutung verzichteten.76 Wir sind, wie gesagt, der Auffassung, daß das Scheitern der Revolution in erheblichem Maße dem Zurückschrecken der Revolutionäre vor dem Sturz der politischen Autoritäten zuzuschreiben sei, und diese Tatsache widerum sehen wir vor allem (und unabhängig von konkreten politischen Erwägungen, die sie bewogen haben mochten) als ein Resultat des für den entscheidenden Teil der an der Revolution aktiv Partizipierenden charakteristischen autoritären Patterns an.77
Unterschiedliche Erwägungen leiteten uns bei dem Entschluß, uns gerade auf die Historiker und deren Schriften zu beziehen.78 Erstens: Einige von ihnen gehörten selber den Revolutionären von 1848 an oder hatten doch zumindest eine »radikale« Vergangenheit aus der Zeit des Vormärz. Man kann sie also als einen politischen Faktor betrachten, welcher sowohl auf die die Revolution theoretisch legitimierende Ideologie als auch auf die Art und Weise, wie diese Revolution im entscheidenden Augenblick dann ausgetragen wurde, signifikanten Einfluß hatte. Zweitens: Die Geschichtswissenschaft erfährt gerade im Deutschland jener Epoche eine beschleunigte Entwicklung sowohl in methodisch-inhaltlicher als auch in institutioneller Hinsicht.79 Dieser Gesichtspunkt ist in unserem Zusammenhang von einiger Bedeutung, weil er mit der Einbindung verschiedener Aspekte der Konzeption deutscher Geschichtsschreibung in eine antirevolutionäre Ideologie aufs engste verknüpft ist, was (wie noch zu zeigen sein wird) in keinem Widerspruch zu unserer ersten Erwägung steht.80 Drittens: Obgleich wir prinzipiell nicht die Auffassung vertreten, daß die akademische Geschichtsschreibung den Anspruch erheben könne, einen allzu großen Einfluß auf die Bildung des historischen Bewußtseins der »breiten Masse« auszuüben, so kann doch kein Zweifel hinsichtlich ihres Anteils an der Kodifizierung des kollektiven Gedächtnisses bestehen.81 Es ist – so besehen – durchaus relevant zu untersuchen, welche Motive die deutschen Historiker ihrem Publikum vermitteln, und welche ideologischen Aussagen sich hinter diesen Motiven verbergen.82 Andererseits ist der Historiker selber nur ein Agent der »Tendenzen« der ihn umgebenden Realität; man kann ihn also als ein Paradigma der allgemeinen Rezeption historischer Geschehnisse begreifen, und je geladener das Ereignis in emotionaler Hinsicht ist (so wie wir es von der Französischen Revolution behaupten), desto anschaulicher erfüllt er seine objektive Funktion als symptomatischer Träger von »Tendenzen« der Realität, ideologischen Tendenzen zumal.83
1. KAPITEL
Die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution
»Jede Zeit sieht sich zwangsläufig vor die Aufgabe gestellt, die Geschichte neu zu schreiben. Sie kann nicht einfach das Bild, das sich frühere Geschlechter von der Vergangenheit gemacht haben, übernehmen und ihrem geistigen Besitz einverleiben, als wäre die überlieferte Leistung ihr eigenes Werk. […] An den berühmtesten Werken der Geschichtsschreibung vollzieht sich denn auch in der Einschätzung der Leser ein charakteristisches Schicksal. Die Zeitgenossen fassen sie auf als den Inbegriff der sachlich gültigen Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge. Sie gelten ihnen als die höchste Verdichtung des Wissens, das von einem bestimmten Gegenstande möglich ist. Den Nachfahren dagegen erscheinen diese Werke bewundernswert, sofern sie der Ausdruck einer Zeit und der Persönlichkeit des Geschichtsschreibers sind. Den Nachfahren verwandeln sie sich aus reinen Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in Zeugnisse einer menschlichen Haltung. Sie werden befragt nach dem, was sie über den Geschichtsschreiber selbst und die Zeit aussagen, in der dieser gelebt und gewirkt hat. Sie geben Anlaß zur Untersuchung und Darstellung der geschichtsphilosophischen und religiösen, der politischen und ethischen Anschauungen, durch die der Geschichtsschreiber bestimmt worden ist.«1
Es scheint, als gäbe es wenige historische Themen, die das Relative, weil Dynamische an der Rezeption eines historischen Ereignisses so beeindruckend dokumentieren, wie die Rezeption der Französischen Revolution. Man kann ohne weiteres behaupten, daß sich in der Geschichtsschreibung dieser Revolution eines der vielschichtigsten »Raschomons«, das das historische Forschungsterrain jemals hervorgebracht hat, darstellt.2 Hierfür gibt es vielerlei Gründe, wobei nicht alle mit jener zwangsläufigen Perspektivenänderung aus Gründen zeitlicher Verschiebung erklärt sind. Eine diskursive Theorie der Revolution z.B. findet sich schon zur Revolutionszeit sowohl unter ihren Verursachern als auch unter ihren Gegnern.3 Aber auch, wenn man sich vom Ereignis zeitlich entfernt und die aus »Objektivität« versprechender, historischer Perspektive verfaßte Geschichtsschreibung durchsieht, fällt doch ein ungewöhnliches Maß an Emotionalität ins Auge, das die sachliche Forschung und sogar die theoretischen Ableitungen durchdringt.4 Nicht von ungefähr trat daher François Furet mit der Erklärung, daß die »Französische Revolution beendet« sei, sowie mit der ironischen Forderung nach Gleichheit im Status des Historikers der Französischen Revolution und dessen, »der Studien über die Merowinger oder den Hundertjährigen Krieg treibt«, ohne sich »jeden Augenblick als Forscher […] legitimieren« zu müssen, hervor.5 Natürlich ist es nicht die professionelle Qualifikation, welche die Situation des Historikers der Revolution von der seiner Kollegen unterscheidet, sondern ein unentwegt reges öffentliches Klima, in dem »über die Revolution sprechen, [immer heißt]: über die Gegenwart sprechen«, wie, beispielsweise, der gefühlsgeladenen Kontroverse um Andrej Wajdas Film »Danton« im Jahre 1983 zu entnehmen ist.6 Der Historiker der Revolution wirkt in einem Rezeptionsfeld voller Gegensätze und Idiosynkrasien; er nährt zwar sein Publikum mit Daten und Befunden, mit Fakten und Analysen, aber die Rezeption seiner Schlußfolgerungen hängt nur in geringem Maß von der seiner Forschung inhärenten Logik ab, sie findet vielmehr vor allem durch die von vornherein mehr oder weniger gefestigten Rezeptionspattern seiner Leser statt. Hedva Ben-Israel hat zweifelsohne recht mit ihrer Feststellung, daß »die weitreichendsten Auswirkungen der Revolution bis hin zu unserer Zeit mit Sicherheit vom historischen Bewußtsein und von der Interpretation geprägt wurden«7; wie noch zu zeigen sein wird, war jedoch der Anteil der Historiker bei diesem Vorgang eher affirmativen als determinierenden Charakters. Die Historiker selbst waren mehr indizierendes Symptom des Rezeptionsprozesses als seine Gestalter. Es fragt sich daher: Worin wurzelt diese nicht abzubrechen scheinende, heftige Kontroverse?






