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Zunächst einmal und vor allem in der Revolution als historisch-sozialem Phänomen selbst. Von besonderer Bedeutung ist es nämlich, »ob ein Autor von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das von vornherein jede gewaltsame Umwälzung als illegitim und bedrohlich ansieht, oder ob er von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das Revolution als eine den Geschichtsprozeß vorantreibende Form des gesellschaftlichen Wandels begreift.«8 Diese paradigmatische Entscheidung ist mitunter auch für den spezifischen Fall der Französischen Revolution relevant, im Grunde liegt sie aber jedem Bild, das wir uns über Wesen und Entwicklung der Gesellschaft machen, zugrunde. Es leuchtet nur zu sehr ein, daß sich die klassischen Theorien der Soziologie im 19. Jahrhundert mit dem Konflikt als einem Schlüsselbegriff für die Erklärung sozialer Prozesse auseinandersetzten: Marx und seine Nachfolger sahen ihn als den sozialen Beziehungen immanent und für den Fortschritt notwendig an, wohingegen Durkheim und die struktur-funktionalistische Schule das Hauptgewicht auf die Frage der gesellschaftlichen Solidarität legten, wobei sie davon ausgingen, daß das Equilibrium erhalten und jede »Anomie«, gleichsam wie eine Krankheit, eliminiert werden müsse. Später versuchte man beide Auffassungen in der Synthese des sogenannten »funktionalen Konflikts« miteinander zu verknüpfen.9 Das Bedürfnis nach strukturanalytischer Durchdringung historischer Entwicklungsprozesse der Moderne bewirkte im 20. Jahrhundert verschiedene Definitions- und Theoretisierungsversuchen des Phänomens »Revolution«10, jedoch ohne bleibenden Erfolg11, denn die Möglichkeit einer theoretischen Konsolidierung ist durch einen von vornherein gegebenen Wertkonsens hinsichtlich des Phänomens selbst bedingt, und einen solchen, wie gesagt, hat es bislang noch nicht gegeben.
Dennoch scheint eine recht weit verbreitete Übereinstimmung bezüglich einer Auffassung der Französischen Revolution als Modell zu herrschen, wie Walter Bußmann behauptet: »Mögen die Definitionen von Revolutionsabläufen auch noch so verschieden sein, so besteht doch unter der Mehrzahl von Historikern und Sozialwissenschaftlern Einigkeit darüber, daß im Verlaufe der französischen Revolutionsphasen seit 1789 alle jene Merkmale nachweisbar sind, die dem Phänomen Revolution als einer ›Totalumwälzung‹ eigentümlich sind.«12 Karl Griewank schreibt dies der »den Franzosen besonders eigene Begabung für klare und klassische Formen« zu, welche »in den verschiedenen Stadien dieser Revolution Losungen und Vorbilder des politischen Denkens und Handelns [hat] entstehen lassen, die als allgemeingültig erscheinen konnten und zur Nachahmung herausforderten.«13 Mit Beziehung auf Jaurès und Mathiez sieht Georges Lefebvre in den verschiedenen Revolutionsphasen ein Bündel von Revolutionen, in welchem eine sich progressiv entwickelnde politische Linie erkennbar wird: Nach der Revolution des Adels und der des Dritten Standes ereignet sich am 10. August 1792 die demokratische und republikanische Revolution und am 2. Juli 1793 eine vierte, welche die soziale Demokratie vorzeichnet; er fügt noch hinzu, daß wenn Babeuf erfolgreich gewesen wäre, hätte es gar eine fünfte Revolution gegeben.14 Auch Walter Markov meint, das »dem Geist und der Sprache der Franzosen einwohnende Regelmaß« sei in dem »cartesianisch übersichtlichen Rhytmen-Ablauf« der Revolution zur Geltung gekommen: »Constitutionelles, Feuillants, Girondins lösten sich am jeweiligen Etappenziel der Umwälzung als adäquate Führungskerne ab, um ihrerseits am 2. Juni 1793 der Montagne zu weichen […]«.15
Die in diese Formulierung eingeschleuste Dramaturgie spiegelt wesentliche Elemente der marxistischen Revolutionstheorie wider: Hinter der Fassade politischer Auseinandersetzungen ereignen sich in Wahrheit soziale Kämpfe, welche als die eigentlich determinanten Faktoren der revolutionären Radikalisierung zu begreifen sind; die Radikalisierung muß ihrerseits als Ausdruck einer Notwendigkeit in zweierlei Hinsicht verstanden werden: einer subjektiven Notwendigkeit der Emanzipation von den durch die materielle Basis bestimmten sozialen Verhältnissen und einer objektiven Notwendigkeit der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur infolge eines wesentlichen Wandels dieser materiellen Basis selbst. Der latente Determinismus einer solchen Auffassung gründet praktisch auf der normativen Annahme eines Strebens des Menschen nach Emanzipation a priori und auf der induktiv konstruierten Voraussetzung eines immerwährenden Fortschritts in der Entwicklung der Produktionsmittel. Nicht immer befindet sich aber das subjektive Bewußtsein in Übereinstimmung mit der objektiven gesellschaftlichen Situation. Revolutionäres Bewußtsein manifestiert sich demzufolge in jenem Bewußtsein, das sich eine Einsicht in die Notwendigkeit des Kampfes um die Veränderung sozialer Verhältnisse im Sinne der eigenen (Klassen-) Interessen zueigen gemacht hat. Die praktischen Auswirkungen dieses Ausgangspunktes entspringen dem eine Vielfalt konkurrierender Interessengruppen erzeugenden gesellschaftlichen Antagonismus. Die Entfernung einer Klasse von ihren Herrschaftspositonen garantiert allerdings noch keineswegs die Erfüllung der Interessen der sich gegen sie erhebenden sozialen Gruppen; und da die klassische marxistische Theorie prinzipiell davon ausgeht, daß keine Phase der objektiven Entwicklung »übersprungen« werden könne, ist es quasi unumgänglich, daß sich im Rahmen der Revolution selbst eine evolutionäre Dynamik der einzelnen Phasen entwickelt. In dieser Hinsicht konnte sich die jakobinische Diktatur erst dann etablieren, nachdem die Girondisten die Anhänger der konstitutionellen Monarchie gestürzt und nachdem diese formal den Untergang des Ancien Régime herbeigeführt hatten. Die Radikalität verändert sich also im Zuge der objektiven Entwicklung, diese aber wird ihrerseits von den aufeinanderfolgenden Stadien des evolutionären Radikalisierungsprozesses bestimmt.16
Die Anziehungskraft dieses Paradigmas liegt in der ihm innewohnenden dialektischen Verbindung der nüchternen Analyse menschlicher Beziehungen im gesellschaftlichen Kollektiv mit der emanzipatorischen Verheißung einer möglichen Zukunft dieser Beziehungen. Es wundert daher nicht, daß die sozialistischen Historiker der Französischen Revolution und ihre Kollegen marxistisch-leninistischer Provenienz17 in ihm eine feste Basis für die Interpretation der Revolution als einem für die weiteren historischen Entwicklungen höchst einflußreichen Modell fanden, denn »erst nach 1789 kam der Gedanke auf, daß das Ziel einer politischen Revolution die soziale Emanzipation aller Menschen, die Umwandlung der Gesellschaftsstruktur selber, sei.«18
Andererseits genügte es, das Axiom des marxistischen Paradigmas (wonach die materielle Basis als Determinante zu erachten sei) in Zweifel zu ziehen, um zu einer völlig anderen Bewertung des Wesens der Französischen Revolution zu gelangen. In der wohl provokantesten Form vollzog dies François Furet und rief somit eine für die Fragestellung höchst relevante, wenn auch zuweilen polemische Debatte ins Leben.19 Nach Furets Auffassung handelt es sich bei der Französischen Revolution in erster Linie um eine politische Revolution. Er hat den Antagonismus zwischen den Abgeordneten der Nationalversammlung (die »Gesetze im Namen des Volkes, das sie angeblich vertreten«, machen20) und den Männern in den Sektionen und den Klubs (die »[das Volk] sind«21) im Auge, wenn er postuliert: »Das geläufigste Mißverständnis in der Historiographie der Französischen Revolution besteht darin, diese Zweiteilung auf einen sozialen Gegensatz zu reduzieren, indem man im voraus einer der rivalisierenden Mächten das zubilligt, was eben gerade das unbestimmte und buchstäblich ungreifbare Streitobjekt des Konflikts ist, nämlich das Vorrecht, den Volkswillen darzustellen.«22 Wenn also ein A.S. Manfred davon ausgeht, daß die Jakobiner als Partei des Bürgertums, der Bauern und der städtischen Plebejer das französische Volk vertraten, weil diese gesellschaftlichen Schichten eben die Majorität in ihm ausmachten23, so sieht Furet in der Konstruktion einer solchen »Volksfront« zur Zeit der Regierung des Wohlfahrtsausschusses eine »Scheinerklärung der politischen Dynamik der Französischen Revolution«, welche durch die Reduktion des Politischen auf das Soziale gerade das »normalisiert«, was es zu erklären gilt, »nämlich, daß die Revolution diese Symbolik in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellte und daß die Machtkonflikte vorläufig durch sie und nicht durch die Klasseninteressen entschieden werden.«24 Eine solche Auffassung widerspricht auch der auf Plechanows Erörterungen fußenden Erklärung J.Sachers, wonach jeder Klassenkampf ein politischer sei, mit der entsprechenden Folgerung, die Sansculotten hätten sich mittels ihres politischen Kampfes die Erfüllung ihrer sozialen Aspirationen erhofft.25
Nicht nur hinsichtlich der direkten ideologischen Implikationen, sondern auch für die Strukturanalyse der revolutionären Anfangsphasen erweist sich Furets paradigmatische Modifikation als höchst bedeutungsvoll. Wenn, beispielsweise, Manfred die »künstliche Zergliederung des lebendigen Gewebes des historischen Prozesses« beklagt und (im Gegensatz zu den sozialistischen Historikern Frankreichs, welche die Zeit zwischen 1789 und 1794 in verschiedene Entwicklungsstadien untergliedern) deklariert, daß diese Zeit »einen einzigen, unteilbaren revolutionären Prozeß« bilde26, so sprechen Furet und Richet von drei schon im Sommer 1789 stattfindenden, verschiedenen und voneinander unabhängigen Revolutionen27: der Revolution der Abgeordneten in Versailles, der Revolution der kleinbürgerlichen Schichten in der Stadt und der Revolution der Bauern auf dem Land, wobei man wenigstens die zwei letzten dieser Revolutionen einer alten »Tradition« von Handwerker-, Gesellen- und Bauernrevolten zuzuordnen habe.
Diese Hervorhebung ist gewichtig, denn es deuten sich in ihr zwei weitere kontroverselle Aspekte der historiographischen Debatte an: das Problem der Ursachen der Revolution und die Frage nach dem Stellenwert der Revolution in der historischen Kontinuität. Auch in diesem Zusammenhang sind jedoch die Unterschiede nicht in den Fakten oder Befunden zu suchen, sondern vielmehr in den sich widersprechenden Interpretationen, welche ihrerseits wiederum von den unterschiedlichen paradigmatischen Ansätzen herrühren; die Ursachen der Revolution28 stellen sich hierbei als weniger umstritten heraus als die Bedeutungen, die ihren Auswirkungen beigemessen werden.
So beschreibt z.B. Markov ein engmaschiges Netz von wirtschaftlichen, politisch-sozialen und institutionellen Konfliktherden im Ancien Régime (und Mathiez spricht von dem sich täglich »vertiefenden Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und den Gesetzen, zwischen den Einrichtungen und den Sitten, zwischen dem Geist und dem Buchstaben«29), um resümierend zu folgern, daß das Unterfangen, jenen Staat »mit den Mitteln einer rationalen, d.h. in der Sache also bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung leistungsfähiger zu gestalten, ohne seinen feudalen Klassencharakter anzutasten«, einer »Quadratur des Kreises« gleiche.30 Die historisch-materialistische Schule vertritt also die Auffassung, daß die einzelnen antagonistischen Erscheinungen objektiv als Hebel zur Zerschmetterung von Struktur und Gestalt des alten feudalen Staates dienten – dies zumindest von jenem Zeitpunkt an, wo das Bürgertum genügend entwickelt und konsolidiert war, um die Beseitigung der Diskrepanz zwischen seiner wirtschaftlichen und seiner konkreten politischen Macht anzustreben.31 Andererseits sind sich auch marxistische Verfasser dessen bewußt, daß man den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht als ein kurzfristiges revolutionäres Ereignis begreifen könne:
»Als bürgerliche Revolution bildet die Französische Revolution nicht selbst einen solchen Übergang, vielmehr wird dieser erst durch die Industrielle Revolution zwischen 1830 und 1860 vollzogen […]. Aber indem die Revolution das Gesellschaftssystem des Ancien Régime und gleichzeitig auch das damit verbundene absolutistische Staatswesen zerstörte, ebnete sie den Weg […] und verwirklichte sie die notwendigen Voraussetzungen für den Aufschwung des liberalen Kapitalismus.«32
Diese makrohistorische These des Marxismus rief eine besonders heftige Kritik hervor.33 Furet rechnet in diesem Zusammenhang mit der Vulgarisierung der Marxschen Lehre in der Historiographie der Französischen Revolution ab, indem er behauptet, sie stelle »die Welt auf den Kopf«, weil sie außerstande sei, sich von den Illusionen und Werten des historischen revolutionären Bewußtseins zu lösen. Das Ergebnis sei ein Versäumnis, gerade »das radikal Neueste und Geheimnisvollste an der Französischen Revolution« zu erfassen, denn weder der Kapitalismus noch die Bourgeoisie hätten, um sich auszubreiten und die wichtigsten europäischen Länder des 19. Jahrhunderts zu beherrschen, Revolutionen nötig gehabt: »Aber Frankreich ist das Land, das durch die Revolution die demokratische Kultur erfindet und das der Welt einer der grundlegenden Bewußtseinslagen des historischen Handelns offenbart.«34 Im ersten Teil dieser Äußerung kommt die Annahme zum Ausdruck, der Feudalismus als soziales und wirtschaftliches System habe schon in der Periode vor der Revolution und ohnehin in dieser selbst keinen Bestand mehr gehabt, und daß von daher der Gebrauch des Begriffs »Feudalismus«, sowohl in der Revolutionszeit als auch in der nachmaligen Interpretation, die Erfassung des Prozesses konzeptuell entstelle. Albert Soboul hingegen akzeptiert zwar die Ablehnung des Vergleichs des mittelalterlichen Feudalismus mit den herrschenden Zuständen um 1789, er besteht gleichwohl aber darauf, daß »für die Zeitgenossen, die Bürger und noch mehr für die Bauern dieser abstrakte Begriff eine Realität umschloß, die ihnen sehr bekannt war (Feudalrechte, lehensherrliche Gewalt) und die schließlich hinweggefegt wurde.«35
Die Debatte um diesen Aspekt der Revolutionsinterpretation spiegelt ein grundlegendes Mißverständnis in bezug auf die Bedeutung der Französischen Revolution bei Marx und Engels wider. Dieses Mißverständnis hängt mit dem Gebrauch des Begriffs »bürgerliche Revolution« zusammen, und nach Eberhard Schmitt stehen in dieser Hinsicht Furet und Richet den »beiden Klassikern der materialistischen Geschichtsschreibung« näher als die heutigen Marxisten-Leninisten. Er weist darauf hin, daß, ähnlich wie Marx und Engels, auch die beiden französischen Historiker die Revolution als einen »Übergang von der altständischen Privilegiengesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, vom absolutistischen Staat zum modernen Repräsentativstaat« begreifen, und daß auch sie das »Hauptergebnis der Revolution für die soziale Schicht der Bourgeoisie« in der »Errichtung des Staatsführungsmonopols« sehen.36 Es handelt sich hierbei freilich um ein vermeintliches Paradox: Zunächst muß vorausgeschickt werden, daß sich weder bei Marx noch bei Engels eine systematische Analyse der Französischen Revolution findet, und daß sich jedes Unterfangen, ihre Einstellung zu dieser darzustellen, zwangsläufig auf sporadisch auftretende, zuweilen aphoristische Äußerungen, die an verschiedenen Stellen ihrer Schriften verstreut sind, stützen muß.37 Beide begriffen sich ja selber nicht als ideographisch operierende Historiker; die spezifische historische Erscheinung oder Gestalt dient ihnen oft lediglich als pointiert symbolische Illustration einer Behauptung, die sich strukturell in ihre allgemeine Geschichtstheorie einfügt. Marx’ berühmtes Diktum in der »Heiligen Familie« gibt hierfür ein gutes Beispiel ab:
Die »französische Revolution [hat] Ideen hervorgetrieben, welche über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung, welche 1789 im Cercle social begann, in der Mitte ihrer Bahn Leclerc und Roux zu ihren Hauptrepräsentanten hatte und endlich mit Babeufs Verschwörung für einen Augenblick unterlag, hatte die kommunistische Idee hervorgetrieben, welche Babeufs Freund, Buonarroti, nach der Revolution von 1830 wieder in Frankreich einführte. Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes.«38
Es steht wohl außer Frage, daß dieser tolldreiste Sprung vom Cercle social des Jahres 1789 bis hin zur Revolution von 1830 – wobei ein Robespierre und ein Marat übergangen werden, dafür aber Roux (den Richard C. Cobb als »eine der sympathischsten Persönlichkeiten der Revolution« beschreibt, die gleichwohl kein »Vorläufer irgendeines politischen Glaubens des 19. oder 20. Jahrhunderts« gewesen sei) und Leclerc (von dem Cobb meint, er habe »kein wirkliches Verständnis für die Nöte des Volkes« gehabt39) ausdrückliche Erwähnung finden – nicht den Anspruch erhebt, den Verlauf der Französischen Revolution widerzuspiegeln; und dennoch sind in ihm wichtige Elemente der Marxschen Revolutionsinterpretation enthalten: Die Französische Revolution »treibt« die Idee eines neuen Weltzustandes hervor, deren Verwirklichung in eine unbestimmte Zukunft verlagert wird. D.h., Marx würdigt wohl die höchste Bedeutung der Revolution als Etappenstation auf dem Weg zum erstrebten Ziel der sozialen Revolution, er gibt sich jedoch keinerlei Illusion hin, was das in dieser Revolution unmittelbar Erreichte anbelangt.40 Wohl sieht er die Notwendigkeit einer politischen Revolution ein, ist sich aber auch ihrer Grenzen bewußt, wie seine Stellungnahme zur Pauperismusfrage deutlich genug bezeugt.41
Auf der Grundlage dieses Ansatzes ist auch seine Einstellung den Jakobinern und dem Terror gegenüber zu verstehen: Die Jakobiner mußten jene (wohl immer noch) umstrittene Methode anwenden, weil die wahren Sieger der Revolution, dazu nicht fähig gewesen wären: »Die Schreckensherrschaft mußte […] in Frankreich nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege.«42 In anderem Zusammenhang wird Marxens zwiespältige Beziehung zum Terror noch deutlicher: »Der ganze französische Terrorismus war nichts als eine plebejische Manier, mit den Feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum, fertigzuwerden.«43
Marx’ Zugang ist also seinem Wesen nach funktioneller Natur. Die tatsächlichen historischen Ereignisse erhalten ihren wahren Stellenwert erst im nachhinein, wenn sich sozusagen die Beendigung einer Zwischenetappe im Gesamtprozeß einschätzen läßt. Die unmittelbare Funktion des Terrors (die Absicherung des Sieges der Revolution), auf die Engels in späten Jahren in einem Brief an Kautsky hingewiesen hat44, interessiert Marx in geringerem Maße, denn es handelt sich für ihn hierbei lediglich um die unmittelbare Rettung der politischen Revolution. Man kann daher geteilter Meinung sein über Avineris Behauptung, Marx habe den Terror »aufs höchste« verurteilt; er hat gleichwohl zweifelsohne recht in seiner Feststellung, daß Marx’ Auffassung zufolge, »der Terror sich aus dem Wesen des jakobinischen Versuchs erklärt, eine politische Ordnung zu verwirklichen, der die sozio-ökonomischen Grundlagen fehlten, welche allein eine solche Verwirklichung ermöglichen können«, und daß demnach allein »das Fehlen dieser Grundlagen es dazu brachte, daß das politische Instrument (d.h. der Terror) zum einzigen Weg wurde, die Veränderung zu vollziehen.«45
Andererseits – und dies ist wohl Marx’ wahres Anliegen – enthüllt sich für ihn in den Jahren 1793-94 ein neuer Klassengegensatz, welcher seine Bedeutung daraus gewinnt, daß mit ihm in der Französischen Revolution jener »Schatten« der Bourgeoisie, das Proletariat, als ein durch eigene Aspirationen und Forderungen gekennzeichnetes Kollektivsubjekt zum Vorschein kommt.46 Aber auch in dieser Hinsicht kennt er die historischen Grenzen recht genau: »Als die französische Bourgeoisie die Herrschaft der Aristokratie stürzte, machte sie es dadurch vielen Proletariern möglich, sich über das Proletariat zu erheben, aber nur, insofern sie Bourgeois wurden.« Er folgert also: »Jede neue Klasse bringt […] nur auf einer breiteren Basis als die der bisher herrschenden ihre Herrschaft zustande, wogegen sich dann später auch der Gegensatz der nichtherrschenden gegen die nun herrschende Klasse um so schärfer und tiefer entwickelt.«47
Diese Synthese zwischen dem Noch-nicht-Daseienden und dem andeutungsweise Im-Kommen-Begriffenen ist es, die die Bewertung der politischen Ergebnisse der Französischen Revolution bei Furet und Richet von der Marxens unterscheidet. Den französischen Historikern zufolge stellen diese Ergebnisse, wie wir hervorgehoben haben, die Verheißung an die Welt dar, wohingegen sie dem deutschen Denker vor allem als Symptom der objektiven sozialen und wirtschaftlichen Beschränkungen des sie hervorbringenden Zeitalters gelten, so wichtig sie auch sonst sein mögen. Mehr als auf die Französische Revolution ist Marx’ Interesse auf die sozialistische gerichtet48; sofern er überhaupt der Bezugnahme auf »historische Helden« bedarf, ist sein Augenmerk auf die embryonale Symbolik der Gestalten eines Roux oder eines Leclerc beziehungsweise auf die verhaltene Pionierhaftigkeit Babeufs gerichtet – diese sind ihm die historischen Wegzeichen des Kommunismus, welcher in seiner Zeit noch keinerlei Realität besitzt außer der ideellen Wirklichkeit einer Vision des »neuen Weltzustandes«, deren Wurzeln er aber freilich, wie schon gesagt, in der Französischen Revolution findet.
Da jedoch eine Verwirklichung des Kommunismus ohne Proletariat doch objektiv nicht möglich ist, die Bewußtwerdung des Proletariats sich aber nur in der gesellschaftlichen Praxis des bürgerlich-kapitalistischen Systems vollziehen kann, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Französischen Revolution bei Marx und Engels von einem anderen Aspekt: Ist die Revolution als »historischer Bruch« oder lediglich als katalysierende Station auf der Achse einer langfristigen historischen Kontinuität zu begreifen?49
Die Problemstellung in einer solchen dichotomischen Auslegung ist für sie offenbar bedeutungslos. Engels z.B. erklärt: »Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft.«50 Zwar bezeichnet Engels auch die Veränderung der ökonomischen Grundlage als »Umwälzung«, es ist indes wohl unverkennbar, daß es sich hierbei um einen ungleich weniger explosiven und dramatischen Prozeß als bei der politischen Revolution handelt, eben um eine »stillere Umwälzung«, und es läßt sich noch hinzufügen: Sofern der da erst ansetzende Verbreitungsprozeß jener »neuen Werkzeugmaschinerie« gemeint ist, so muß man ihn als einen graduell fortschreitenden, in seinem Wesen evolutionären Prozeß begreifen. Was sich hier historisch als Parallelverlauf darstellt, sind im Grunde Faktoren einer engen dialektischen Beziehung, die man letztlich nicht auseinanderhalten kann. Der springende Punkt ist, daß eine Veränderung in den materiellen Grundlagen der Gesellschaft determinant ist für die Modifizierung der Lebensweise und des aus ihr resultierenden Klassenbewußtseins. Der Funke zu der sich im politischen Kampf objektivierenden Revolution entspringt demnach einem evolutionären Prozeß: Der »Bruch« ist also keine Alternative der »Kontinuität«, sondern ein konsequentes Ergebnis der in ihr herangereiften konfliktträchtigen Widersprüche. In diesem Sinne sollte man Schmitts und Meyns Behauptung verstehen, daß auch wenn die Französische Revolution »für die ökonomische Entwicklung Frankreichs und Europas von vergleichsweise geringer Bedeutung [war], so war sie aus der Sicht von Marx und Engels für die Entwicklung der Bourgeoisie und des Proletariats als Klassen in ihrem dialektischen Bewußtsein voneinander von kaum zu überschätzender Bedeutung.«51 Jedoch, gerade weil die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft eine für den sozialen Fortschritt unabdingbare Phase darstellt, muß der Stellenwert dieser bedeutenden Revolution relativiert werden: »Marx und Engels haben ihre Sicht niemals auf ein einziges europäisches Land beschränkt. Aus dieser Sicht kommt den unterschiedlichen Ländern Europas jeweils eine besondere Funktion zu. Das Wesen der bürgerlichen Revolution spiegeln sie in ihrer Gesamtheit.«52