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Diese Schlußfolgerung muß hervorgehoben werden; enthält sie doch den Hinweis darauf, daß die relevanten Variablen für die nach der Auffassung von Marx und Engels anzusteuernde Entwicklung sich letztlich nicht auf nationaler, sondern eben auf internationaler Klassenebene befinden. Vergleichsanalysen von Ländern, die sich zuweilen in ihren Schriften finden, werden in methodischer Absicht vorgenommen und nicht etwa wegen eines spezifischen Sentiments für diese oder jene Nation – das wertbeladene Postulat und das konfliktorientierte Kampfprinzip, die ihrer Gesellschaftstheorie sowohl als objektive Notwendigkeit als auch als »Schlachtruf« unterlegt sind, beziehen sich auf die Emanzipation aller Menschen, ihr Zweck ist universell.53
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, als ließe sich auch hinsichtlich der Konzeption eines in der »Kontinuität« verankerten historischen »Bruchs« eine Ähnlichkeit der Auffassung Furets mit der von Marx und Engels feststellen. Reiht doch Furet – sich paradigmatisch auf die Ansätze Tocquevilles und Cochins54 stützend – die Französische Revolution als integralen Bestandteil in den Verlauf französischer Geschichte der letzten Jahrhunderte ein. Nicht von ungefähr lehnt sich sein Zugang hierbei an diese beiden Denker; Tocqueville z.B. schreibt schon zu Beginn des Vorwortes seines Buches »Der alte Staat und die Revolution«:
»[…] Ich war überzeugt, daß sie [die Revolutionäre von 1789], ohne es zu wissen, großenteils die Gesinnungen, Gewohnheiten, ja sogar die Ideen des alten Staates beibehalten hätten, mit deren Hilfe sie die Revolution, die ihn vernichtete, bewerkstelligten, und daß sie, ohne es zu wollen, sich seiner Trümmer bedient hätten, um das Gebäude der neuen Gesellschaft aufzuführen, so daß man, um die Revolution und ihr Werk richtig zu verstehen, das gegenwärtige Frankreich einen Augenblick vergessen und das ehemalige Frankreich in seinem Grabe befragen müsse.«55
Von dieser Grundlage ausgehend, folgert Furet, daß die Revolution »kein neues Volk, kein neues Frankreich« geschaffen habe, und daß sie »viel eher das Ergebnis, die Krönung von Tendenzen, die in der Gesellschaft des Ancien Régime am Werk waren,« sei, »als eine radikale Umwandlung Frankreichs und der Franzosen.« Er betont zugleich das »politische« dieses Ergebnisses in der Auffassung Tocquevilles.56 Ähnlich verhält es sich für ihn mit Cochin, der »nicht nach den Ursachen [fragt], die die Revolution möglich machten, sondern nach der durch die Revolution möglich gewordenen Geburt einer neuen kulturellen Legitimität, der Gleichheit, die von der Entwicklung einer neuen politischen Spielregel, der ›reinen Demokratie‹ begleitet wird«.57 Es handelt sich also wiederum um eine nur vermeintliche Nähe des Furetschen Interpretationskonzepts zu der Auslegung von Marx. Die unterschiedliche Gewichtung der das Paradigma konstituierenden Elemente (soziale und politische Dimension) und die entgegengesetzte Auffassung des Kausalzusammenhanges sind auch hier unverkennbar.
Die bisherige historiographische Darstellung könnte jedoch den Eindruck aufkommen lassen, als setze sich Furet in seiner Debatte mit Marx auseinander. Dem ist natürlich nicht so; der scharfe polemische Ton seines »revolutionären Katechismus«58 richtet sich vorwiegend gegen Tendenzen der französischen sozialistischen Geschichtsschreibung der Revolution, und seine Bezugnahme auf die von ihm sobezeichneten »marxistischen Vulgata« hat keine Kritik Marxens, sondern die der ideologischen Glorifizierung der Revolution im linken »Lager« zum Inhalt.59
Andererseits muß betont werden, daß die linke Historiographie selber keineswegs als homogen aufzufassen sei. Natürlicherweise hebt sie die zentrale Funktion der Massen im revolutionären Prozeß hervor; schon Anfang des Jahrhunderts bemerkte indes Heinrich Cunow, der Dritte Stand sei »schon bei seinem ersten politischen Auftreten nichts Einheitliches« gewesen, sondern »ein Konglomerat verschiedener Erwerbsgruppen mit mannigfaltig differierenden Interessen«, und beklagte den Umstand, daß nichtsdestotrotz »diese Klassenschichtung im ›dritten Stand‹ und die ihr zugrunde liegende wirtschaftliche Struktur […] in den Geschichtswerken über die große französische Revolution fast gar keine Beachtung« fänden.60 Mehr noch: Sofern die Lage von Minderheiten als »Indiz für den Stand der Emanzipation einer Gesellschaft« gesehen werden kann, so stellt sich heraus, daß die Revolution, wenigstens in ihren Anfangsphasen, keinesfalls eindeutig, geschweige denn entschieden und bestimmt gewesen ist.61 Die Zusammenballung von Gegensätzen und Widersprüchen innerhalb der revolutionären historischen »Massen« sowie deren zunehmende Radikalisierung mußten daher ihren Niederschlag in den verschiedenen ideologischen Strömungen der Historiographie finden.
So behauptet George Rudé (der in den sechziger Jahren die Masse des 18. und 19. Jahrhunderts als eine der Verwirklichung ihrer Ziele durchaus nachstrebenden Entität, welche diese gleichwohl aber nicht immer klar zu artikulieren vermag, darstellte62), daß »die Haltung der Sansculotten gegenüber sozialen und politischen Problemen der Epoche nicht ganz eindeutig« gewesen sei, daß ihnen (weil sie »aus den verschiedenartigsten Elementen« bestanden) »der Zusammenhalt einer sozialen Klasse« gefehlt habe, und daß sie daher nicht imstande gewesen seien, »eine bewußte ›Vorhut‹ der Revolution zu bilden«; folgerichtig mißt er denn auch den Streiks in Paris eine viel geringere Bedeutung bei als den Hungerrevolten und stellt fest, daß es vor allem der Brotpreis und nicht der Lohn gewesen sei, der die Arbeiter sowie die übrigen kleinen Konsumenten in den Revolutionsjahren beschäftigt habe.63 Eine ähnliche Position bezieht der wohl bedeutendste Sansculotten-Forscher Albert Soboul. Auch er vertritt die Meinung, daß der die sozialen Kämpfe der Pariser Massen dominierende Faktor nicht in den Fabrikarbeitern oder im »Vorproletariat«64, sondern in einem »Bündnis von Meistern und Gesellen« zu sehen sei. Die Arbeiter seien meist »vom Handwerkergeist und der Ideologie des Kleinbürgertums durchdrungen« gewesen, sodaß sie weder in ihrem Denken noch in ihrem Handeln »ein unabhängiges soziales Element« bilden konnten.65
Demgegenüber sind die auf Rudés Behauptungen gegebenen Antworten Jakob Sachers und Sophie A. Lottés durch den beharrlichen Versuch gekennzeichnet, das »Vorproletarische« zumindest eines Teils der Sansculotten zu bewahren. So z.B. spricht Sacher vom »tiefgehenden Egalitarismus der plebejischen Massen (und vor allem ihres vorproletarischen Kerns) […], der sich vom seichten Egalitarismus der jakobinischen Bourgeoisie« wohltuend unterscheide66; und Lotté bemerkt gar: »[…] im vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts hatte das Leben aller Schichten des Vorproletariats gewisse gemeinsame Züge, die zu ähnlichen Forderungen gegenüber verschiedenen Kategorien von Unternehmern führten.«67
Die Verwendung des Begriffs »Vorproletariat« verfolgt zweierlei Zwecke: Einerseits soll sie die methodische Identifizierung jener Gruppen innerhalb der Masse ermöglichen, von denen behauptet werden kann, sie hätten schon in jener »politischen Revolution« ein soziales Bewußtsein gehabt. Andererseits erfüllt sie ein außeranalytisches Bedürfnis, indem durch sie sozusagen die Väter des großen Proletariats, zumindest begrifflich, in die Welt gesetzt werden – hat doch jenes »große Proletariat […] das Recht auf die sorgfältige und wissenschaftliche Erforschung seiner Geschichte in allen Ländern.«68 Akzeptiert man jedoch den Hinweis Sobouls darauf, daß der Ausdruck »Vorproletariat« »im Hinblick auf die künftige soziale Entwicklung« erfunden worden sei69, und Marx’ Feststellung, daß das, »was man mit den Worten ›Bestimmung‹, ›Zweck‹, ›Keim‹, ›Idee‹ der früheren Geschichte bezeichnet, weiter nichts ist als eine Abstraktion von der späteren Geschichte, eine Abstraktion von dem aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübt«70, so erhebt sich die Frage: Was liegt marxistischen Historikern im 20. Jahrhundert so sehr daran, die Geschichte des proletarischen Klassenbewußtseins nach hinten hin zurückzuverlängern, wenn sich doch Marx und Engels selber mit dem Postulat begnügen, daß die Geschichte der Menschen objektiv eine Geschichte des Klassenkampfes sei, auch dann noch, wenn das subjektive Bewußtsein dessen nicht besteht bzw. historisch nicht bestehen kann? Es scheint, als hinge die Antwort hierauf mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem der jeweilige Verfasser seinen Bestrebungen nachkommt: Für den im 20. Jahrhundert, nach der Oktoberrevolution, schreibenden Historiker hat die Französische Revolution eine affirmative Funktion; die Revolutionsgeschichte gewinnt an Bedeutung durch eine im nachhinein konstruierte, polsternde Legitimierung des begangenen Weges – die Historiographie wird zum ideologischen Akt.71 Marx und Engels hingegen war die Französische Revolution vor allem das Sprungbrett zur theoretischen Erkenntnis und die empirische Erweiterung einer praktisch orientierten Lehre, welche (wenn man will) den theoretischen Überbau einer zukünftigen proletarischen Revolution abgeben sollte; sie schrieben aus utopischer Position.72 Um jegliches Mißverständnis aus dem Weg zu räumen, sei hier nochmals darauf hingewiesen, daß wir (im Gegensatz zu Cobban73) die Tendenz, historische Entwicklungen anhand ihrer nachmaligen Ergebnisse zu beurteilen, nicht nur als durchaus akzeptabel, sondern, wie wir bereits oben darlegten, als unumgänglich erachten.
Besonders scharfen Widerspruch der marxistischen Revolutionshistoriker riefen die Thesen Daniel Guérins hervor74. Mehr als andere verficht er die Auffassung eines embryonal schon zur Zeit der Jakobinerherrschaft bestehenden proletarischen Klassenbewußtseins der Sansculotten und sammelt Zeugnisse ihrer Aktivität in den Sektionen, welche »bereits einen Beweis der Fähigkeit zur Selbstverwaltung« liefere.75 Gegenüber der zwielichtigen Egalitarismusideologie des revolutionären Bürgertums entdecken – so Guérin – jene »bras nus« spontan das »politische System der direkten Demokratie, [das] völlig verschieden war von der liberalen Demokratie, wie die Bourgeoisie sie verstand.«76 Guérin beraubt somit sowohl die »ängstlich um die Wahrung ihres Monopols in öffentlichen Angelegenheiten besorgten Bourgeois« als auch die Theoretiker der Revolution und bis zu einem gewissen Grad auch die die Sansculotten anführende jakobinische Elite ihrer Schirmherrschaftsfunktion. Dies kann nicht allzu sehr überraschen; war doch die Problematik der Führung des revolutionären Proletariats unter den Marxisten selbst von jeher umstritten. So hat Joachim Israel darauf hingewiesen, daß unterschiedliche Theoretiker, wie der junge Lukács, Rosa Luxemburg, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, die Auffassung vertraten, daß wenn »das Proletariat auf Grund seiner faktischen Situation – des Ausgebeutet- und Unterdrücktwerdens – eine historische Mission hat, dann wird es sich seiner historischen Situation bewußt werden und die politischen und organisatorischen Mittel entwickeln, die es zur Erfüllung dieser Mission braucht«77; die alternative Auffassung habe in Lenin und den Theoretikern der stalinistischen Epoche ihre Vertreter gehabt: »Sie behauptet, daß das Proletariat nicht fähig sei, ein revolutionäres Klassenbewußtsein zu erlangen. Dieses Klassenbewußtsein muß durch eine Elite, die in einer revolutionären Partei organisiert ist, in das Proletariat eingebracht werden.«78
Dieses bedeutungsvolle Thema, das angesichts der Entwicklungen im 20. Jahrhundert an aktueller Brisanz gewann, wird also auf das Ende des 18. Jahrhunderts verlagert. Damals – so läßt sich Guérins Interpretation verstehen – war die Konfrontation des Problems von besonderer Relevanz, denn »Danton und Robespierre, die Retter der Bourgeoisie, haben ›das Volk geschickt verraten‹«.79 Das Volk seinerseits benötigt aber eine solche Führung gar nicht, es ist imstande, seine Schwächen aus eigener Kraft zu meistern: »Keine Anarchie, kein Schwanken bei dieser neuen, improvisierten Verwaltung durch das Volk. […] Man sieht hier, wie die Masse, als wäre sie sich ihres natürlichen Hanges zur Undiszipliniertheit bewußt, ständig besorgt ist, sich selbst zu disziplinieren.«80
Eine solche provokant radikale Auffassung mußte die heftige Kritik marxistischer Historiker hervorrufen.81 Georges Lefebvre stellt entschieden fest, die Französische Revolution habe die vom hohen Adel auf die Gesellschaft ausgeübte Herrschaft gestürzt, dies (und nichts mehr) sei ihr Sinn und Zweck gewesen. Das Volk habe zwar die Revolution gerettet, »aber es konnte das nur im Rahmen und unter der Führung der Bourgeoisie tun.« Überdies seien die Sansculotten keinesfalls als Proletariat zu begreifen; habe doch die Mehrzahl unter ihnen dem Kleinbürgertum angehört: »Sie waren an die bürgerliche Ordnung gebunden, weil sie bereits Eigentümer waren oder danach strebten, es zu werden«. Die große Masse dessen, was Guérin als »bras nus« bezeichnet, sei nicht durch den proletarischen Wunsch motiviert gewesen, die Gesellschaftsstruktur zu verändern, sondern habe Brot gewollt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was die Bourgeoisie selbst anbelangt, unterscheidet Lefebvre zwischen zwei Kategorien in ihr: Die eine habe die Versteinerung der sozialen Hierarchie und die Absperrung der Mobilität der unteren Schichten gewollt. Es habe aber auch eine zweite Kategorie gegeben, welche es als die Pflicht der politischen Demokratie erachtete, den sozialen Aufstieg zumindest zu begünstigen. Die in der Erklärung der Rechte von 1793 auf Antrag Robespierres eingefügte Bestimmung, daß die »staatliche Unterstützung« eine »heilige Schuld« sei, habe man als den »ersten Keim einer Sozialversicherung« zu sehen, und so folgert Lefebvre: »Die Montagnards haben sich in das Buch der Geschichte eingeschrieben als die Ahnen dessen, was man seither soziale Demokratie genannt hat […]«.82
Die heftige Kontroverse zwischen Guérin und Lefebvre ist von großer Bedeutung, weil sie einen Höhepunkt der ideologischen Debatte im Lager der marxistischen Historiker bildet. Ernest Labrousse hat auf die historiographische Linie hingewiesen, welche sich von Aulards politisch dominierten Ereignisgeschichte, über die Verbindung von Sozial- und politischer Geschichte bei Mathiez bis hin zur »Klasse als materiellem und geistigem Phänomen, eingebettet in den Zusammenhang der historischen Ereignisse und Besonderheiten« im Werk Lefebvres durchzieht.83 Mit Guérins Buch besteigt nun zum ersten Mal jene anonyme Masse der Gesellschaft, jene Erniedrigten und Beleidigten, die historiographierte Bühne der Geschichte, jedoch nicht mehr als utopische Vision oder als ideologische Funktion anderer Sozialschichten, sondern als gesellschaftliche Kategorie, welche ihrem Bestehen durch Aktionen, die ihre politische Mündigkeit und ihr angehendes Klassenbewußtsein bezeugen, Ausdruck verleiht. Um die Individuation dieses kollektiven Wesens zu gestalten, sieht sich Guérin gezwungen, es mit einem diskreditierten jakobinischen Establishment zu konfrontieren. In dieser Weise wird Danton, aber auch Robespierre, zum »Verräter«. Ohne auf die historische Wahrhaftigkeit einer solchen Auffassung einzugehen, läßt sich behaupten, daß sie die meisten marxistischen Historiker a priori nicht akzeptieren konnten – die sowjetischen wegen der aus ihr herauslesbaren Herausforderung gegenüber der Parteidoktrin, die französischen als Repräsentanten der Zeit nach dem Tode Lefebvres, in der »ein nahezu unbestrittener Konsens über die Positionen der ›jakobinischen‹ Historiker« herrschte.84
Eine solche weitverbreitete historiographische Übereinstimmung war in Frankreich keineswegs selbstverständlich gewesen. Die Debatte um die Bedeutung der jakobinischen Bewegung (und ihres Kampfes gegen die Gironde) für den Verlauf der Revolution hatte noch im 19. Jahrhundert begonnen und ist in gewisser Hinsicht noch immer nicht beendet.85 Auch über die Phase, die dem Sturz der Gironde folgte, d.h. über die Jakobinerherrschaft selbst, gehen die Meinungen auseinander, wie sich der Rezeption der Schlüsselgestalten Danton und Robespierre deutlich entnehmen läßt.
Es war Aulard, der die »Ehrenrettung« Dantons zuerst in Angriff nahm, indem er »dessen Größe und Vitalität, dessen elementare Menschlichkeit im Kontrast zu Robespierre« herausstrich.86 So beschreibt er Robespierre als hypokritischen Demagogen, der die Konsequenz seiner Positionen hervorhebe, sich in Wahrheit jedoch vom Monarchisten vor dem 10. August zum Republikaner nach dem 22. September wandle, der also im Grunde nicht so sehr der Führer der Massen, sondern der von ihnen Geführte sei. Zwar vermöge er, auf das Gute hinzuweisen, nicht aber auf das Mögliche; er könne wohl darauf deuten, was zu geschehen habe, niemals aber wie. »Er liebt das Vaterland, die Menschheit; er ist bereit für das Volk zu sterben. Aber er betet sein Ich an, stellt es zur Schau. Sein Haß ist ewig […]«.87
Gegenüber diesem heuchlerischen Redner, der eine Politik der Macht und Gewalt betreibt, wird Danton als »Mann der Tat und des Kampfes« dargestellt, der »seine Zuhörer keinen Augenblick in Unwissenheit darüber [läßt], was geschehen soll und mit welchen Mitteln.« Er gebe »bestimmte, rasche Ratschläge, die er nicht durch Gesetze motiviert, die aber dem Geiste der Revolution nach Möglichkeit entsprechen«. In scharfem Gegensatz zum Dogmatismus Robespierres charakterisiert Aulard die Politik Dantons als das, »was man heutzutage Opportunismus nennt, wenn dies Wort im günstigen Sinne gemeint ist.«88 In dieser seiner Politik sei er vom »durch die Geschichte aufgeklärten Verstande« geleitet. Er habe kein fertiges Programm zur Organisation der Demokratie, sei aber dennoch Demokrat. »Er eilt der öffentlichen Meinung nie voraus. […] Seine Methode ist die des Handelns von Tag zu Tag, der unmittelbaren Lösung der Schwierigkeiten in empirischer Weise, wie sie sich einstellen.« Auf dieser Basis hat man wohl auch seine Kompromißbereitschaft sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik zu verstehen; die Revolution und die Einheit gehen ihm über alles; für diese »opfere [man] alles, bisweilen sogar die Wahrheit«, wenn es der Sache dienlich ist. Aulard betont jedoch: »Haß und Groll sind ihm unbekannt.«89
Gerade ein Schüler Aulards, Albert Mathiez, drehte den Spieß um und widmete einen Großteil seines wissenschaftlichen Wirkens der Rehabilitierung des »unbestechlichen« Robespierre. Auch er gebraucht die Diskreditierung des Gegners seines historischen Helden als Methode zur Schaffung einer »reinen«, sich durch makellose Persönlichkeit und Taten auszeichnende Gestalt. So wird Danton indirekt beschuldigt, die »Volksjustiz« vor den Septembermorden begünstigt, und während des Geschehens, »nicht einen Finger« gerührt zu haben, um ihnen Einhalt zu gebieten.90 Demgegenüber hebt Mathiez dessen Bereitschaft zur Kooperation mit dem Emigranten Theodor Lameth beim Versuch, den König zu retten und seine bevorstehende Verurteilung abzuwenden, hervor. So erklärt sich denn auch das (an sich nicht uninteressante) in der Charakterisierung von Dantons Psychologie enthaltene Paradox: »Danton hatte zu viel Verachtung für das menschliche Leben, um blutgierig zu sein. War der Streich geführt, das Ziel erreicht, dann war sein Herz sogar dem Erbarmen aufgeschlossen […]«.91 Sein Widerstand gegen die Politik des Wohlfahrtsausschusses wird als reaktionär aufgefaßt, sein Aufruf zur Milde als durch persönlich-politische Interessen motiviert, und so sei er im Grunde ein korrumpierter Abenteurer gewesen, »der sich nur auf seine revolutionäre Vergangenheit berief, um die Revolution besser vernichten zu können.«92 Mathiez meint gar, Danton habe den Sturz der Revolutionsregierung und die Änderung der Staatsform gewünscht; man wundere sich also nicht, daß sich die Hinrichtung Dantons und seiner Freunde »unter völliger Gleichgültigkeit« der Bevölkerung vollzogen habe: »Wie sollten sich auch Franzosen welcher Gesinnung immer für Abenteurer interessieren, die hintereinander den verschiedensten Parteien gedient und sie verraten hatten und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren!«93
Als Gegenstück zur menschlichen Gestalt Dantons in dem von Aulard geschaffenen Porträt erscheint in Mathiez’ Skizze ein Robespierre, »dessen Herz menschlich und sogar weich, dessen Glauben an die Freiheit tief und aufrichtig war«, und der auch im Kampf gegen Feinde der Revolution »sich doch zumindest bemühte, die Repression auf das strikt notwendige Minimum zu beschränken.«94 Während seines gesamten Kampfweges habe er versucht, eine Spaltung unter den Revolutionären zu vermeiden, wobei er sich allerdings, abgesehen von den das Land von außen bedrohenden Gefahren, sowohl mit den Angriffen der »Gemäßigten« unter Dantons Führung als auch mit denen der Hébertisten habe auseinandersetzen müssen. Jedoch selbst als die Einführung des Schreckensregimes unumgänglich geworden war, sei er nicht durch Rache- und Mordgedanken motiviert worden, sondern habe es getan, um die Revolution zu retten, denn »Robespierre hatte einzig das Interesse der Revolution im Auge.«95 Der Sturz Robespierres und seiner Leute wird von Mathiez denn auch als Tragödie aufgefaßt; sei es ihnen doch darum zu tun gewesen, gerade mittels des Terrors den Umsturz der Besitzverhältnisse zu bewirken. »Die von ihnen erträumte Republik der Gleichheit, in der es keine Reichen und keine Armen geben sollte, und die sie mit den Gesetzen des Ventôse zu errichten gedachten, war mit ihnen zu Tode getroffen.« Ein kleiner Teil der Handwerker und Kleinbürger habe dies begriffen, viele Patrioten hätten aus Verzweiflung Selbstmord begangen; andere hätten später ihre Teilnahme am 9. Thermidor bereut, zu spät, denn: »Sie hatten in Robespierre die demokratische Republik für ein Jahrhundert getötet.«96
Diese letzte Äußerung demonstriert aufs deutlichste, wie historische Figuren in ihrer Funktion als Symbolgestalten herangezogen werden, um politische bzw. soziale Konzeptionen metaphorisch zu veranschaulichen; ihre persönlichen Eigenschaften werden gleichsam zum äquivalenten Attribut ganzer staatlicher Gebilde oder breiter gesellschaftlicher Schichten. Aulards »guter Danton« vertritt das »Gute« am republikanischen Prinzip, ebenso wie der »korrupte und opportunistische Danton« von Mathiez die »verräterische Bourgeoisie« personifiziert; ähnlich wie im »zur Gewalt neigenden Robespierre« Aulards Ablehnung der politischen Radikalisierung verkörpert ist, so ist der von Mathiez dargestellte »unbestechliche Robespierre« Sinnbild tugendhafter Reinheit des revolutionären Kampfes.
Spätere Historiker waren bemüht, die Interpretation aus dieser unüberbrückbar scheinenden Polarität zu lösen. Lefebvre z.B. vermutet, daß die Danton durch die Masse verliehene Autorität an sich schon eine gewisse ihm eigene Ehrlichkeit bezeuge, sonst wäre er wohl nicht fähig gewesen, seine Führerschaft so lange zu wahren. Das hieße nicht, daß man seine Politik akzeptieren müsse; aber selbst, wenn er der Auffassung gewesen sei, man solle in Frankreich die Monarchie wiederherstellen, so habe man darin kein Verbrechen zu erblicken – den Fortschritt der Demokratie habe er ohnehin allenfalls aufhalten können. Es sei daher angebracht, seine Politik als eine sich entwickelnde Linie zu betrachten: »[…] vom revolutionären Standpunkt aus ist sie im August und September 1792 höchst anerkennenswert, verständlich, aber anfechtbar in den folgenden Monaten; immer noch verständlich, in ihren Tendenzen sowie in ihren Ergebnissen jedoch verhängnisvoll zur Zeit seines Eintritts in den Wohlfahrtsausschuß; höchst beklagenswert in den letzten Monaten seines Lebens.«97
Auch Alfred Cobban registriert eine Metamorphose in der Entwicklung Robespierres vom Oppositionsmann zum Herrscher; er widersetzt sich jedoch Aulards Auffassung, daß es sich hierbei um politischen Opportunismus gehandelt habe. Er legt dar, daß Robespierre weder seine demokratischen Ideale verlassen noch bewußt den Tyrannen gespielt habe; bis zu seinem Ende sei die Wahrung der politischen Freiheit sein höchstes Ziel gewesen, und er habe für Prinzipien gekämpft, die in den heutigen demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich erscheinen mögen, unter den gegebenen Umständen seiner Zeit jedoch kaum verwirklichbar gewesen seien. »Seine verzweifelten Versuche, konsequent zu bleiben, zeugen nicht von Heuchelei, sondern vielmehr von der Aufrichtigkeit seiner Zielsetzung.«98
Albert S. Manfred hebt zwar die erkennbare klassenbezogene Dimension in der Gestalt Dantons, der ab 1793 einen Anziehungspunkt für diejenigen Elemente in den jakobinischen Reihen, welche mit der neuen Bourgeoisie verbunden waren, dargestellt habe, betont aber gleichzeitig, es bestehe nicht die geringste Notwendigkeit, »für Robespierre ein genaues soziales Äquivalent oder ein Etikett zu suchen, um ihn in die eine oder andere Kategorie des Mittel- oder Kleinbürgertums einzureihen.« Es genüge festzustellen, »daß Robespierre während der Revolution die Interessen des französischen Volkes vertrat und verteidigte.«99






