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Das zweite historiographische Lager bedient sich der Französischen Revolution zur Antizipation der nachfolgenden Revolutionen. So registriert etwa Guérin eine »evidente« Verbindung »von der Kommune von 1793 zu der von 1871 und zu den Sowjets von 1905 und 1917«. Sacher weiß zwar, daß die Enragés weder Kommunisten noch Sozialisten sein konnten, doch behauptet er, »ihr profunder Egalitarismus« habe sie »zu Vorläufern des Sozialismus« gemacht. Griewank erklärt, die Französische Revolution habe »an der Wiege« des Bürgerkönigtums von 1830, der parlamentarischen Republik von 1848, der bürgerlichen Republik von 1870 wie der Pariser Kommune von 1871 gestanden, und Soboul stellt fest, aus der Französischen Revolution seien Ideen hervorgegangen, die (nach Marx’ Diktum) »›über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes‹ hinausweisen: die einer neuen Gesellschaftsverfassung, die nicht mehr die bürgerliche Ordnung sein wird.«133 Aus einem solchen Blickwinkel wird also die Französische Revolution als Meilenstein im Emanzipationsprozeß der Menschheit begriffen, wenn nicht gar als dessen Ausgangspunkt. Sie selbst hat den Menschen zwar nicht von seinen sozialen Zwängen befreien können, aber ihre ideellen und mentalen Ergebnisse – das in ihr verkörperte historische Paradigma – fungieren als Ansätze zukünftiger progressiver Entwicklungen, welche (so die marxistischen Lehre) die soziale Revolution als Manifestation des immerwährenden Klassenkampfes zum Inhalt haben. Aus dieser Perspektive kann Jaurès’ emphatische Deklaration, die Revolution sei noch nicht beendet, als nur zu folgerichtig erachtet werden; ihre Spuren lassen sich jedenfalls in der bis in die Gegenwart hinein andauernden historiographischen Debatte um das Ende der Revolution verfolgen.134
Es ist dieser »finalistische« Ansatz, den wiederum Furet der Kritik unterwirft: Obgleich sich offenbar nach der Revolution von 1917 alles geändert habe, projizierten die Historiker der Französischen Revolution ihre Wertung des Jahres 1917 auf die Vergangenheit, indem sie die antizipatorischen Elemente der ersten Revolution hervorheben. Das Ergebnis sei auch nicht zu verkennen: »Die Bolschewisten haben jakobinische Vorfahren, und die Jakobiner nahmen die Kommunisten in gewisser Weise vorweg.«135 Um den Teufelskreis dieser historiographischen Tradition zu durchbrechen, unterscheidet Furet zwischen dem Wertsystem der »linken Kultur« und dem »Verhängnis der kommunistischen Erfahrung im 20. Jahrhundert«; auf dieser Grundlage attackiert er die Verknüpfungbeider Revolutionen unter Verwendung des sowjetischen Totalitarismus als Kriterium:
»Im Jahre 1920 rechtfertigte Mathiez die bolschewistische Gewalt im Namen vergleichbarer Umstände mit dem französischen Vorbild. Heute führt uns der Gulag dazu, la Terreur, die Schreckensherrschaft, wegen einer gewissen Identität der Absichten neu zu überdenken. Die beiden Revolutionen bleiben miteinander verknüpft; aber vor einem halben Jahrhundert wurden sie systematisch freigesprochen, mit einer Entschuldigung, die von den ›Umständen‹, d.h. von äußeren und ihrem Wesen fremden Erscheinungen hergeleitet wurde. Heute beschuldigt man sie im Gegenteil, wesensgleiche Systeme peinlich genauer Zwangsausübung auf Körper und Geist zu sein.«136
Unserer Auffassung nach ignoriert hier Furet zwei wichtige Gesichtspunkte. Erstens: Es muß darauf hingewiesen werden, daß die russischen Revolutionäre selber der Meinung waren, sie handelten im Rahmen der Tradition der Französischen Revolution. Einige Monate nach der Oktoberrevolution wurde ein Denkmal Robespierres in der Nähe des Kremls errichtet. Die Statue zerfiel zwar bald und wurde nicht wieder aufgestellt; man kann aber Palmers Behauptung zustimmen, daß allein schon die Tatsache der Errichtung dieses Denkmals Lenins Glauben an eine durch den Marxismus vermittelte Verbindung zwischen seiner Bewegung und jener der großen Französischen Revolution bezeuge. Mit der Erinnerung an sie »konnte er an eine lang anhaltende Revolution glauben, an einen Elan der Zukunft, der seine Kraft aus der Vergangenheit schöpft – ein Grundsatz […], der die Oberhand gewinnen muß, weil in ihm der wahre Sinn der Geschichte verkörpert sei.«137 Es läßt sich natürlich behaupten, daß die Überzeugungen der russischen Revolutionäre für die retrospektiven Betrachtungen des heutigen Berufshistorikers irrelevant seien, daß sie ohnehin lediglich ein weiteres Beispiel für die wirklichkeitsfernen Illusionen historischer Akteure abgeben.
Ein solcher Einwand erfordert die Erörterung einer grundsätzlichen Frage: Inwiefern ist der dem historischen Ereignis durch den Historiker beigelegte Sinn der dem Ereignis von den historischen Akteuren zugeschriebenen Bedeutung als überlegen zu erachten? Die Antwort hierauf liegt vermeintlich auf der Hand; der Historiker zeichnet sich durch ein höheres Bewußtsein aus, weil er das empirische Kriterium für die nachfolgenden Abläufe besitzt, er entzieht sich gewissermaßen der den historischen Akteur unweigerlich umhüllenden Kontingenz.138 Es sei hierbei zunächst dahingestellt, inwieweit gerade ein aposteriori-Wissen das Bewußtsein solcherart entstellend zu befrachten vermag, daß eine adäquate Erfassung des historischen Ereignisses nahezu unmöglich wird; wir ziehen es vor, die der Argumentation Furets immanente Logik weiter zu verfolgen: Furet kennt die Entwicklungen in der Sowjetunion seit 1917 und postuliert daher die Notwendigkeit einer Wertungsrevision. Somit wird dem Gulag und dem sowjetischen Totalitarismus die Funktion eines Kriteriums beigemessen, mit dessen Hilfe der revidierten Auffassung der russischen Revolution selber Gültigkeit verschafft wird. Eine solche mechanistische Denkweise ist in der unausgesprochenen Annahme einer Zusammengehörigkeit von Revolution und Gulag verankert, und da nach Furets Auffassung schon der Terror in der Französischen Revolution eine »Entgleisung« (derapage) von der ihr ursprünglich vorgezeichneten Bahn darstellte, verknüpft er selber (assoziativ) den Terror der ersten mit dem der zweiten Revolution, um die von den marxistischen Historikern hergestellte Verbindung zwischen den Revolutionen anzugreifen. Der wesentliche Unterschied ist halt der, zwischen welchen Elementen der Revolution man einen Konnex sucht – und eben darin sehen wir das zweite Versäumnis in Furets Argumentation. Es fragt sich nämlich, ob er seine Ablehnung einer »finalistischen« Verbindung zwischen beiden Revolutionen in gleicher Weise begründet haben würde, wenn sich das sowjetische Regime nach der bolschewistischen Revolution nicht zu dem entwickelt hätte, als was es uns heute erscheint. Wenn wir von einer Verneinung dieser hypothetischen Frage ausgehen, so läßt sich behaupten, daß der sowjetische Totalitarismus höchstens ein historisches Veto ad hoc hinsichtlich der Verwirklichung der Revolutionsziele in diesem (und nur in diesem) Land darstelle, nicht aber eine prinzipielle Widerlegung der Idee der Revolution und der ihr zugrunde liegenden emanzipatorischen Verheißung. Geht man hingegen von der Grundannahme aus, daß die bolschewistische Revolution die nachfolgenden historischen Entwicklungen zeitigen mußte, so manifestiert sich darin eine »finalistische« Argumentation, von der Art, gegen die sich Furet wendet. Wenn man aber eine jegliche Verbindung zwischen den Revolutionen in Absprache stellt, also auch diejenige zwischen ihren positiven (d.h. ihrem Wesen nach emanzipatorischen) Aspekten, so läßt sich die Frage nicht übergehen, welche nun die gültigen Variablen zur Determinierung solcher Verknüpfungen im Rahmen der Geschichte menschlicher Kollektive seien. Warum weist die Variable »Franzosen« oder »Frankreich« eine größere Validität auf, als beispielsweise »Revolutionäre« oder »Revolution«? Anders ausgedrückt: Wenn es akzeptabel erscheint, daß die Französische Revolution in der politischen Tradition des alten Frankreich und seiner politischen Archetypen verankert sei, wie es Tocqueville und in seiner Folge Furet postulieren, so gibt es wohl keinen Grund, die Behauptung zurückzuweisen, die russische Revolution fuße auf der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend verdichtendenden revolutionären Tradition von 1789 bzw. 1793 – und sei es, weil es die russischen Revolutionäre selber so empfanden.
Das diese Revolutionen verbindende Element ist »Freiheit als intentionales Handeln in emanzipatorischer Absicht«139. Dies ist auch die Bedeutung des Sorelschen Begriffs vom »sozialen Mythos«, welcher »den Menschen zum Handeln bringen« will140, und in diesem Sinne akzeptiert ihn sogar ein akribischer Forscher vom Schlage Lefebvres; der Mythos bezieht sich auf die Zukunft unter Berufung auf revolutionäre Tathandlungen der Vergangenheit: »[…] die Einberufung der Generalstände war eine ›frohe Botschaft‹: sie versprach die Geburt einer neuen Gesellschaft, in der Gerechtigkeit herrschen und das Leben besser sein würde. Im Jahre II beseelte derselbe Mythos die Sansculotten; in unserer Tradition lebt er weiter und wie 1789 und 1793 ist er revolutionär.«141 Die Verwirklichung des Mythosgehaltes, welcher die Menschen zur revolutionären Tat antreibt, kann – nach dieser Auffassung – nicht als Kriterium für den Geltungsanspruch dieser Tat oder für die Wahrhaftigkeit der ihr zugrunde liegenden Motivationen aufgefaßt werden. Das revolutionäre Kollektiv stellt die Authentik seines emanzipatorischen Bestrebens nicht zur Diskussion und schert sich selten um die potentielle historiographische Rezeption seines Tuns.
So wird denn der Historiker der Revolution zu einer Art »Voyeur«. Für gewöhnlich nimmt er keinen Anteil an der Revolution; er kann sich mit dem revolutionären Akt identifizieren oder ihn ablehnen – so oder so wird für ihn die Revolution zur Matrix, die sich ihm durch die sie zusammensetzenden motivischen Kodes vermittelt. Die von diesen Kodes ausgehenden Stimulationen bewirken den »Kontakt« des Historikers mit der Revolution auf der Basis seiner Weltanschauung, seiner politisch-ideologischen Glaubenssätze und der seiner psychischen Regungen; er gestaltet also den (historiographischen) »Charakter« der Revolution, wobei er auf sie seine Anschauungen, Bekenntnisse, seine Ängste und Hoffnungen projiziert. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es zwischen Michelet, der sich »alljährlich« an den »allmächtigen Deuter« seiner Lehre, »den Geist der Revolution«142, wendet, und Cobban, der daran geht, die von ihm so benannten historiographischen Mythen der Französischen Revolution zu zerstören143, keinen eigentlichen Unterschied.
Diese an sich für jede Geschichtsschreibung gültige Behauptung gewinnt im Zusammenhang mit der Französischen Revolution an besonderer Prägnanz; zwei Gründe seien hierfür angeführt. Erstens: Wir befinden uns mittlerweile in der fünften oder sechsten Generation der Revolutionshistoriographierung. Die Revolution selbst wird nur noch selten als historisches Ereignis, sondern gemeinhin als Problemstellung der Historiographie gehandhabt; wir begegnen fast keiner eigentlichen »Geschichte der Französischen Revolution« mehr, sondern eher historiographischen Diskursen über die Geschichtsschreibung dieser »Geschichte«. Und dennoch – so behaupten wir – haben sich die Hauptkodes der Matrix, hat sich die ursprüngliche Kode-Matrix der Französischen Revolution, auch in ihrer fünften oder sechsten Ableitung, nicht wesentlich geändert. Es ist frappant, wie »gegenwärtig« die Französische Revolution noch immer ist.
Zweitens: Es läßt sich schwerlich ein historisches Ereignis aufzeigen, das in einem relativ kurzen Zeitraum eine solche Fülle widerspruchsvoller Motive aufweist, wie das französische Geschehen zwischen den Jahren 1789 und 1799. Der diese Zeitspanne behandelnde Historiker trifft auf extrem unterschiedliche Staatsformen, auf fortwährenden Wechsel der Dominanz verschiedener sozialer Schichten und auf historische Auftritte von bis dahin anonymen gesellschaftlichen Gruppen, er begegnet einer intensiven Konzentration organisierten Tötens neben Erscheinungen schier unbezähmbaren Freiheitshungers, und er verfolgt erstaunliche strukturelle und mentale Veränderungen, vehement geführte politische und soziale Kämpfe, sowie eine Ansammlung überaus bemerkenswerter Führungsgestalten. Die Matrix des Historikers der Französischen Revolution ist besonders reichhaltig und mannigfaltig angefüllt, und jeder dieser motivischen Kodes kann sowohl als Grundlage einer polemisch-ideologischen Kontroverse herangezogen als auch als Rohmaterial für die Gestaltung nahezu atavistischer Symbole gebraucht werden – wie sich der von Martin Göhring gelieferten Darstellung der Ermordung Marats entnehmen läßt: Charlotte Corday erreicht das Zimmer Marats.
»Alles ist von erschreckender Einfachheit, alles starrt vor Schmutz, die Luft des Raumes ist unerträglich; ein Gefühl des Ekels überkommt die Besucherin. Sie steht vor Marat, sieht seinen entblößten, abgemagerten, von Schwären zerfressenen Oberkörper, sieht seine Züge, die Leidenschaften, Haß und Krankheiten verwüstet haben; sie sieht einen bereits vom Tode gezeichneten Menschen. Kaum jemals trafen größere Gegensätze aufeinander: hier die verkörperte Reinheit und Schönheit, die blonde Tochter des Nordens, dort die Verworfenheit und Häßlichkeit in der verfallenden, zerfressenen Hülle des Südländers. Und das Eigenartige: sie bekennen sich zu gemeinsamen geistigen Vätern. Bei ihr haben sie das Göttliche entzündet, bei ihm das Dämonische.«144
Es handelt sich hierbei weder um die Schrift eines frustrierten Exil-Aristokraten noch um die eines erbitterten Konservativen aus dem 19. Jahrhundert, sondern um eine Anfang der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts publizierte Darstellung von einem deutschen Liberalen, der im Vorwort zu seinem Buch feststellt, »unsere demokratischen Ideale« fußten in einer Tradition, welche durch »die große Revolution, die Frankreich erfaßte und umwandelte«, bestimmt worden sei.145 Gleichwohl hievt die dramatische Szene der Ermordung Marats Göhring in eine Assoziationssphäre, aus der sowohl ein verdichtetes ideologisches Paradigma eines der Höhepunkte der Revolutionskämpfe als auch ein eklektisches Konglomerat von Aussagen, welche augenscheinlich wenig mit dem eigentlichen historischen Ereignis zu tun haben, erwächst:
Marat (»Volksfreund«, wie er von seinen Anhängern genannt wird, und Vertreter der unteren sozialen Schichten) wird als ein häßlicher, sich in Schmutz wälzender, in seinem Körper von Krankheit, in seiner Seele von Haß zerfressener Verworfener dargestellt. Corday, Vertreterin des reichen und gebildeten Bürgertums, ist nichts als Schönheit und Reinheit. Solche Gegensätze müssen den Kampf auf Leben und Tod auslösen; stellt sich doch hier das »Göttliche« unentrinnbar dem »Dämonischen« entgegen, gleichsam wie in Miltons »Verlorenem Paradies« die himmlischen Scharen Satans Truppen entgegentreten müssen. Konkret: Wir sind Zeugen einer symbolisierten Konfrontation zwischen den sansculottischen Massen der Jakobiner und der girondistischen Bourgeoisie. In dieser Weise wird die Botschaft übermittelt, daß Marat, jakobinische Personifikation einer Herrschaft der »Masse«, vernichtet werden müsse, wenn das »Gute« siegreich aus dem Konflikt hervorgehen soll. Dies ist (laut Göhring) auch der Grund dafür, daß sich viele Franzosen mit Charlotte Corday identifizierten, und daß ihnen die Mordtat neue Hoffnung einflößte: »So gewannen sie das Vertrauen in die guten Kräfte zurück, und die Tat Charlotte Cordays wirkte bei ihnen versöhnend.«146
Die Angst des Bürgertums vor der Masse, die sich in Göhrings Beschreibung als Angst vor Marat, dem »Motor der Revolution«147, darstellt, drückt sich auch in der Dialektik der Symbiose beider Gestalten aus: Göhring neutralisiert die im Motiv »der Schönen und des Tieres« enthaltene latente Sexualität, indem er Marats Leidenschaften als zerstörerisch begreift und seine Häßlichkeit an seine Verworfenheit heftet; so erhalten Sensualität und Affekte negative Vorzeichen, und als Charakteristika der Masse werden sie gar in den Stand von Feinden des gesitteten Bürgertums erhoben. In Wahrheit sind diese Gegner aber untrennbar aneinander gekettet: Beide sind Republikaner, Produkte der bürgerlichen Gesellschaft mit gleichen »geistigen Vätern«; hatte doch schon Engels festgestellt: »Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehen ohne Lohnarbeiter […]«148. In der von Horkheimer und Adorno durchgeführten Odysseus-Parabel entfaltet sich dann das Symbiose-Motiv in der umfassenden Tragweite einer geschichtsträchtigen allegorischen Verdichtung:
Odysseus hat die Prüfungen Kirkes, der Gottheit, in deren Macht es liegt, den Menschen in ein Tier rückzuverwandeln, bestanden. Dafür hat sie ihm Kraft eingegeben, damit er anderen Mächten der Auflösung standhalte. Die Lockung der Sirenen bleibt jedoch übermächtig; niemand kann ihrem Gesang widerstehen. »Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.« Odysseus kennt nur zwei Wege, um der Zwangssituation zu entrinnen. Den einen trägt er seinen Männern auf: Er verstopft ihre Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften rudern. »Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt.« Die Arbeitenden müssen konzentriert nach vorne blicken, ohne das auf der Seite Liegende zu beachten. »DenTrieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren.« Den anderen Weg wählt der die Gefährten für sich arbeiten lassende Odysseus selber:
»Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln […]. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Liedes, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten.«149
Göhring sieht weder die Sansculotten noch eine der anderen radikalen Bewegungen der Revolution als Proletariat an, er weiß jedoch sehr wohl, daß sich mit ihnen eine historische Herausnahme des Wachses aus den Ohren paradigmatisch andeutet. Das Ende der Girondisten betrauert er demgemäß: »Das Ethos des gehobenen Bürgers, der in der Republik die Freiheit zu begründen hoffte, hat keinen Künder mehr; es ist in der Seele getroffen.«150 Dieser Umstand scheint dermaßen bedrohlich zu sein, daß er selbst im nachhinein das Wesen der Begegnung zwischen Marat und Corday durch nichts anderes zu erfassen vermag als durch eine quasi-rassistische Polarisation (»blonde Tochter des Nordens« der »zerfressenen Hülle des Südländers« gegenübergestellt) bzw. durch einen pseudo-religiösen Manichäismus (»das Göttliche« gegenüber »dem Dämonischen«).
Es sei indes wiederum angemerkt: Weder um Göhring noch um einen anderen der erwähnten Historiker persönlich geht es in der vorliegenden Untersuchung. Sie alle gelten uns lediglich als Vermittler historiographischer Botschaften, als Vertreter ideologischer Positionen. Als solche genießen sie jedoch keine Exklusivität, denn wenn schon »die Eule der Minerva […] erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnt151, so erwachen Kleos Bären für gewöhnlich erst nach einem ausgiebigen Winterschlaf: Gerade im Fall der Französischen Revolution – jenes offenbar noch keineswegs abgehakten historischen Ereignisses – ist die Beteiligung des Historikers an der Gestaltung des kollektiven Gedächtnisses beschränkten Maßes. Ist er doch selbst (geschweige denn sein Lesepublikum) weitgehend von den positiven wie negativen, oft durch außerwissenschaftliche Kulturinstitutionen vermittelten Mythen der Revolution in seinen Anschauungen »geformt«, in seiner Rezeptionsausrichtung gewissermaßen vorgeprägt. Nicht von ungefähr behauptet Peter Stadler, es sei die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, »daß Werke wie Victor Hugos ›Notre Dame de Paris‹ oder Meyerbeers ›Hugenotten‹ (wie auch viele historische Prunkgemälde) die Vergangenheitsvorstellungen eines breiteren Publikums weit nachhaltiger gefärbt haben, als manches repräsentative Geschichtswerk.«152 Eine von G.P. Gooch überlieferte Anekdote kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten: Er berichtet vom außergewöhnlichen Erfolg der Revolutionsgeschichte Lamartines bei dessen zeitgenössischen Lesern. Der französische Dichter, angesichts einer solchen Räsonanz selber verwundert, wandte sich an Dumas mit der Frage, was wohl der Grund für diesen Erfolg des Werkes sei. »Weil Sie Geschichte auf die Ebene des Romans gehoben haben«, soll dieser geantwortet haben.153
Mehr noch: Man kann bezweifeln, ob zu viele Franzosen wußten, was sich im Jahre 1789 tatsächlich auf der Bastille zugetragen hatte, als im Jahre 1881 der 14. Juli zum Nationalfeiertag und die Marseillaise zur Nationalhymne erklärt wurden. »Die differenzierende Erklärung des Revolutionsgeschehens wurde zwar den Fachleuten und Historikern überlassen,« meint Diwald, »aber der Revolution selbst wurde durch die Republikaner ein für allemal der höchste Stellenwert in Frankreichs Selbstverständnis verliehen.«154 Das sogenannte »breite Publikum« scheint da also im Besitze einer eigenen Revolutionsmatrix gewesen zu sein. So ist denn der Historiker, soweit er sich nicht im esoterischen Diskurs mit seinen Kollegen einschließt, vor allem Indikator, wenn man will: Symptom des Rezeptionsprozesses. Denn die stürmische historiographische Kontroverse über die Interpretation der Revolution repräsentiert die anhaltende Debatte um das Wesen der Gesellschaft und die in ihr wirkenden Antagonismen. So besehen ist Eberhard Schmitts Wunsch nach einer »abschließenden Geschichte der Französischen Revolution155 illusionär. Die Französische Revolution ist noch immer nicht beendet.
2. KAPITEL
Die Französische Revolution im Spiegel der Kode-Matrix
Der im vorigen Kapitel aufgebrachte Begriff »Kode-Matrix« erfordert eine zusätzliche kurze Anmerkung. Es scheint, als enthalte er eine deterministische Dimension, die da besagt, der Mensch erfasse mitunter die ihn umgebende Realität, aber auch (wie in unserem Fall) die Geschichte mittels Regungen archaischer, in ihm schlummernder »Motiv-Kodes«, die sich seiner Vernunft, seinem Bewußtsein also, entziehen – mit anderen Worten: der Mensch reagiere auf die Welt mythisch. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, somit die komplexe und langwierige Geschichte dieses epistemologischen Problems auch nur angedeutungsweise erörtert zu haben, kann man doch darauf hinweisen, daß ein Philosoph wie Jacob Taubes einer solchen Vermutung zumindest partiell zugestimmt haben würde. Stellt er doch fest: »Es ist das Vorurteil der [Historiker-]Zunft, daß mythische Bilder oder mystische Termini vage Orakel seien, biegsam und jedem Willen gehorsam, während die wissenschaftliche Sprache des Positivismus die Wahrheit gepachtet habe. Nichts kann ferner von den wirklichen Verhältnissen sein als dieses historische Vorurteil.«1 Ähnlich meint auch Claude Lévi-Strauss, daß die Interpretation des Mythos, »die sich als umfassend betrachtet und den Anspruch erhebt, Probleme, die von uns als vollkommen unterschiedlich aufgefaßt werden, gleichzeitig und mit einer einzigen Art der Beantwortung angehen zu können«, in unserer Gesellschaft zwar keinen Bestand habe, weil sie nicht imstande sei, die Funktion zu erfüllen, die sie in primitiven Gesellschaften innehatte, aber er fügt hinzu, daß trotz der »Explosion«, welche mit der Aufteilung der Wissenschaften in unterschiedliche Themenbereiche stattgefunden habe, es doch sicher sei, »daß Mythosüberbleibsel überall herumliegen – die Explosion ist doch nicht im Nichts aufgegangen. In verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens lassen sich Reste mythischer Auffassungen und mythischen Denkens auffinden.«2 Eli Barnavi illustriert gar mit der Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Sallischen Gesetzes den Prozeß der Hervorbringung eines historischen Mythos durch die Geschichte selbst.3
Es muß also unterschieden werden zwischen dem Anspruch, die Welt (also auch die menschliche Geschichte) vernünftig zu erfassen, und der einem solchen Anspruch fortwährend entgegenwirkenden Anwesenheit mythischer Erkenntnismuster. Zwar intendieren die Menschen nicht die Zulassung solcher Pattern in ihr Denken, und dennoch befinden sich diese in ihm. Dies soll freilich nicht besagen, daß diese »Überbleibsel mythischer Auffassungen und mythischen Denkens« aus dem Nichts auftauchten. Der Mensch selber bringt sie in sich hervor: Mag er dies rational auch nicht beabsichtigen, so befriedigen sie doch gewisse ihm nicht bewußte Bedürfnisse. In der kollektiven Sphäre läßt sich das Phänomen mit dem Marxschen Ideologiebegriff verdeutlichen. »Mit dem Terminus Ideologie bezeichneten Marx und Engels den grundlegenden, wesentlichen Gehalt des bürgerlichen Klassenbewußtseins, d.h. das falsche Bewußtsein der eigenen gesellschaftlichen Situation, der historischen Rolle und Perspektive dieser Klasse, insbesondere die Idee der Ewigkeit der bürgerlichen Verhältnisse«.4 Schon der Ausdruck »falsches Bewußtsein« impliziert das Postulat einer Nichtübereinstimmung zwischen der objektiven, »wahren« Situation des Menschen und dem Modus seines Bewußtseins in Beziehung auf eben diese Situation. Das Funktionale dieser Gegebenheit ist rational im sogenannten »Klasseninteresse« verankert und in »irrationaler« Hinsicht in dem, was Hahn als »Schranke, die [die Bourgeoisie] auch im Denken nicht zu überschreiten vermag«, bezeichnet.5