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Doch Plädoyers für eine global solidarische und auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse kluge Politik gingen Anfang 2021 zumindest in einigen EU-Staaten weitgehend in einem Chor nationalegoistischer Stimmen unter. Das lag auch daran, dass die Infektions- und Todeszahlen in der zweiten Corona-Welle ab Oktober 2020 wieder deutlich angestiegen waren. Trotz mehrfach verschärfter Lockdown-Maßnahmen war bis Mitte März 2021 keine relevante Entspannung absehbar. Und bei den ab Ende Dezember 2020 angelaufenen Impfmaßnahmen hatte es zahlreiche Pannen gegeben. Vor diesem Hintergrund gerieten selbst die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und anderer Staaten, die wesentlich mitverantwortlich sind für das unsolidarische Verhalten der EU gegenüber ärmeren Ländern, innenpolitisch in die Kritik, sie hätten sich noch nicht nationalegoistisch genug verhalten, weil sie nicht schnell genug eine ausreichende Zahl von Impfdosen für die eigenen Bürger beschafft hätten. Wirtschaftsliberale Parteien und Politiker, die in der Vergangenheit die Vergabe von Lizenen für die Produktion preiswerter Generika zur Versorgung von Menschen in armen Ländern immer grundsätzlich als »Eingriff in den freien Markt« abgelehnt hatten, forderten auf einmal, einheimische Pharmaunternehmen zur Vergabe von Lizenzen für die Herstellung ihres Corona-Impfstoffs an andere Unternehmen zu verpflichten, um so die Gesamtproduktion zu erhöhen zwecks Versorgung der einheimischen Bevölkerung.
Profitiert das Klima von der Corona-Pandemie?
Die Corona-Pandemie hat die Herausforderung der globalen Erwärmung 2020 in den Schatten gestellt. Zugleich hatte die Pandemie einen positiven Effekt auf den Klimawandel, zumindest kurzfristig. Wegen der Maßnahmen und Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie gingen Industrieproduktion, Handelsverkehr, Flugreisen und auch die Nutzung von Autos erheblich zurück. In der Folge sank auch der weltweite Ausstoß von fossilem Kohlendioxid im Vergleich zum Vorjahr um 2,4 Milliarden Tonnen auf 34 Milliarden Tonnen – oder um den Rekordwert von 7 Prozent. Für den größten Teil des Rückgangs war der Transportsektor verantwortlich. Die Emissionen aus dem Straßen- und Luftverkehr lagen im Dezember 2020 noch um bis zu 40 Prozent unter dem Niveau des Vorjahrs.
Besonders groß war der Rückgang in den Industriestaaten. Spitzenreiter waren die USA und die EU mit einem Minus von 12 beziehungsweise 11 Prozent. Auf Platz drei bei den stärksten Emissionsrückgängen landete Indien mit einem Minus von 9 Prozent. China als einer der größten Emittenten von fossilem CO2 weltweit verzeichnete dagegen nur einen Rückgang um 1,7 Prozent. Damit die Zahlen im Pariser Klimaabkommen erreicht werden, müsste der globale Ausstoß von fossilem CO2 zwischen 2020 und 2030 jedes Jahr um zwei Milliarden Tonnen zurückgehen.
Die große Frage ist, ob die positive Entwicklung des Corona-Jahres 2020 anhält. Oder ob sich wieder ein Negativtrend entwickelt, so wie das nach dem zeitweisen Rückgang der fossilen CO2-Emissionen infolge der globalen Finanz- und Bankenkrise 2007/08 der Fall war. Nach einem vorübergehenden Rückgang stiegen die Emissionen, als es der Wirtschaft wieder besser ging, allein 2010 um 5 Prozent an. Die weitere Entwicklung in den nächsten Jahren wird sehr davon abhängen, ob die billionenschweren staatlichen Corona-Hilfen und -Subventionen, die allein in den USA und in der EU beschlossen und zum Teil bereits ausgezahlt wurden, zu einer Wiederaufnahme und Fortsetzung von bislang üblichen klima-und umweltschädlichen Produktionsweisen und Mobilitätsverhalten führen. Oder ob die große, historische Chance dieser Pandemie für eine ökologische Transformation hin zu nachhaltigen, energieeffizienteren und damit klima- und umweltfreundlicheren Formen von Produktion, Handel und Mobilität genutzt wird.
Corona, Ebola – Gesundheit als Ware statt öffentliches Gemeingut
Die Corona-Pandemie hat die schon lange bestehenden Unzulänglichkeiten vieler nationaler Gesundheitssysteme, die Krise der globalen Gesundheitspolitik und den Reformbedarf der für diese Politik zuständigen UNO-Organisation WHO verschärft. Zugleich wurden diese Probleme wie nie zuvor einer breiten Weltöffentlichkeit deutlich. Darin liegt zumindest die Chance auf grundlegende Veränderungen und Verbesserungen, die über den – vielleicht gelingenden – Sieg über das Corona-Virus hinausgehen. Gesundheitsversorgung ist ein öffentliches, für alle Menschen erschwingliches Gemeingut und keine an Profitlogik orientierte Ware. Es geht darum, die Weltgesundheitsorganisation durch politische, strukturelle und finanzielle Reformen in ihrer Handlungsfähigkeit und ihre Unabhängigkeit von Pharmakonzernen zu stärken.
Die Ebola-Epidemie als Warnsignal
Die gravierenden Defizite globaler und nationaler Gesundheitspolitiken wurden bereits 2014 durch den bis dato schwersten Ausbruch einer Ebola-Epidemie seit Entdeckung dieses heimtückischen Virus im Jahr 1976 sehr deutlich. Bis Ende Januar 2015 erkrankten vor allem in den drei westafrikanischen Staaten Sierra Leone, Liberia und Guinea fast 23’000 Menschen an Ebola; 9200 dieser infizierten Personen starben.
Die Epidemie führte zu massiven Rückschlägen für die Volkswirtschaften dieser drei Staaten, die sich nach schweren inneren Unruhen und Bürgerkriegen gerade erst wieder einigermaßen stabilisiert hatten. Das Entwicklungsprogramm der UNO (United Nations Development Programme, UNDP) bezifferte Mitte Oktober 2014 die wirtschaftlichen Folgen für die Haushalte seit Ausbruch von Ebola im März des Jahres. Laut UNDP sank in Guinea das Einkommen im Schnitt bereits um 12,7 Prozent, in Sierra Leone um 29,7 Prozent und in Liberia um 35 Prozent. In Sierra Leones Seuchengebieten lagen ein halbes Jahr nach Ausbruch von Ebola bereits 40 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe brach; in Liberia waren es außerhalb der Hauptstadt Monrovia sogar 60 Prozent. Ernten wurden nicht eingeholt, lokale Märkte geschlossen. Und es gab einen dramatischen Preisanstieg, beim Grundnahrungsmittel Maniok in Monrovia um 150 Prozent.
Im Laufe des Jahres 2015 stieg die Zahl der Hungernden in Liberia, Sierra Leone und Guinea nach Angaben des für die internationale Nahrungsmittelhilfe zuständigen Welternährungsprogramms der UNO (World Food Programme, WFP) von 2,3 Millionen Menschen auf über drei Millionen. Erst mit der langsamen Eindämmung der Ebola-Epidemie in den folgenden Jahren sank auch die Zahl der Hungernden wieder. Ende 2019 galt Ebola als überwunden. Doch Anfang 2021 wurden in Guinea und in der Demokratischen Republik Kongo neue Ebola-Fälle registriert. Die WHO warnte vor einer Ausbreitung auf die Nachbarländer.
Das Versagen der Weltgesundheitsorganisation
Dass die Ebola-Epidemie im Jahr 2014 außer Kontrolle geriet und so viele Opfer forderte, lasteten viele Gesundheitsexperten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf an. Mit über 7000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Genfer Zentrale sowie in 150 Länder- und Regionalbüros ist die WHO die größte der achtzehn Sonderorganisationen des UNO-Systems. Ihr Budget ist das zweitgrößte nach dem regulären Haushalt der UNO. Gegründet wurde die WHO 1948. Mit Ausnahme Liechtensteins gehören ihr sämtliche UNO-Mitgliedstaaten an. Die Schweiz trat der WHO bereits Jahrzehnte vor der Aufnahme des Landes in die UNO im Jahre 2002 bei.
Laut ihrem Gründungsauftrag soll die WHO internationale Gesundheitsfragen koordinieren und Regierungen der Mitgliedstaaten beim Ausbau ihrer öffentlichen Gesundheits- und Fürsorgedienste beraten und unterstützen. Insbesondere soll die WHO globale Krankheiten ausrotten, und dies nicht zuletzt, indem sie die Normen für medizinische Ausbildung und wissenschaftliche Forschung sowie für das öffentliche Gesundheitswesen aufstellt und die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Normen unterstützt.
Doch gemessen an diesem Auftrag, habe die WHO in der aktuellen Ebola-Krise versagt, monierten die Kritiker. Die WHO habe den Ernst der Lage zu spät erkannt, zu spät Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung der Ebola-Epidemie zu verhindern, und die Koordination internationaler Hilfskampagnen nur zögerlich initiiert.
Zu den schärfsten Kritikern gehörte die internationale Nichtregierungsorganisation Médecins Sans Frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen), die selbst rund 20’000 Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in die von Ebola am meisten betroffenen drei westafrikanischen Staaten entsandte. Bereits im März 2014 wies MSF die WHO darauf hin, dass sich seit Dezember 2013 das Ebola-Virus in Guinea unkontrolliert ausbreite. Schon damals warnte die Organisation vor einer »Epidemie nie dagewesenen Ausmaßes«. Doch die WHO spielte die Gefahr zunächst herunter.
Erst Monate nach Ausbruch der Krankheit, als sich auch in Guineas Nachbarländern Sierra Leone und Liberia immer mehr Menschen mit dem Ebola-Virus infiziert hatten, nahm die WHO endlich ihre Verantwortung wahr. Am 8. August 2014 rief WHO-Generaldirektorin Margaret Chan wegen der Ebola-Epidemie den Internationalen Gesundheitsnotstand aus.
»Wir sind frustriert, weil wir seit Monaten mit der WHO darüber reden, dass mehr gemacht werden muss. Und diese Sachen passieren nicht, obwohl wir seit Monaten darauf hinweisen, dass es passieren muss«, äußerte der Geschäftsführer der deutschen MSF-Sektion, Florian Westphal, im September 2014 in einem Interview mit dem deutschen ARD-Fernsehen seine Enttäuschung über die Zurückhaltung der WHO.
»Ungeachtet von Anforderungen durch Ärzte ohne Grenzen, ist die WHO nicht vor Juli aufgewacht«, kritisierte auch der belgische Mikrobiologe Peter Piot, der das Ebola-Virus 1976 im damaligen Zaire mit entdeckte, das Versagen der Weltgesundheitsorganisation.
Selbst ehemalige Angestellte der WHO übten öffentlich Kritik an der viel zu späten Reaktion der WHO. Petra Dickmann, einstige Mitarbeiterin des Robert Koch-Instituts im Zentrum für Biologische Sicherheit der WHO, erklärte im September 2014 gegenüber dem deutschen ARD-Fernsehen: »Ärzte ohne Grenzen sind vor Ort und haben viel Erfahrung vor Ort. Die haben lange gesagt: Hier passiert etwas, was nicht normal ist. Das ist etwas, was wir vorher nicht erlebt haben. Die haben lange schon die Trommel geschlagen. Wir haben ihnen zu spät zugehört. Und ich denke, dass die internationale Gemeinschaft und auch die Weltgesundheitsorganisation sehr spät darauf reagiert hat.« Darüber hinaus kritisierte Dickmann, dass die Weltgesundheitsorganisation, statt das Personal in den betroffenen Ländern aufzustocken, sogar »relativ zügig wieder Personal abgezogen« habe. »Und das war mit Sicherheit ein Fehler.«
Auch bereits in der Zeit vor dem Ebola-Ausbruch wurden den zuständigen WHO-Regionalbüros in Afrika zahlreiche Stellen gestrichen, die Teams verkleinert.
Die Genfer WHO-Zentrale und ihre Generaldirektorin Chan reagierten bis Anfang 2015 nicht auf diese konkreten Kritikpunkte. Stattdessen versuchte man, die Flucht nach vorn zu ergreifen. Nachdem die WHO im August 2014 mit mehrmonatiger Verspätung endlich den internationalen medizinischen Notstand ausgerufen hatte, erklärte ihr Sprecher Pieter Desloovere: »Ich denke nicht, dass wir mit dem Finger aufeinander zeigen sollten: Wer hat zu spät reagiert, wer hat schon reagiert, wer nicht? Ich denke wirklich, wir sollten jetzt nach vorne schauen, darauf, was jetzt passieren kann, um die Epidemie einzudämmen.«
Erst Ende Januar 2015 räumte Generaldirektorin Chan erstmals zumindest einige Versäumnisse ein. Die WHO müsse ihr »Krisenmanagement verbessern«, erklärte Chan auf einer Sitzung des Exekutivrats der WHO in der Genfer Zentrale. Die Verfahren zur Rekrutierung von Einsatzkräften bei einem Ausbruch von Seuchen seien »zu langsam«. Darüber hinaus sollten sich alle Staaten intensiver auf solche Krisen vorbereiten und Spezialteams als Teil ihres Gesundheitssystems aufbauen. »Ich dränge darauf, dass wir die Ebola-Krise als eine Gelegenheit nutzen, unsere Systeme zu stärken«, betonte Chan. Zugleich behauptete die Generaldirektorin, die von ihr geführte WHO habe bei der Bekämpfung von Ebola »die Trendwende geschafft und das Schlimmste verhindert«.
Corona-Schlagabtausch zwischen USA, WHO und China
Auch nach Beginn der Corona-Pandemie, die nach bisherigem Stand der Erkenntnis im November 2019 auf einem Markt im chinesischen Wuhan ausbrach, wurde die WHO zunächst heftig kritisiert. Schärfster Kritiker war der damalige US-Präsident Donald Trump. Er warf der WHO vor, sie sei eine »Marionette« Chinas. Peking habe über den Ursprung des Virus und die Umstände seines Ausbruchs »gelogen« und die WHO habe diese Lügen weiterverbreitet, behauptete Trump. Auch habe die WHO es nach der Verbreitung des Virus über die Grenzen Chinas hinaus Anfang 2020 versäumt, vor internationalen Reisen zu warnen. Daher seien »China und die WHO gemeinsam verantwortlich für die weltweite Verbreitung des Virus«. Zeitweise behauptete Trump, das Corona-Virus sei aus einem »chinesischen Labor zur Herstellung biologischer Waffen« entwichen. Trump vollzog den Austritt der USA aus der WHO. Bis zum Ende seiner Amtszeit bezeichnete er das Corona-Virus als »China-Virus«. Damit versuchte der US-Präsident vergeblich, von der eigenen, in jeder Hinsicht verantwortungslosen und katastrophalen Politik zur Bekämpfung der Corona-Pandemie abzulenken, die er unter anderem als »harmlose Erkältungskrankheit« oder als »Erfindung der Demokraten« im Präsidentschaftswahlkampf abtat.
Trumps krasse Falschbehauptungen und Lügen sind längst widerlegt und können getrost als reine Propaganda abgelegt werden. Es gab allerdings zumindest in der Anfangsphase der Pandemie Anlass zu Kritik an China und zu Unzufriedenheit mit der WHO-Führung unter Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Bereits im November 2019 traten in der chinesischen Stadt Wuhan Fälle einer bis dahin unbekannten Lungenerkrankung auf. Doch erst am 31. Dezember 2019 meldete Peking diese Fälle an die WHO. Vor diesem Datum, aber auch danach wurden chinesische Ärzte und Gesundheitsexpertinnen sowie Journalistinnen und Journalisten, die frühzeitig vor dem Virus gewarnt und Vertuschungsmanöver der eigenen Regierung kritisiert hatten, mundtot gemacht. Dennoch fand der WHO-Generaldirektor bei seiner ersten Pressekonferenz zum Thema am 23. Januar 2020, nach seinem Pekinger Treffen am 28. Januar 2020 mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping und auch bei allen weiteren öffentlichen Erklärungen bis Anfang März 2020 stets nur lobende Worte für die Maßnahmen der chinesischen Führung zur Bekämpfung des Corona-Virus. Das trug dem Generaldirektor den Vorwurf »zu großer Gutgläubigkeit« gegenüber Peking und Rücktrittsforderungen ein. Verteidiger des Generaldirektors weisen darauf hin, er habe bei seinen internen Gesprächen mit chinesischen Regierungsvertretern deutliche kritische Worte gefunden, bei seinen öffentlichen Erklärungen aber darauf Rücksicht nehmen müssen, dass China inzwischen neben den USA das gewichtigste Mitglied der WHO sei. Anfang Januar 2021 äußerte sich der Generaldirektor »sehr enttäuscht« darüber, dass die chinesische Regierung die Einreise einer Expertendelegation der WHO, die die Ursprünge des Pandemieausbruchs 2019 untersuchen soll, immer wieder verzögerte. Mitte Januar 2021 durfte die Delegation endlich einreisen, allerdings nur unter erheblichen Restriktionen. Ob unter diesen Umständen die offenen Fragen jemals geklärt werden können, bleibt abzuwarten.
Die Probleme in der Anfangsphase der Corona-Pandemie weisen auf ein grundsätzliches Dilemma der WHO hin, das auch bei früheren Epidemien und Pandemien schon auftrat. Die WHO hat bis heute keinerlei Handhabe, um nach Auftreten einer bis dato unbekannten Krankheit in einem Mitgliedsland dort eigenständige, von der jeweiligen Regierung unabhängige Nachforschungen über diese Krankheit und ihre Ursachen anzustellen.
Notwendig wären neue, rechtsverbindliche Befugnisse für die WHO, wie sie der Präsident Südkoreas Moon Jae-in bei der Generalversammlung im Mai 2020 vorschlug. Am wichtigsten wäre die Stationierung ständiger WHO-Beobachter in allen 194 Mitgliedsländern mit uneingeschränkten Kompetenzen zur Informationsbeschaffung bei Regierungsbehörden wie bei nichtstaatlichen Akteuren. Doch hätte die lautstark nach Reformen der WHO rufende Trump-Administration die dauerhafte Anwesenheit von internationalen Beobachtern im eigenen Land akzeptiert? Auf die Gefahr hin, dass diese dann möglicherweise Informationen über die krankheits- und epidemiefördernden Mängel im US-Gesundheitssystem sammelten? Wahrscheinlich nicht. Die Trump-Administration stimmte bereits bei der WHO-Generalversammlung im Mai 2020 gegen eine Resolution mit der Forderung, mit einer »unparteiischen, unabhängigen und umfassenden Evaluierung« die Reaktion auf die Corona-Pandemie zu untersuchen – und zwar nicht nur in China, sondern »weltweit«, damit auch in den USA.
Mangelnde öffentliche Finanzierung der WHO und zunehmende Abhängigkeit von privaten Spendern
Die Kritik am Versagen der WHO gegenüber der 2014 ausgebrochenen Ebola-Epidemie ist berechtigt. Zugleich ist diese Kritik aber wohlfeil, ja häufig verlogen, wenn sie von Regierungen der WHO-Mitgliedstaaten geäußert wird. Denn die Mitgliedstaaten sind dafür verantwortlich, dass die größte Sonderorganisation des UNO-Systems schon seit Jahrzehnten chronisch unterfinanziert ist. Seit Ende des Kalten Krieges ist die WHO in immer stärkere Abhängigkeit von Pharmakonzernen, Stiftungen und anderen privaten Geldgebern geraten. Die Interessen dieser privaten Geldgeber bestimmen heute in erheblichem Ausmaß die Politik der WHO – stärker als bei jeder anderen Sonderorganisation der UNO. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die WHO ihren Kernauftrag, die Errichtung von funktionierenden öffentlichen Gesundheitssystemen zu unterstützen und damit zur Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit in allen Ländern dieser Erde beizutragen, zunehmend vernachlässigt.
Die hochproblematische Entwicklung der WHO stößt schon seit langem auf scharfe Kritik von Medico International und anderen im Gesundheitsbereich engagierten Nichtregierungsorganisationen (NGO). Diese WHO-kritischen NGOs haben sich international im People’s Health Movement vernetzt.
Die Kritik von Medico International am mangelnden Interesse der Pharmaindustrie und der reichen Mitgliedstaaten der WHO, schon lange vor der aktuellen Ebola-Epidemie in die Forschung nach Medikamenten zur Bekämpfung der Seuche zu investieren, wird auch von anderen Gesundheitsfachleuten geteilt.
Nach Überzeugung der Ärztin Gisela Schneider, Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm), hätte die Forschung bereits nach den ersten größeren Ebola-Ausbrüchen in der Demokratischen Republik Kongo (1995) und in Uganda (2000) intensiviert und staatlich gefördert werden müssen. Nun brauche es »so eine furchtbare Epidemie, damit auch mehr öffentliche Gelder zur Verfügung stehen«.
Stattdessen standen der WHO aber nicht einmal genug Gelder zur Verfügung, um auf die Ebola-Epidemie des Jahres 2014 angemessen reagieren zu können. Denn im Vergleich zum vorherigen Zweijahreshaushalt 2012/13 hatte das Budget 2014/15 der Weltgesundheitsorganisation mehr als 50 Prozent der Gelder für Krankheits- und Krisenmanagement eingebüßt. Von den noch 469 Millionen US-Dollar (knapp 375 Mio. Euro) für 2012/13 verblieben für 2014/15 nur noch 228 Millionen US-Dollar (ca. 180 Mio. Euro). Dies jedoch war genau die Summe, die der Organisation damals eigentlich hätte zur Verfügung stehen müssen, um nur angemessen auf Ebola reagieren zu können. Stattdessen konnte die WHO in ihrem Haushaltsplan ledglich 71 Millionen US-Dollar (rund 57 Mio. Euro) veranschlagen für die Umsetzung des Ebola-Programms – ein solches Defizit würde gar nicht existieren, wenn die Mitgliedstaaten den Etat zur Krisenintervention nicht um mehr als die Hälfte gekürzt hätten. Sie 2014 ist die Schere zwischen den finanziellen Mitteln, die die WHO benötigt, um ihren Auftrag zu erfüllen, und den Mitteln, die die Mitgliedstaaten der Organisation in Form fester Beiträge zur Verfügung stellen, noch weiter aufgegangen. Damit hat auch die Abhängigkeit der WHO von der von Microsoft-Gründer Bill Gates und seiner Frau Melinda betriebenen Stiftung, von Wirtschaftsunternehmen und anderen privaten Geldgebern weiter zugenommen.
Einfluss von Bill Gates bei der WHO – Verschwörungsmythen und Wahrheit
Bill Gates ist einer der Lieblingsfeinde von Corona-Leugnern und Gegnern von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Im Internet sowie bei Demonstrationen und Kundgebungen verbreiten sie zahlreiche Falschbehauptungen über die angebliche Rolle von Gates sowie seinen Einfluss in der WHO und auf die globale Gesundheitspolitik: Gates habe das Corona-Virus erfunden und in der Welt verbreitet, er wolle einen weltweiten Impfzwang durchsetzen, er finanziere über 80 Prozent des Haushalts der WHO. Das sind unhaltbare Verschwörungstheorien oder zumindest maßlose Übertreibungen, deren Verbreiter zum Teil mit falschen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten von Gates operieren. Daher nachfolgend die Fakten zu Rolle und Einfluss von Gates und seiner Stiftung. Diese sind tatsächlich nicht unproblematisch, im Wesentlichen allerdings Folge des Versagens der Mitgliedstaaten von UNO und WHO seit den neunziger Jahren.
Die Bill & Melinda Gates Foundation ist die weltweit größte und bekannteste philanthropische Stiftung mit einem Vermögen von über 60 Milliarden US-Dollar. Laut dem Abschlussbericht der WHO über das Haushaltsdoppeljahr 2017/18 war die Gates-Stiftung 2018 mit einem Anteil von knapp 10 Prozent – über 250 Millionen US-Dollar – der mit Abstand größte nichtstaatliche Finanzier der WHO. Auf der Gesamtliste aller Geldgeber an die WHO lag die Gates-Stiftung knapp hinter den USA und vor Großbritannien. Indirekt war der finanzielle Einfluss der Gates-Stiftung sogar noch größer. Denn auf Platz vier der offiziellen Liste stand 2018 die GAVI, die Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung. Zu dieser Allianz gehören Pharmakonzerne und Stiftungen, darunter als Mitglied mit dem größten Finanzierungsanteil von 17 Prozent die Gates-Stiftung.
Wie konnte es zu dem starken finanziellen Einfluss von Gates in der WHO kommen?
Bis Ende der neunziger Jahre kamen rund 80 Prozent aller Haushaltsmittel der WHO aus den Pflichtbeiträgen der 194 Mitgliedstaaten, waren also Gelder aus öffentlichen, zumeist von Parlamenten kontrollierten Steuergeldern der Mitgliedstaaten, mit denen die WHO fest rechnen und alle ihre Programm finanzieren konnte. Inzwischen stammen über 80 Prozent aller Haushaltsmittel für die WHO aus freiwilligen Beiträgen von Regierungen und eben von privaten Akteuren wie der Gates-Stiftung, beziehungsweise von Konzernen aus der Pharma- oder der Lebensmittelbranche. Um diese Mittel muss die WHO ständig neu werben. Diese Gelder werden fast immer nur zweckgebunden vergeben, das heißt, die Geber können erheblichen Einfluss auf die Verwendung der Mittel ausüben.
Welchen Einfluss nimmt die Stiftung auf die WHO, und wie macht sich das in der Arbeit der WHO bemerkbar?
Die Gates-Stiftung vergibt ihre zweckgebundenen Mittel an die WHO vorrangig für technische Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten, zum Beispiel für Impfkampagnen und für die Verteilung von Medikamenten insbesondere in ärmeren Ländern des Südens. Damit leistet die Stiftung ohne Frage einen wichtigen Beitrag zur gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit akutem Bedarf. Ihr technokratischer Ansatz berücksichtigt allerdings nicht die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die überhaupt erst zur Ausbreitung von Infektionskrankheiten führen. Zugleich entspricht die Gates-Stiftung mit ihrer Finanzierungsstrategie den Interessen der Pharmakonzerne, bei denen die Gates-Stiftung milliardenschwere Aktienpakete besitzt. Als Folge ihrer zunehmenden Abhängigkeit von solchen zweckgebundenen Finanzbeiträgen hat die WHO ihren Auftrag zu einer präventiven Politik, insbesondere den Aufbau funktionierender Gesundheitssysteme in armen Ländern, in den letzten 25 Jahren zunehmend vernachlässigt.






