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Die Signale der Macht wirkten aufreizend. Auf der Titelseite des »Neuen Deutschland«, das am Montagmorgen erschien, war zu sehen, wie Deng Xiaoping und Egon Krenz, der persönliche Grüße Erich Honeckers und die Glückwünsche zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik überbrachte, sich am Vortag in Peking Im Zeichen der Stärkung des Sozialismus die Hände gereicht hatten. Krenz, im Halbprofil, lacht. Der Greis hat die Grußhand des Gastes mit seinen beiden kleinen Händen ergriffen, und dieser legt seine Linke wie einen Schutzschild darüber. So haben die Leser des Zentralorgans und tags darauf der SED-Bezirkszeitungen Krenz in ihrer Erinnerung aufbewahrt. »Wir verteidigen die gemeinsame Sache des Sozialismus, ihr in der DDR, wir in der Volksrepublik China«, versicherte Deng. »Wir haben letzten Endes in diesem Kampf gegen den konterrevolutionären Aufruhr gesiegt, weil wir uns auf die kollektive Stärke unserer Partei und des Volkes stützten, trotz der ernsten Fehler des Genossen Zhao Ziayang, den Aufruhr zu unterstützen und die Partei zu spalten.«76 Dieses Titelbild verhieß nichts Gutes. Ein Blick auf den händeschüttelnden Krenz genügte, um zu begreifen, daß da eine chinesische Lösung angedroht wurde.77
An diesem Montag begann in Berlin die Jubelwoche zum 40. Jahrestag der DDR. Sie sollte für viele zu einer Schmerzenswoche, zu einer Karwoche werden. Während der Generalsekretär und Vorsitzende des Staatsrats in Anwesenheit von Armeegeneral Keßler, Generaloberst Streletz und dem Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen des SED-Zentralkomitees, Herger, Generale ernannte, ehrte der Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden, Politbüromitglied Sindermann, verdiente Persönlichkeiten und Kollektive in Würdigung besonderer Verdienste beim Aufbau und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und der Stärkung der DDR. Er überreichte höchste Orden, zuerst die Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, zuletzt den Orden »Banner der Arbeit«. Im Anschluß an den Ernennungsakt bei der Armeeführung beförderte Honecker im Beisein von Minister Mielke Generale und Oberste des Ministeriums für Staatssicherheit. Aus seinen Händen nahmen Getreue auch den Scharnhorstorden entgegen. Wer die Fotos betrachtet78 und den Gang der Ereignisse kennt, sieht den Boden unter diesen Männern schwanken. Zu anderer Stunde empfing der Staatsratsvorsitzende den Verleger Maxwell; dieser überreichte aus gegebenem Anlaß die britische Ausgabe des Handbuchs DDR. Das Foto zeigt, wie der Beschenkte sich selbst wohlgefällig betrachtet.79 Er konnte nicht wissen, daß es das große, farbenprächtige Porträtfoto neben dem Titelblatt nur in diesem einen Exemplar gab. Das Büro Honecker hatte es anders gewünscht, am Ende hatte man sich mit dem Verleger auf eine Täuschung geeinigt. Dem Generalsekretär, ohne dessen persönliche Zustimmung keine Seite des »Neuen Deutschland« in Druck gehen konnte, blieb sie verborgen.
An diesem 2. Oktober bereisten Politbüromitglieder und ihr Gefolge die Republik. Hager sprach in Begleitung von Bezirkssekretär Ziegenhahn vor Werktätigen in Gera; der Ministerratsvorsitzende Stoph tat dasselbe in Dresden, begleitet von Bezirkssekretär Modrow; nur Inge Lange, die Kandidatin des Politbüros und als Frau dort in einer Statistenrolle, blieb ohne eine solche gehobene Begleitung. In Berlin-Pankow wurde das Carl-von-Ossietzky-Denkmal enthüllt. »Ich bin tief berührt von der Ehrung«,80 sagte Rosaline von Ossietzky-Palm, die Tochter dieses Märtyrers der deutschen Demokratie, zu Politbüromitglied Schabowski, dem Berliner Ersten Bezirkssekretär, neben ihm Berlins Oberbürgermeister Krack – Wahlfälscher der eine, zum engsten Stasi-Info-Verteiler-Zirkel der Macht gehörend der andere.81
Im Panzerschrank Schabowskis lagen zu diesem Zeitpunkt die streng geheimen und zur Rückgabe an Mielke bestimmten Informationen 433/89 und 434/89 vom 2. Oktober.82 Sie gaben bis in die Details Aufschluß über Vorbereitungen zur Gründungsversammlung des »Demokratischen Aufbruch«, die am 1. Oktober, als die Züge mit den Ausgewiesenen durch die Republik rollten und Krenz vor Deng stand, in der Samariterkirche zu Berlin-Friedrichshain stattfinden sollte, dann aber unterbunden wurde. »Einsatzkräfte« der Deutschen Volkspolizei verwehrten den Gründern den Zutritt. Zusammenkünfte im kleinen Kreis, von den Überwachern als »Ausweichvariante« bezeichnet, schlossen sich an. Man traf sich in der Wohnung von Pfarrer Neubert,83 einem Studienreferenten des Bundes Evangelischer Kirchen, sowie im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchgemeinde Alt-Pankow, wo Bischof Forck dem Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters die gewünschte Einsicht in die Diskussionspapiere verweigerte. Forck, angeblich »in Leugnung des tatsächlichen Anlasses und Inhaltes der Zusammenkunft«, erklärte, man rede im Rahmen einer ökumenischen Begegnung über aktuelle Fragen von Frieden und Gerechtigkeit. Der Bischof wurde aufgefordert, die nicht religiösen Charakter tragende Zusammenkunft zu beenden. Er lehnte das ab. Die »Informationen« nannten die Pfarrer Neubert, Eppelmann, Schorlemmer, Meckel, Albani, Pahnke, Pastorin Misselwitz, Probst Falcke, Vikar Schatta, den Synodalen Fischbeck, Delegierter im konziliaren Prozeß in der Synode Berlin-Brandenburg wie im Kuratorium der Evangelischen Akademie, und andere als Beteiligte.
Der Physiker Hans Jürgen Fischbeck hatte am 13. August 1989 in der Ostberliner Bekenntnis-Gemeinde zur Gründung einer einheitlichen Sammlungsbewegung der Opposition aufgerufen. An diesem Tag hatten Großbritannien und die USA ihre Botschaften in der DDR geschlossen, nachdem Tausende das Land in Richtung Ungarn verlassen hatten und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Berlin (Ost) wegen Überfüllung schon am 8. August geschlossen worden war. In einigen der etwa 500 Basisinitiativen, die es in der DDR gab, war Fischbecks Vorschlag seit Monaten in der Diskussion. Der Synodale vertrat die innerkirchliche Gruppe »Absage an Prinzip und Praxis der Ausgrenzung« gegenüber einer Politik, die Honecker betonköpfig befolgte. Als die Leipziger sie mit dem Demospruch Wir lassen uns nicht auskrenzen! beantworteten, zielten sie gegen zwei Generalsekretäre und Staatsratsvorsitzende, Honecker und Krenz. Fischbeck erklärte, Marx und Engels hätten keine verstaatlichte Gesellschaft gewollt, bevor er, eines der vielen Perestroika-Defizite in der DDR benennend, sagte: »Der Sozialismus in dieser Form ist nicht vereinbar mit ehrlicher Offenheit, mit Glasnost. Nirgends, außer im ›Neuen Deutschland‹, steht geschrieben, daß der Sozialismus nur auf diese Weise zu erreichen ist«.84 Die innere Öffnung sei auch der einzige Weg, die Mauer abzubauen. Die Pfarrer Eppelmann und Meckel waren wichtige Vertreter demokratischer alternativer Parteibildung, Meckel als einer der vier Unterzeichner des Aufrufs der Initiativgruppe »Sozialdemokratische Partei in der DDR« vom 26. September,85 Eppelmann als einer der Initiatoren des Aufrufs vom 1. Oktober,86 der an die Gründung der Partei »Demokratischer Aufbruch (DA)« heranführte. Friedrich Schorlemmer, Wittenberg, als Pfarrer und Bürgerrechtler Mitverfasser der »20 Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft« vom Kirchentag 1988 in Halle, war es, der am 4. September in der Reformierten Kirche zu Leipzig mit den 300 Bleibewilligen diskutiert hatte. Sein Ziel hieß: Erneuerung, nicht Emeritierung des Sozialismus. Entweder sei dieser von Peking bis Berlin reformfähig, oder er verschwände erst einmal von der Bildfläche.87
Schabowski, Honecker, Stoph, Hager, Keßler, Herger, Inge Lange hatten die geheimen Stasi-Informationen vom 2. Oktober erhalten, und sie alle spielten innerhalb des von der Staatsmacht perfekt überwachten Raumes an diesem 2. Oktober ihre Rolle. Stand ihnen der Schrecken ins Gesicht geschrieben? Oder entging ihnen das Menetekel an der Wand? Wie sicher waren sie sich der eigenen Sicherheit? »Die Sicherheit«, das wußten sie, ließ die »feindlichen, oppositionellen Kräfte«88 nicht aus den Augen; sie drang bis in den unmittelbaren Umkreis der »bekannten reaktionären kirchlichen Amtsträger und anderer feindlicher, oppositioneller Kräfte«89 wie Eppelmann, Meckel, Schorlemmer vor. Der Schriftsteller Christoph Hein hat später, am 28. Oktober, in der Erlöser-Kirche zu Berlin beim Bekanntwerden schlimmer Gewaltanwendung gegen ein Mädchen gefragt, wie es dazu hatte kommen können, daß Polizisten dieses Kind so demütigten. »Ich habe immer wieder überlegt, warum die Polizisten das taten; und ich fürchte, ich habe die Antwort gefunden. Ich sage, ich fürchte es, weil die Antwort fürchterlich ist: Ich glaube, die Polizisten haben diesem Mädchen das angetan, weil sie sicher waren, daß wir weiter schweigen. Ich glaube, Susanne Böden wurde das angetan, weil man sicher war, wir schweigen wie bisher. Irgendwie sind wir an diesem Mädchen, Susanne Böden, und den anderen schuldig geworden.«90
Es liegt nahe, daß an der Spitze der gleiche Verhaltensmechanismus funktionierte. Er entstand aus Erfahrungen im Umgang mit der Macht, auch aus Nachkriegserfahrungen, sowie mit einer im Ganzen eben doch gefügigen Masse. Aus der Reihe tanzten die »Republikflüchtigen«, die man abzuschreiben bereit war, und der tapfere Rest, den man im Griff zu haben meinte. Die Klasse mit Bauch wurde mit dem Postulat der absoluten Wahrheiten, das vor ihr aufgerichtet war, zum Schweigen gebracht. Die geradezu ritualisierte Verknüpfung von Kritik, sofern es überhaupt zu Kritik kam, mit einleitendem Bekennen des Positiven zeigt, wie das parteiadministrative System Kritik blockierte. Sie zeigt natürlich ebenso die Nöte derer, die Kritik äußerten.
»Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.«91 Mit diesem Vermerk ermahnte der Minister Mielke die dem ersten und engsten Kreis der Macht Angehörenden zu absoluter Verschwiegenheit. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Sie war eine Gesellschaft geschlossener Kreise, und zwar in einer für moderne Gesellschaften extremen Weise, besonders seit dem 13. August 1961. Zu erklären ist das wohl aus der Abfolge zweier autoritärer Systeme und der in ihnen ausgebildeten Anpassungs- und Mitmachmentalität der nationalsozialistischen Kriegs- wie der Kriegskindergeneration, wobei aus der jugendlichen Restgeneration des ersten autoritären Systems die alternde Aufbaugeneration des nächsten hervorging.92 Dazu kam die Überwachungstätigkeit der Staatsorgane, die sondierten, wo Gefahr bestand, die »feindlichen Kräfte« benannten und versuchten, sie zu isolieren, einzuschüchtern, in die Kreisläufe der geschlossenen Gesellschaft zurückzudrängen, aus denen sie ausgebrochen waren. Der Übergang in eine offene Gesellschaft, der trotzdem zustande kam, wurde getragen von den alternativen Basisgruppen, Gesprächskreisen, Initiativen, aus denen bis Dezember 1989 eine breite Bürgerbewegung und mehrere Parteien hervorgingen, zunächst im Untergrund, dann in der legalen und halblegalen Sphäre kirchlicher Freiräume.
Am Beginn der Jubelwoche, am 2. Oktober, war das »Neue Forum« in seinen Grundlagen geschaffen.93 »Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglied des Neuen Forum zu werden.«94 Die Führung des Neuen Forum als einer parteiübergreifenden Bürgerbewegung appellierte an die Parteibasis der SED, »die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Lande«, ihr »enormes Potential von Fachwissen und Leitungserfahrung« in die Gesellschaftserneuerung einzubringen. »Ihr beansprucht die führende Rolle – übt sie aus! Führt die Diskussion in euren Reihen, führt die Gesamtpartei auf einen konstruktiven Kurs.«95 Zu diesem Zeitpunkt waren die Ziele der Revolution eine Art Perestroika-Umbau des politischen Systems der DDR in einen Rechtsstaat und der zentralistischen Staatsplanwirtschaft in einen effektiven (marktwirtschaftlich organisierten) volkseigenen Wirtschaftsorganismus mit ökologischer Langzeitperspektive. »Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in einer Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben.«96 Die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs vom 10. September97 erklärten, unbeirrt davon, daß die Anmeldung auf Zulassung als Vereinigung abgelehnt worden war, ihre Tätigkeit als Bürgerinitiative fortzusetzen, Programm und Statut vorzulegen und die Vereinigung erneut registrieren zu lassen. Auch darüber lag den Hauptverantwortungsträgern am 2. Oktober ein detaillierter Bericht aus der Zentrale der Staatssicherheit vor.98 Gegenwärtig, hieß es sinngemäß, arbeiteten die »Inspiratoren/Organisatoren« des »Neuen Forum« an einem sogenannten Problemkatalog für gesellschaftliche Veränderungen in der DDR. »Es soll insbesondere ›Lösungsvarianten‹ in den Bereichen Wirtschaft und Ökologie (strategische Änderungen in der Wirtschaftsführung, Teilnahme der Werktätigen an der Lenkung der Wirtschaft, Reduzierung der Umweltbelastungen, Beseitigung des Mißverhältnisses zwischen Preis und Leistung), Wissenschaft, Kultur und Geistesleben sowie Staat (Schaffung eines Rechtsstaats, Reform des Wahlrechts, uneingeschränkte Gewährleistung der Grundrechte, uneingeschränkte Freiheit im Reiseverkehr) enthalten.«99 Als Sprecher werden die Malerin Bärbel Bohley,100 der Leipziger Student Michael Arnold, der Rechtsanwalt Rolf-Rüdiger Henrich und der Biologe Professor Jens Reich sowie andere BürgerrechtlerInnen genannt.
Als erste haben Künstler, andere Kulturschaffende und kirchliche Kreise, dazu die vielgestaltigen Basisgruppen zur Legalisierung und vor allem zur republikweiten Ausbreitung der Bürgerbewegung beigetragen. Der Gründungsaufruf des »Neuen Forum« wurde auf kirchlichen und anderen Versammlungen verlesen, in Basisgruppen erörtert, vervielfältigt, weitergegeben, Unterschriften wurden gesammelt. Die Zeit ist reif.101 Mit dem Massenruf Neu-es Fo-rum zu-las-sen! hatten sich Demonstranten, erstmals am 25. September in Leipzig, zur Bürgerbewegung bekannt,102 von der sie ein Teil waren. Danach wurde die Forderung allmontäglich erhoben, bis das SED-Politbüro, das Ministerium für Staatssicherheit und das Ministerium des Innern der DDR am 8. November nachgaben.
In Dresden und Rostock setzten sich Mitglieder der Bezirksvorstände des Verbandes Bildender Künstler am 27. September für die Ziele des »Neuen Forum« ein.103 Die mit 22 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen verabschiedete Rostocker Resolution forderte die Partei- und Staatsführung zum »offenen politischen Dialog« mit allen politischen Kräften des Landes auf und begrüßte ausdrücklich die Tätigkeit des »Neuen Forum«. Die in der Öffentlichkeit wirkungsvollste Solidarisierung mit dem »Neuen Forum« ging aber am 25. September von der Sitzung der erweiterten Sektionsleitung Rockmusik sowie Lied und Kleinkunst aus. Die Teilnehmer beschlossen gegen den Widerstand des Generaldirektors, die Erste Resolution der Rock-Künstler vom 18. September104 auch weiterhin auf öffentlichen Veranstaltungen zu verlesen.105 Das geschah dann bei Auftritten der Rockgruppen Die Zöllner, Notentritt, Pankow und Silly106 sowie der Liedermacher Wenzel, Mensching, Eger, Schmidt, Riedel und Halbhuber. Sie haben sich nicht zum Schweigen bringen lassen. »Es geht nicht um ›Reformen, die den Sozialismus abschaffen‹, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung den existierenden Widersprüchen gegenüber gefährdet ihn«, heißt es in der Resolution. »Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.« Schließlich: »Wir wollen in diesem Lande leben, und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern eine Öffnung der Medien für diese Probleme.« Dann die schwer wiegende Feststellung. »Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns!«107
Diese Künstler haben viel dazu beigetragen, das Neue Forum außerhalb Berlins bekanntzumachen. Die Zustimmung zum »basisdemokratischen Wirksamwerden von DDR-Bürgern« und »offene Diskussion« über den Zustand des Landes forderten ferner Mitarbeiter im künstlerischen Bereich des Staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR und besonders das Jugendradio. Die »chronische Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und politischen Erklärungen« müsse überwunden werden. Die Gewerkschaftsgruppe Künstlerisches Personal und die Vertrauensleute des Deutschen Theaters Berlin verlangten am 26. September in einem Offenen Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats, die »Massenmedien in unserem Land für das Gespräch über unser Land« zu öffnen und »die Gedanken von Neues Forum und anderen« zu veröffentlichen.108 Gleichfalls am 26. September informierte das Neue Forum Leipzig, vertreten durch die Studenten Michael Arnold und Edgar Dusdal, daß die Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes den Antrag auf Anmeldung des Neuen Forum mit der Begründung, es gäbe in der DDR keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine solche Vereinigung, nicht stattgegeben habe. Alle Handlungen bezüglich dieser Organisation seien sofort einzustellen. Die beiden Sprecher bekräftigten, daß die Antragsteller in Übereinstimmung mit Artikel 29 der Verfassung109 an ihren Zielen festhalten würden. »Deshalb bitten wir jede Bürgerin/jeden Bürger, die/der von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Vereinigung Neues Forum überzeugt sind, sich per Eingabe an das Ministerium des Innern, Mauerstraße 29, Berlin 1086, zu wenden.«110
Der in der Überwachungszentrale des MfS, Normannenstraße, aus allen diesen Informationen gewonnene Extrakt wurde in den Köpfen und Nervensträngen der Hauptverantwortungsträger zur bohrenden Sorge um den Machterhalt. Die »streng geheimen« Informationen vom 2. Oktober 1989 haben sich offensichtlich noch vor der Montagsdemonstration am Abend des 2. Oktober zur Erkenntnis vom tatsächlichen Entstehen einer landesweiten Bürgerbewegung verdichtet. Leipzig, »die wahre Hauptstadt« der DDR, wie Uwe Johnson sie im Rückblick auf sein Studium dort genannt hat,111 rückte nunmehr endgültig ins Zentrum des Demokratiegeschehens.
Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit!
Leipzig am 2. Oktober
Die Markttage lockten viele Leipzigerinnen und Leipziger nach Arbeitsschluß in die Innenstadt, so auch an diesem Montag, an dem in der Nikolaikirche abermals 2.000 Menschen und mehr zum Friedensgebet zusammenkamen. Sie gingen dorthin aus Verantwortung und in der Sorge um die Zukunft ihrer Stadt und des Landes. Sie überwanden alle Bedenken, auch die, gesehen und erkannt zu werden. Auf dem nahegelegenen Sachsenplatz saß man im Freien, trank Bier, die Kinder Limo, das Glas Einfachbier noch für einundfünfzig Pfennige, Pilsener war teurer, man aß seine Bratwurst, die kostete achtzig und das Brötchen dazu fünf Pfennige, zum gleichen Preis gab es auch eine Bockwurst mit Semmel. Mancher stellte sich zweimal an oder kam mit zwei Biergläsern wieder, um zu essen und zu trinken, zu gucken und zu reden. Über dem Ganzen lag durchaus eine sonst unübliche Spannung. Denn die meisten, die gekommen waren, wußten, daß sich am späten Montagnachmittag um die Nikolaikirche herum gewöhnlich etwas zusammenbraute. Es schien, als hätten es die Leute nicht eilig, nach Hause zu kommen; sie dachten wohl, mal sehen, was passiert. An einem Tisch eine Bierrunde Männer. Keine Leipziger. Irgendwelche Lehrgangsteilnehmer, aus der Republik zusammengeholt, Parteischüler vielleicht. Sie redeten in den Dialekten der Republik über Unterricht und Leistungskontrollen und über Referate, die sie zu schreiben hätten. Während die anderen zuhörten, sagte einer ziemlich unvermittelt: »Da haben uns die alten Männer diesen Abend auch noch versaut.« Schweigen. Sie warteten. Bestellten die nächste Runde.
Die Nikolaikirche war zu diesem Zeitpunkt restlos überfüllt, deshalb entschied man sich, sie zu schließen, bevor die Andacht begann. Das Friedensgebet wurde an diesem Oktobermontag erneut zum Forum des innenpolitischen Protests. Am 18. September hatte in der damals mit mehr als 2.000 Teilnehmern überfüllten Nikolaikirche sowie in anderen Kirchen der Stadt die erste Fürbittandacht für die Inhaftierten vom 11. September stattgefunden. Kerzen brannten entlang der Kirche, Blumen verkündeten Protest. Die Bürger und Bürgerinnen waren aufgerufen, täglich, gegen 17.00 Uhr, Blumen zu bringen und schweigend stehenzubleiben. Am 20. September waren dann vier Leipziger Demonstranten zu je vier Monaten Haft verurteilt, über andere waren drakonische Geldstrafen verhängt worden. Jetzt sollte die Forderung nach Freilassung der in den Vorwochen inhaftierten Kirchenmitarbeiter und Bürgerrechtlerinnen durch Fasten öffentlichkeitswirksam gemacht werden. Am Morgen dieses 2. Oktober hatten sich Leipziger Theologiestudenten zu einer Andacht zusammengefunden. »Was wird in den nächsten Tagen und Wochen auf uns zukommen? Der Weg der Reform oder der Weg der Gewalt?«, lautete die bange Frage. Heile Du mich, Herr, so werde ich heil, hilf Du mir, so ist mir geholfen (Jer. 17,14). »Einfach das Geschäft des Tages weitertreiben, das kann derzeit wohl keiner von uns.« Der Weimarer Pfarrer Richter sei, hieß es, unter Hausarrest gestellt worden. Der Kirchensoziologe Neubert sähe, dies eine andere Nachricht, seine Wohnung weiträumig von Mitarbeitern der Staatssicherheit umstellt. Die Kampfgruppen, so das Gerücht, sollten in Leipzig am Nachmittag erstmals in Bereitschaft versetzt werden. »Die Uhren ticken anders, seit Wochen schon.« Herr, unser Gott, wir stehen in den Umbrüchen und Erschütterungen unserer Zeit. Vielleicht sind sie nicht geringer als zur Zeit des Propheten Jeremia … Gib den Inhaftierten die Ruhe und die Überlegenheit, vor ihren Untersuchungsrichtern klar und deutlich über die Gründe ihres Engagements zu sprechen.112 In den vergitterten Fenstern beiderseits der sich zum Nikolaikirchhof hin öffnenden Kirchentüren hingen Texte; unter Asternsträußen und Kerzen wurde die Freilassung der mindestens siebzehn seit dem 11. September inhaftierten Demonstranten gefordert.
Die Revolutionsgeschichte kennt nicht wenige Beispiele von Gefangenenbefreiungen. Das heißt, Gefangennahmen wurden mit Befreiungsversuchen beantwortet, die ihrerseits den Widerstand eskalieren ließen und häufig den offenen Konflikt mit der Macht überhaupt erst auslösten. Die Entwicklung in der DDR näherte sich damals diesem Punkt, zumal am gleichen Abend in Ost-Berlin in der Gethsemane-Kirche eine Mahnwache für die in verschiedenen Städten der DDR zum Teil schon seit Juni inhaftierten rund 30 BürgerrechtlerInnen begann.
In der Leipziger Nikolaikirche saßen inmitten der zweitausend Betenden eine »größere Anzahl gesellschaftlicher Kräfte«,113 wie die Überwacher vor Ort im Apparat genannt wurden. Was sie berichteten, liest sich im Extrakt, den die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit am Tag darauf den Hauptverantwortungsträgern zuleitete, wie folgt: »In der Nikolaikirche wurde nach einem Gebet ein Brief der Studentengemeinde der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens verlesen, in dem gegen die Inhaftierung von Personen, die verhängten Sanktionen und den Einsatz von Sicherungskräften nach dem sogenannten Montagsgebet am 11. September 1989 protestiert wurde. Außerdem erfolgte eine Orientierung auf ein geplantes ›Fasten für die politischen Häftlinge‹ vom 2. bis 8. Oktober 1989 in der Versöhnungskirche in Leipzig-Gohlis. Anschließend wurde darauf verwiesen, daß Ausreise keine Alternative‹ ist und Demonstrationen kein Mittel‹ in der gegenwärtigen Zeit seien. Man sollte sich ›hier in den Kampf einreihen‹.«114
Die Proteste gegen die Massenfestnahme am 11. September wurden lauter und öffentlichkeitswirksamer. An jenem Septembermontag waren elf junge Männer und Frauen wegen »Zusammenrottung« in Haft genommen worden. Weitere 104 Zugeführte kamen wieder frei, aber mit Ordnungsstrafen in Gesamthöhe von 66.000 Mark, wobei die Einzelstrafe zwischen 1.000 und 4.000 Mark lag.115
Gegenüber September war ein dramatischer Stimmungsumschwung eingetreten. Die Forderung Wir bleiben hier!, aus der Konfrontation mit Ausreisewilligen entstanden, rückte ins Zentrum des Montagsgebets.116 Sie wurde zum Willensfundament des Leipziger Oktobergeschehens, auch für schon Gehende, die dann, als sie zu Dableibenden geworden waren, für Vereinigung votierten. Der Journalistin Petra Bornhöft fiel am 2. Oktober auf, daß draußen, außerhalb der Kirche, nur wenige die übliche Ausreise-Kluft trugen, ›Schnee-Jeans‹, schwarz-rot-goldene Aufnäher, Gorbatschow-Sticker an der Brust. Die Zusammensetzung der Wartenden hatte sich verändert. Petra Bornhöft sah Schüler, Schülerinnen, »einige wenige Punks; ansonsten dominiert die Gruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen«. Jemand sagte: »Wenigstens lassen sie uns mit dem Jubiläums-Zeug in Ruhe«. Der Journalistin von außerhalb war nicht entgangen, und den LeipzigerInnen natürlich auch nicht, daß außer den Fahnen an den Ausfallstraßen kaum etwas auf die Jubelwoche zum Vierzigsten der DDR hinwies,117 die in Berlin am Vormittag mit einem Auszeichnungsakt begonnen hatte. Sie sollte nicht nur für viele Berliner zu einer Karwoche, einer Schmerzenswoche werden.






