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Der Opa war immer für uns Kinder da. In unserer Kindheit waren mein Bruder Daniel und ich mit Mutter fast täglich bei Oma und Opa. Wir verbrachten unsere Nachmittage und unsere Sommerferien größtenteils bei ihnen. Die Sommerferien, wenn auch unsere Cousins David und Andrea den Urlaub bei den Großeltern verbrachten, waren immer besonders schön.
Opa war auch derjenige, der uns alles, aber wirklich alles, erlaubte. Mochten wir ein Eis haben? Einfach Opa fragen, der erlaubte es uns immer und wir durften in die Bar gehen, um uns eines auszusuchen. Wollten wir fernsehen? Einfach Opa fragen. Wenn Mutter auch Nein sagte, Opa sagte immer: „Do schofft der Opa“, und der Fernsehapparat war an. Daniel glaubte immer, dass Opa überhaupt nicht Nein sagen könne, dass es dieses Wort in seinem Wortschatz nicht gäbe.
Opa nahm uns auch in seinem Lkw mit oder führte uns in seinen Keller. Dieser war voll von den verschiedensten Kuhglocken, ausgestopften Tieren und anderen Kuriositäten. Zu allen Gegenständen wusste Opa eine Geschichte, die er uns Enkeln erzählte. Opa erzählte viel, meist von den vielen Streichen, die er seinen Mitmenschen spielte. In späteren Jahren durften wir in seinem Keller Partys schmeißen und er kam fast immer dazu, um ein wenig mitzufeiern. Opa und sein Keller waren eine kleine Berühmtheit.
Unsere schönste Erinnerung an Opa und Oma sind jedoch die Sommerabende. Sehr oft haben wir alle zusammen bei ihnen zu Hause zu Abend gegessen. Es war immer ein Wettkampf, wer von uns Kindern in den Keller durfte, um den Weinkrug nachzufüllen. Nach dem Essen unterhielten sich die Erwachsenen und wir Kinder gingen auf Fröschejagd oder spielten in unseren selbst gebauten Hütten oder Zelten. Das war eine schöne Zeit.
Die Bedeutung des Begriffes Familie, die Oma und Opa uns vermittelt haben, liegt genau hierin: im Teilen wunderschöner Erinnerungen, im gemeinsamen Verbringen von Zeit und in der bedingungslosen Liebe untereinander, geborgen in der Liebe von und zu zwei einzigartigen Menschen.
Wo liegt Heimat?
Wie könnte Opa in seiner Kindheit über Heimat gedacht haben? Vielleicht so:
„Wo könnte Heimat anders liegen
als im Haus, das man bewohnt?
Worin könntest du dich besser wiegen
als im Bett, das die tägliche Müh’ lohnt?
Was wärest du
ohne das umliegende Feld?
Zähle noch die alte Scheune hinzu,
und vollständig ist deine kleine, heile Welt.“


„Das Glück, eine Familie zu haben, durfte ich nicht von Anfang an teilen. Zehn Tage nach meiner Geburt verschenkte mich meine Mutter! Ein Postbote brachte mich zu Fuß von Leifers durch das Brantental nach Deutschnofen, wo eine Ziehfamilie auf mich wartete.“
Wie oft mein Großvater diese Worte gesprochen hat, vermag ich nicht zu sagen, zu schmerzvoll war für ihn die Tatsache, dass er von seiner eigentlichen Heimat, seiner Mutter, so früh verlassen worden war.
„Da sie mich nicht haben wollte oder aufziehen konnte, entschied sie sich, mich einer Ziehfamilie zu geben. Dafür wollte sie ihr monatlich Geld schicken. Dieses Geld hatten meine Zieheltern nötig, sie waren arm und hielten nach jedem Zusatzverdienst Ausschau. Deshalb nahmen sie mich an. Und so wurden für mich das Haus meiner Zieheltern und die Familie, die es bewohnte, zur Heimat. Die erste Heimat, an die ich mich erinnern kann!“
Obwohl die Geschichte an ihm nagt, lächelt mein Großvater. Ein Charakterzug, den ich bewundere. Es ist nicht seine Art, sich lange nach dem Warum zu fragen oder mit der Vergangenheit zu hadern. Sie ist nun mal so, nichts kann daran etwas ändern, deshalb schaut er auf das Positive. Mag es noch so verschwindend gering scheinen. Er findet etwas, worüber er sich freuen kann, und denkt dann meist nur noch daran. Im Falle dieser Geschichte ist es die Liebe, die ihm seine Ziehmutter entgegenbrachte. Über sein Verhältnis zum Ziehvater weiß ich nichts Genaueres.
„Sie war meine Mutter! An ihrer Liebe zweifelte ich nie. Denn sie behielt mich, obwohl meine leibliche Mutter die Zahlungen an sie nach nur zwei Monaten einstellte. Den Grund dafür kennt niemand. Auf einmal kam einfach kein Geld mehr.“
Es erstaunt mich immer wieder, was Menschen leisten können. Wie gut sie sein können. Die Zieheltern hatten kein Geld, kaum nennenswerte Einnahmen, und doch zogen sie meinen Opa groß. Sie behielten ihn – einen von der leiblichen Mutter Verstoßenen, einen dem eigenen Vater Unbekannten – bei sich. Sie entschieden sich für ihn, damit er heranwachsen und sich eine bessere Zukunft aufbauen könne. Ihre eigenen Interessen stellten sie hintan. Da war bloß dieses zerbrechliche, wehrlose Kind und sie, die bettelarmen, herzensguten Menschen, die ihm bereitwillig Hilfe leisteten. Wenngleich mein Großvater dies nie so formuliert hat, bin ich mir sicher, dass ihm dies bewusst war, denn in den Gesprächen über seine Zieheltern blickte er stets dankbar und liebevoll zurück. Nach seiner frühen Reise war er an einem Ort angekommen, den er Heimat nennen konnte, da Menschen dort lebten, die ihn liebten.
„Das war meine eigentliche Familie, ja! Allen voran meine Mutter, die als Hausfrau arbeitete und den einzigen Besitz, den wir hatten, hütete: zwei Kühe. Dann war da noch mein Vater, ein Tagelöhner, der sich zeit seines Lebens für minimales Gehalt, etwas Holz oder Nahrung auf den Feldern und in den Wäldern abschuftete. Und abschließend noch meine Geschwister, die aber allesamt viele Jahre älter waren und schon bald nach meiner Ankunft auszogen. Gelebt haben wir in einem kleinen Haus, dem Mösl, in unmittelbarer Nähe zum Dorfzentrum von Deutschnofen. Mit diesem Ort sind meine ersten Erinnerungen verknüpft, vor allem aber mit den Menschen, die dort lebten. Mit ihrer Armut und Herzensgüte. Die Unterschiede zu den anderen Bauern des Dorfes waren schlicht zu groß, als dass man nicht unter der Armut gelitten hätte: Höfe mit vielen Hektar Fläche an Besitz, da wird dir schnell bewusst, wie klein du bist! Doch verzagten wir nie, oder nur selten. An eine immer wiederkehrende Episode erinnere ich mich, in der ich meine Mutter nahe der Verzweiflung sah: Wollte sie Brot kaufen gehen, begann sie oft bitterlich zu weinen, da sie nicht genügend Geld dafür hatte. Ich konnte damals noch nicht viel beitragen, im Alter von sieben Jahren begann ich aber mitzuhelfen, und so hütete ich regelmäßig unsere Kühe.“
Trotz der bitteren Armut scheint mein Opa am Mösl glücklich gewesen zu sein, in den Jahren seines Aufenthaltes dort ist der Ort also wahrlich zu einer Heimat für ihn geworden. Eine Heimat, an die er gern zurückdenkt, von der er immer wieder erzählt. Denn seine Wurzeln liegen dort und dort durfte er die Geborgenheit erfahren, die er in späteren Jahren oft missen würde. Als ich ihn frage, wie die Geschichte weitergeht, ob er ruhige Jahre hier verbrachte – soweit unter solchen Bedingungen möglich –, lacht er herzhaft und meint:
„Ruhige Jahre? Für Ruhe hatte ich damals keine Zeit, nein!“
Grinsen.
„Mit acht Jahren bin ich umgezogen, weg vom Mösl, hin zum Unterkofl. Der Umzug war nicht sehr schwer, der Unterkofl befindet sich nämlich auch in Deutschnofen und ich konnte meine Zieheltern regelmäßig besuchen, jeden Sonntag nach dem Kirchengang machte ich mich zu ihnen auf! Natürlich war ich anfangs nicht gerade begeistert, aber ich habe mich schnell angepasst und mich mit der Situation abgefunden. Dort arbeitete ich dann regelmäßig als Hirtenjunge, oft war ich den ganzen Tag unterwegs, unabhängig von Laune und Wetter. Die Arbeit war zu erledigen und das habe ich getan! Ob es gewitterte oder nicht – ich machte mich auf, um die Kühe auf die Weiden zu führen. Bei lautem Donner ergriff mich dann solche Angst, dass ich mich zwischen die Kühe drängte, die sich unter einem Baum zusammengefunden hatten, und dort ausharrte, manchmal stundenlang. Ich nahm das aber gern in Kauf, schließlich hatte ich so einen Schlafplatz und mein Essen sicher. Das war für mich das Wichtigste, deshalb machte ich mir nichts draus. Obwohl das Essen nicht gut und selten ausreichend war.“
Er schweigt, noch lange liegt ein Lächeln auf seinem Gesicht. Als er aber nach mehreren Minuten nicht weitererzählt, wundere ich mich und blicke ihn fragend an. Er bemerkt meinen Blick nicht und wirkt in Gedanken versunken. Wenn er sich zurückerinnert, geschieht das häufiger, doch nach kurzer Zeit hat er sich normalerweise wieder gefasst und beginnt mit einer neuen Geschichte. Diesmal verharrt er regungslos, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Es ist ein Anblick, den ich so von Opa nicht kenne, normalerweise strömen die Worte nur so aus ihm raus, wenn er aufgefordert wird, über etwas zu sprechen, was es auch sein möge. Das macht seinen Charme aus, zu jeder Anekdote fällt ihm eine weitere ein, sodass man Stunden damit verbringen könnte, einfach nur dazusitzen und ihm zuzuhören. Umso mehr verwirrt es mich, dass er nicht die Initiative ergreift, um weiterzusprechen. Ihm fiele mit Sicherheit etwas ein. Deshalb frage ich vorsichtig nach: „Ist alles in Ordnung bei dir?“ Seine Beteuerung, dass es so sei, überzeugt mich nicht ganz, doch ich belasse es dabei. Wenn er in der passenden Stimmung ist, wird er es mir schon erzählen.
Die Minuten verstreichen, sowohl Opa als auch ich hängen unseren Gedanken nach, wobei ich mir eher darüber Gedanken mache, was ihn beschäftigen mag. Doch bald danach hat er sich wieder gefasst und das wohlbekannte, leuchtende Lächeln formt sich auf seinem Gesicht.
„Du willst wissen, was sonst noch alles beim Unterkofl passiert ist? Nun denn, so manches, denn ich wusste mir stets zu helfen. Manches Mal plagte mich dort der Hunger, wie so oft in meiner Kindheit, doch mich dem einfach so zu ergeben war nie meine Art. Vom immer gleichen ‚Muas‘ zum Frühstück, den eintönig schmeckenden Knödeln zu Mittag oder der mageren Suppe abends konnte ein junger Bub, wie ich es war, einfach nicht satt werden! Da ließ ich mir schon etwas einfallen: Ein guter Freund von mir wohnte auf einem Hof in der Nähe. Der war oft genauso hungrig wie ich und wollte auch endlich etwas Ordentliches essen! Also sprachen wir uns ab und warteten, bis die Bauern seines Hofes das Haus verlassen hatten. Sogleich stahl ich etwas Rahm von zu Hause, eilte zu ihm hinüber und traf ihn in der Küche. Manchmal trafen wir uns aber auch bei mir, je nachdem, was besser passte. Ich präsentierte ihm stolz den gestohlenen Rahm und er zeigte mir den entwendeten Honig, den er mitgebracht hatte, und dann ging’s so richtig los! Wir mischten die Zutaten, erwärmten sie und ließen sie dann erkalten. Das Ergebnis war eine Speise, so gut, wie ich sie selten gegessen habe. Wir schnitten alles in Scheiben und verzehrten es vor Ort, damit uns niemand erwischen würde. War das eine Freude! Na ja, du musst dir vor Augen führen, wie meine Ernährung sonst ausgesehen hat: Gelegentlich plagte mich der Hunger dermaßen, dass ich in den Schweinestall ging und den Tieren das Futter stahl. Das bestand meist aus Kartoffelschalen sowie zu kleinen, ausgemusterten Kartoffeln, doch mir war das mehr als nur gut genug. Aber satt wurde ich davon auch nicht, weswegen ich jeden Morgen vor der Bäuerin in den Hühnerstall ging, mir ein oder zwei Eier holte und sie noch vor Ort austrank! Oder ich schlich mich zu den Kühen, bevor sie gemolken wurden, und trank die Milch direkt aus dem Euter immer derselben Kuh. Ach, das waren noch Zeiten! Wie gesagt, ich fand stets einen Ausweg. Gut, eine Ausnahme gab es dann doch: Im Laufe der Zeit überführten mich Bäuerin und Bauer, weil die Kuh nie gleich viel Milch gab. Das machte sie misstrauisch, weshalb sie mich beobachteten und erwischten. Als ich auf frischer Tat ertappt wurde, fand ich keine Ausflucht mehr. Der Bauer kam auf mich zu, ohne dass ich es bemerkte, und riss mich an den Ohren weg; das reichte ihm aber nicht, im Anschluss zog er mich an den Ohren im Raum hin und her, bis sie bluteten. Da glaubte ich schon, ich hätte genug gebüßt, aber falsch gedacht! Nach kurzer Verschnaufpause wurden mir noch einige heftige Fußtritte und Watschn zuteil, damit mir nie wieder in den Sinn käme, es nochmals zu versuchen. Aber im Grunde genommen war es mir egal, ich verzagte deshalb nicht. Eine andere Sichtweise hätte mich auch nicht satt gemacht, und so wurde ich das zumindest. Wenn ich bedenke, wie sehr ich diese Taten büßen musste, kann ich getrost sagen: Das zusätzliche Essen habe ich mir verdient!
Mehr noch: Je größer der Hunger wurde, desto kühner wurde ich. So zum Beispiel einmal, als ich den Bauern, der auch Imker war, zu den Bienenständen begleitete, um ihm zu helfen. Da gab er mir einige Wabenstücke in die Hand, die ich halten sollte, während er Arbeiten vornahm. Als er wegsah, konnte ich mich nicht mehr halten und schleckte den süßlich-glänzenden Honig in den Waben ab. Mehrmals – ich genoss es sehr. Plötzlich verspürte ich einen brennenden Schmerz auf der Zunge. Augenblicklich schwoll meine Zunge an und wurde taub, da verstand ich: Eine Biene hatte mich gestochen! Der Bauer bemerkte den Stich, sagte dazu aber nichts, ich glaube, er verdächtigte mich nicht, an seinem Honig genascht zu haben. Da hatte ich Glück!“
Ich frage mich, wie sehr der Unterkofl wohl eine Heimat für Arthur gewesen sein mag. War es für ihn nicht vielmehr bloß ein weiterer Aufenthaltsort auf seiner einsamen Reise, deren Zweck es war, ihn zu sättigen und nachts sicher schlafen zu lassen? Es war ein Ort, den er eine Zeit lang bewohnte, nicht mehr und nicht weniger. Deshalb machte es ihm auch nichts aus, jeden Sommer auf einem benachbarten Hof zu verbringen, auf dem er genauso viel zu arbeiten hatte, oder den Unterkofl im Alter von vierzehn Jahren gänzlich zu verlassen. Im Gegenteil: Der Umzug zum Oberkofl bereitete ihm große Freude, denn dort wurde er zu jemandem. Während er auf dem Unterkofl stillschweigend zu gehorchen hatte und sich nie wirklich einbringen durfte, brachte der Wechsel zum Oberkofl eine weitreichende, erfüllende Veränderung mit sich: Er wurde ein Knecht. Eine Bezeichnung, die ihn mit Stolz erfüllte, die ihn zu jemand Wichtigem machte.
„Der Oberkofl. Gut und genug zu essen und endlich keine Schafe mehr zu hüten! Das war keine Aufgabe für einen Knecht, wie ich einer geworden war. Mir wurden andere, verantwortungsvollere und schwerere Arbeiten aufgetragen. So half ich etwa beim Backen, genauer: beim Rühren des ‚Mitten‘ [Mehl-Wasser-Mischung in einem Holzfass], denn das war eine Arbeit, die für die Bäuerin zu anstrengend gewesen wäre. Ja, Knecht war ich! Diese Bezeichnung macht etwas her, nicht? Stolz ging ich jeden Tag an die Arbeit und erledigte sie so gut wie möglich! Nach zwei Jahren, ungefähr mit sechzehn, zog ich dann wieder um, diesmal ging es zum Köchel. Die Situation dort war wenig angenehm, weil das Essen schlecht war und mehrere Frauen gleichzeitig das Sagen hatten, nur nicht die Bäuerin. Doch auch hier war ich Knecht und es war insgesamt erträglich. Ich teilte mir ein Zimmer mit zwei anderen Knechten und musste hauptsächlich die Äcker pflügen, Holz und Heu transportieren oder mich allgemein um den Hof kümmern. Was ein Knecht halt so macht …“
Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass die letzten zwei Episoden nicht so ganz in die Thematik des Kapitels zu passen scheinen. Schließlich soll es um den Wohnort gehen, der zur Heimat geworden ist. Dennoch spreche ich fast ausschließlich von dem Titel, den Arthur trug. Aber ist es nicht so, dass sowohl der Heimatort als auch dieser Titel dieselbe Aufgabe erfüllen können? Sind sie nicht gleichermaßen identitätsstiftend, was meines Erachtens eines der wohl prägendsten Merkmale von Heimat ist? Obschon Arthur zu Beginn seines Weges, also auf dem Mösl oder dem Unterkofl, den jeweiligen Ort als Heimat definiert hat, beginnt er nun unbewusst diese weite Auslegung von „Heimat“ anzunehmen. Denn weder gefiel es ihm beim Oberkofl übermäßig noch wurde er dort glücklich, was die Bezeichnung Heimat in meinen Augen rechtfertigen würde. Genauso wenig beim Köchel. Nein, die Wichtigkeit dieser Orte liegt einzig und allein in der Bezeichnung, die Opa ab sofort tragen durfte: Knecht. Sie schenkte ihm eine Identität, er fühlte sich dem Hof zugehörig, da es bestimmte Aufgaben gab, die ihm anvertraut worden waren und niemandem sonst. Diese Orte sind für ihn Heimat, weil sie ihm die Richtung wiesen, seinem Leben Sinn schenkten. Und der Köchel sollte zukunftsweisend werden:
„Eines Tages ging ich im Auftrag der Bäuerin ‚Streb [Einstreu] zomrechnen‘, also im Wald einen Strohersatz aus Blättern und allerlei herabgefallenen Baumresten sammeln, der dann auf einem ‚Grieg‘ genannten Wagen von Ochsen in den Stadel gezogen wurde. Durch die jahrelange Übung fiel mir die Arbeit nicht sehr schwer, weshalb ich den nahenden Besuch auch gleich erblickte: Das schönste Mädchen von Deutschnofen, Rosa Riegler, genannt Nocker Resel, kam vorbei, sie war gerade auf dem Weg ins Dorf. Ich kannte sie aus der Schule, aber wir besuchten nicht dieselbe Klasse, sie war nämlich drei Jahre älter als ich. Deshalb hatte ich vorher nie etwas mit ihr zu tun gehabt, außer ein einziges Mal, als wir einen Handel trieben. Ach Gott, hat sie mich da betrogen! Haha. Das muss ich dir zuerst erzählen:
Damals besaß ich einen Hasen, ein Prachtexemplar, den Rosa haben wollte, um Nachkommen zu züchten. Sie sprach mich auf ein Tauschgeschäft an: Ich sollte ihr den Hasen überlassen, sie würde mir dann mehrere kleine dafür geben. Nachdem ich ihn ihr gegeben hatte und nach einigen Tagen meinen Teil einforderte, war ich sehr überrascht, dass sie mir nur zwei sehr kleine Hasen gab. Ich wollte mich wehren, doch war sie in Begleitung mehrerer junger Knechte, die allesamt zu ihr hielten. So war ich gezwungen, ohne ein Wort des Widerspruchs das mich benachteiligende Geschäft anzunehmen, mein Hase war sowieso schon längst bei ihr.“
Wenn er heute von dieser Begebenheit erzählt, lächelt er und trägt ihr nichts nach:
„Sie hat mich zwar betrogen, aber sie war ein wunderbares Mädchen.
Kommen wir zurück zur Begegnung mit Rosa im Wald. Ich wusste es zwar noch nicht, aber das Nachfolgende sollte unser beider Leben für immer prägen. Sie war eine Tochter der Obernocker Bäuerin, die Jüngste von neunzehn Kindern, und dementsprechend gewieft. Ohne zu zögern, sprach sie mich an: ‚Arthur, sag, gefällt es dir beim Köchel?‘ Ich verneinte dies entschieden, und so wagte sie den Vorstoß: ‚Hättest du nicht vielleicht Lust, zu uns auf den Obernock zu kommen und dort als Knecht zu arbeiten?‘ Ich zögerte keine Sekunde und stimmte zu. Wie hätte ich ein solches Angebot, unterbreitet vom wunderschönen Resel, ausschlagen können? Sie nahm die Antwort zur Kenntnis, verabschiedete sich und ging ihres Weges. So wurde ich, hoffnungsvoll und gespannt, zurückgelassen, doch bevor es so weit war, musste mich noch Rosas dreizehn Jahre älterer Bruder, der Bauer Karl, darauf ansprechen. Rosa diente nur als Vermittlerin, die Entscheidung lag bei ihm.
Glücklicherweise bekam ich rasch die Antwort. Schon nach einigen Tagen, an einem Sonntag nach der Messfeier, bot Karl mir an, als Knecht auf seinem Hof zu arbeiten. So kam es, dass ich mich im Alter von siebzehn Jahren wieder vom Köchel verabschiedete. Mit nur wenigen Kleidern im Gepäck war der Umzug nicht schwer.“
Der Umzug zum Obernock stellte eine weitreichende Veränderung dar: Mit rund achtzig Hektar Fläche war er einer der größten Höfe Deutschnofens, dementsprechend gut erging es meinem Opa dort. Der damalige Wohlstand kann aber keineswegs mit dem heutigen verglichen werden, denn obgleich der Besitz ansehnlich war und niemand Not litt, wurde gespart wie in Krisenzeiten:
„Gut erging es ihnen schon, im Überfluss lebten sie nicht. Klar, wenn jemand etwas brauchte oder haben wollte, konnten sie es sich erlauben, das kam jedoch nicht sonderlich oft vor. Hunger leiden musste niemand, was mich sehr beruhigte, zudem gab es stets genug Arbeit, die mich erfüllte, und alle Bewohner waren sehr nett zu mir. Dieser Umzug war das wohl größte Glück in meinem jungen Leben. Selbstverständlich war nicht alles schön, aber damit fand ich mich bereitwillig ab. So teilte ich mir das Schlafzimmer mit Luis, einem Verwandten Rosas, der schon sein ganzes Leben auf dem Hof lebte und einzig das Arbeiten im Kopf hatte. Nie hatte ich mit ihm irgendwelche Auseinandersetzungen, ein gutes Verständnis war mir immer wichtig und trug auch zu einem besseren Arbeitsverhältnis bei. Das stellte also kein Problem dar. Das Zimmer an sich schon. Es lag an einem Ende des Hauses, weshalb es im Winter darin sehr kalt werden konnte. Als hätte das nicht genügt, war außerdem ein Fenster kaputt, was der Kälte zusätzlich Eintritt bot. Im Winter wurde es bitterkalt, meist so kalt, dass sich an den Mauern hoher Reif bildete, in den wir dann zeichneten. Die Matratze, auf der ich schlief, war, genauso wie die aller Knechte und Bauerskinder, nicht mehr als ein Strohsack. Daran war ich gewöhnt, da dies bei meinen vorhergehenden Wohnorten ebenfalls so gewesen war. Das hätte mich keineswegs gestört, wären nicht unzählige Läuse und Flöhe darin heimisch gewesen. Die Nächte wurden dadurch häufig sehr unruhig. Aber man akzeptierte das gleichgültig, schließlich war es bei jedem so, außer beim Bauernpaar. Sie verfügten über eine Matratze, hatten im Zimmer sogar einen Ofen stehen und zogen sich um, um zu Bett zu gehen. Ja, ein Nachthemd besaßen sie! Wir Knechte wussten nicht einmal, was das sein sollte. Ein Nachthemd.“
Bei solchen Gesprächen überfällt mich immer wieder dieselbe Erkenntnis: Der Reichtum, in dem wir heute leben, ist unverhältnismäßig und bizarr. Wir täten wohl gut daran, uns ein Beispiel an der Lebensweise jener Menschen zu nehmen, die maßgeblich dazu beitrugen, dass dieser Wohlstand unsere heutige Wirklichkeit darstellt. Es ist für mich immer wieder unverständlich, warum Opa von dieser Zeit, die geprägt war von Arbeit, Armut und noch schwererer Arbeit, fast ausschließlich positiv berichtet. Wenn man ihm zuhört, muss man immer wieder darauf achten, nicht in den schwärmerischen Wunsch zu verfallen, diese Zeit erleben zu dürfen. Denn rosig war sie sicherlich nicht. Warum erzählt er dann aber so erfreut davon?
Arbeit gibt dem Menschen Orientierung und Halt, er kann etwas tun, um seine Gegenwart und unmittelbare Zukunft zu verbessern. Bezogen auf die Feldarbeit bedeutet dies, er kann sich ihr völlig hingeben und weiß, er wird – höhere Gewalt ausgenommen – einen gerechten Lohn erhalten. Und Armut kann einen jungen Menschen dazu anspornen, noch härter zu arbeiten und alles für eine glücklichere Zukunft zu unternehmen. Doch allein hierin liegt die Erklärung wohl nicht: Dazu kommt noch der prägendste Charakterzug meines Großvaters, nämlich sein unbedingter Optimismus, der um jeden Preis das Gute sehen und sich nicht mit bedrückenden Ereignissen aufhalten wollte. Momente der Niedergeschlagenheit waren seiner Ansicht nach vergeudete Zeit. Der unbedingte Optimismus war die einzig denkbare Perspektive für ihn. Ob das immer klug war? Ich wage es zu bezweifeln, dass er seines Optimismus wegen nie bitter enttäuscht wurde. Seine Einstellung mutet aber derart an: „Wenn es diesmal auch nicht gelingt, ein nächstes Mal wird kommen. Und dann ein übernächstes. Ich versuche es jedes Mal, es wird mir sicher gelingen, wenn die Zeit reif ist.“ Er ließ den Dingen und sich Zeit, was dazu führte, dass alles in allem die Rechnung für ihn mehr als zufriedenstellend aufging. Er glaubte stets daran, dass er die Zukunft zu einer besseren machen könnte. „Ansonsten war beim Obernock vieles gleich wie auf anderen Höfen zur damaligen Zeit: Es gab weder Strom noch fließend Wasser, dementsprechend weder Badezimmer noch Kühlschrank. Dies führte dazu, dass Würmer in beinahe sämtliche Speisen Einzug hielten. Im Mehl waren immer welche zu finden; der Speck war, wenn er nicht gerade von Würmern befallen war, ranzig und beinahe ungenießbar. Aber wir einfachen Leute durften uns nicht beklagen, als Knecht musste ich mich mit dem ranzigen Speck zufriedengeben. Der stellte nämlich das einzige Fleisch dar, das ich erhielt. Man gewöhnt sich aber an alles. So machte es mir auch nichts aus, mich täglich ohne Seife im gleichen Wasser wie alle anderen Knechte zu waschen. Wir mussten, um hundert Liter Wasser zu holen, täglich über eine Stunde zu Fuß gehen, da kann man sich denken, wie sparsam wir damit umgegangen sind! Und wir haben trotzdem überlebt.“






