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Sein neuer Coach hatte schnell erkannt, was hier abgelaufen war, und nannte meinen Bruder „the best kid“, also den besten Jungen. Das war aber nicht das Ende des ersten Aufenthalts meines Bruders in Miami. Nach dem ersten Training trafen sich Muhammad sowie Angelo und Jimmy mit Freunden zum Mittagessen in einem Lokal am Ende der Straße. Angelo war ganz begierig darauf, seinen Freunden seinen neuen Olympiahelden vorzustellen. Als die drei das Lokal betraten, starrte der Mann hinter der Theke Muhammad finster an und sagte: „Wir haben hier keine Neger.“
Danach folgten dann noch viel schlimmer Beleidigungen, die meinem Bruder überhaupt nicht gefielen. Es war, als hätte ein Außerirdischer das Lokal betreten. Man hätte es Muhammad nicht verübeln können, wenn er diesem Mann Manieren beigebracht hätte, doch in diesem Moment griff Angelo ein.
„Wir wollen ja auch keine haben“, sagte er und blickte dem Mann dabei in die Augen. „Wir wollen Hamburger. Wir setzen uns jetzt hier hin und essen in Ruhe zu Mittag.“
Damit war der Punkt erreicht, an dem auch der Kellner nicht mehr viel dagegen tun konnte. Es war in seinem eigenen Interesse, ein Auge zuzudrücken und den Mund zu halten. Nach dieser unerfreulichen Begegnung setzten sich alle und aßen, und Muhammads Coach stellte ihn mehreren seiner Freunde vor.
Aufgrund der Rassentrennungsgesetze war es nicht einfach, eine Unterkunft für Muhammad zu besorgen. Bevor sein neuer Coach ein Quartier für ihn fand, wohnte Muhammad erst im Mary Elizabeth und dann im Sir John Hotel in Overtown, einem ausschließlich Weißen vorbehaltenen Stadtteil. Angelo machte sich um das Wohlergehen meines Bruders Sorgen, und das hatte auch seinen Grund. Allein die Anwesenheit eines Farbigen in einer solchen Gegend reichte aus, um ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und mein Bruder gehörte nicht gerade zu den Menschen, die sich unauffällig verhielten.
Schließlich fand Angelo eine Unterkunft für ihn in der 7th Avenue und 118th Street, die gleich um die Ecke von Angelos Wohnung war. Ein graues, ebenerdiges Haus mit einem kleinen Garten nach vorn und hinten raus. Nicht gerade eines Olympiasiegers würdig. Aber selbst dann endeten die Probleme aufgrund seiner Hautfarbe nicht. Wenn Muhammad als Teil seines Trainingsprogramms zum Studio lief, wurde er immer wieder von der Polizei aufgehalten. Angelo erhielt fast täglich Anrufe von der Polizei, die alle sehr ähnlich klangen. Sie glaubten meinem Bruder nicht, dass er im berühmten 5th Street Gym trainierte, und bestanden darauf, seine Geschichte zu überprüfen.
„Angelo, boxt der junge Mann für dich?“, fragte der Polizist am anderen Ende der Leitung.
„Ja, das ist einer von meinen Jungs“, antwortete dann Angelo manchmal schon verärgert. „Lasst ihn bitte zum Training gehen.“
Miami war nicht gerade besser als andere Orte in den Vereinigten Staaten, wenn es um Vorurteile ging, doch Gott sei Dank wohnte mein Bruder in der Nähe von Angelos Haus. Als dann ihr Verhältnis immer besser wurde, verbrachte Muhammad jeden Feiertag mit der Familie Dundee.
Ich war in meinem letzten Schuljahr, als mein Bruder den Vertrag mit der Louisville Group unterzeichnete und nach Miami Beach übersiedelte. Nachdem er ins Profilager gewechselt war, gab er einen großen Teil seines Geldes, das er von dem Konsortium aus Louisville erhielt, dafür aus, unseren Eltern ein neues Heim zu kaufen. Mutter hatte oft über die Dinge gesprochen, die sie gerne gehabt hätte – darunter auch ein neues Haus. Ich erinnere mich noch genau daran, wie glücklich unsere Mutter war. Nun konnte sich unsere Familie den einen oder anderen Luxus leisten, da mein Bruder eine erfolgreiche Zukunft vor sich zu haben schien. Es dauerte nicht lange, und Muhammad holte mich zu sich nach Miami. Trotz seines engen Verhältnisses mit den Dundees hatte mein Bruder kaum jemanden, dem er vertrauen konnte, und so holte er mich 1962 zu sich, da er jemanden aus der Familie um sich haben wollte. Für meinen Teil muss ich sagen, dass ich bis dahin nie einen ordentlichen Job hatte, und so ergriff ich die Gelegenheit mit beiden Händen. Meine erste Aufgabe war es, ein Mitglied von Muhammads Entourage und seinem Team zu sein. Unnötig zu erwähnen, dass ich sofort meine Koffer packte und bei ihm einzog. Ich lebte mich schnell bei meinem Bruder ein. Muhammad und ich verbrachten unsere Freizeit oft damit, im Wohnzimmer zu sitzen, Filme anzuschauen und uns zu entspannen. Um spätestens 11 Uhr nachts waren wir dann meist im Bett, da wir ja schon früh am Morgen rausmussten, um das Lauftraining zu absolvieren.
Neben seiner Geduld im Umgang mit der Polizei war Angelo genau das, was mein Bruder brauchte. Er war ein wunderbarer Mensch, der die Herzlichkeit eines Lieblingsonkels mit einem ans Übernatürliche grenzenden Verständnis für die Psyche eines Boxers in sich vereinte. Er schaffte es, in die Köpfe seiner Schützlinge zu sehen und sie dazu zu bringen, Dinge zu vollbringen, ohne dass sie etwas davon mitbekamen, was genau das war, was mein Bruder zu diesem Zeitpunkt in seiner Karriere benötigte. Muhammad war immer dickköpfig gewesen, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und so musste Angelo Mittel und Wege finden, ihn davon zu überzeugen, dass alles, was er tat, seine eigene Idee war. Angelo verbrachte viel Zeit damit, Muhammad zu manipulieren und ihm vorzugaukeln, dass er selbst die Entscheidung traf, mehr oder weniger zu trainieren, an einem bestimmten Schlag zu arbeiten oder sonst etwas. Wenn er wollte, dass mein Bruder mehr Uppercuts schlagen sollte, dann lobte er ihn für das eine Mal in der Runde, als er einen schlug, und in der nächsten Runde schlug Muhammad dann vielleicht sogar ein halbes Dutzend.
Eine meiner Lieblingsanekdoten über Angelo hat allerdings mit einem anderen Boxer zu tun, den er zur selben Zeit wie meinen Bruder trainierte. Dieser Boxer hatte sein Selbstvertrauen in seine Schläge verloren und dachte, seine Schläge wären einfach nicht mehr hart genug. Wie wahrscheinlich jeder Boxer weiß, sind solche Zweifel pures Gift – wenn du dir nicht mehr zutraust, hart genug zu schlagen, traust du dir auch keinen Schlagabtausch mehr zu, und du gehst unter. Eines Tages also, vor Beginn des Trainings, lockerte Angelo die Verankerung an der Boxbirne, und als der besagte Boxer das erste Mal zuschlug, löste sich die Schraube, und die Boxbirne flog in hohem Bogen durch die Halle. Der verdutzte Boxer dachte, sein Schlag wäre wieder so richtig explosiv, und boxte von nun an wieder voller Selbstvertrauen.
Es ist großartig, einen Coach wie Angelo an deiner Seite zu haben, jemanden, der einem im Hintergrund hilft. Und ich sah, welchen Unterschied dies machte – gelegentlich drehten Muhammad und ich ja auch ein paar Runden im Ring gegeneinander, und manchmal gewann er und manchmal ich. Doch ich fühlte, wie er schnell besser, schneller und stärker wurde.
Aber auch Muhammad tat das seinige dazu. Jeder Boxer arbeitet hart, doch Angelo sagte immer wieder, dass er nie einen Kämpfer in seinem Boxstudio hatte, der so viel arbeitete wie Muhammad – und das aus dem Mund eines Mannes, der in seiner Karriere mehr als 15 Weltmeister trainierte. Tatsächlich meinte Angelo, dass Muhammad manchmal auch zu viel trainierte. Schon am Anfang seiner Karriere steckte Muhammad zu viele Schläge im Training ein. Angelo wusste genauso gut wie ich, dass Muhammad es absichtlich zuließ, dass seine Sparringspartner ihn am Kopf trafen. Selbst als er dann einen Kopfschutz trug, erduldete er weiter die harten Treffer, denen andere Boxer immer auszuweichen versuchten. Er war nämlich der Überzeugung, dass ihn dies auf richtige Kämpfe vorbereiten würde, was sich damals nicht halb so verrückt anhörte, wie es heute klingt. Wie man es auch betrachtet, mein Bruder war ein Vollprofi, der hart trainierte und alles tat, um sich auf seine Kämpfe gut vorzubereiten. Und seine härtesten Kämpfe standen ihm noch bevor.
EIN BRUDER AUF MISSION
Vorurteile und Rassentrennung waren alltäglich im Leben aller Farbigen in Amerika in den 1960er-Jahren, doch in einigen Gegenden
war es schlimmer als in anderen. Während die schleichenden Auswirkungen des Rassismus in Louisville sicherlich spürbar waren, so gab es in Miami überhaupt kein Entkommen. Dort erstreckte sich die Rassentrennung nicht nur auf Nachtclubs und Cafés, sondern auch auf den Strand: Den weißen Einwohnern Miamis waren die schönsten und saubersten Abschnitte des Strands vorbehalten, farbige Menschen mussten sich mit jenen nahe der Abwasserrohre zufriedengeben und dort schwimmen, oder der Zutritt wurde ihnen überhaupt verweigert. Restaurants, die sich weigerten, Afroamerikaner zu bedienen, waren bis weit in die 1960er-Jahre hinein verbreitet, und als die Rassentrennung an den Schulen offiziell aufgehoben wurde, gab es wilde Proteste vonseiten der lokalen weißen Bevölkerung.
Das war die Stimmung in der Stadt, als mein Bruder 1960 nach Miami zog. Für eine Person mit schwarzer Hautfarbe waren diese Regeln ein fester Bestandteil ihres Lebens in einem angeblich freien Land – selbst für einen Olympiasieger. Zwar ließ sich Muhammad beim Training nicht von den Vorurteilen der anderen behindern – dafür hatte er eine zu dicke Haut –, doch mein Bruder und ich machten von Zeit zu Zeit Bekanntschaft mit der hässlicheren Seite des Landes, wenn wir uns in Miami unter die Leute mischten. Jedes Mal, wenn du aus der Reihe tanztest, war schon jemand zur Stelle, der dich direkt oder hinter deinem Rücken darauf aufmerksam machte, dass du anscheinend vergessen hast, wo du hingehörst. Das traf nicht nur auf die Öffentlichkeit zu. Man zog auch die Aufmerksamkeit der alteingesessenen Institutionen und Behörden im Mainstream-Amerika auf sich. Muhammad sagte zu mir: „Solange unsere Leute ihren Platz in der Gesellschaft nicht verlassen, ist alles okay. Aber wenn sie einmal aus der Reihe tanzen, laufen sie Gefahr, umgebracht zu werden.“
Mit seinem typischen Selbstbewusstsein war Muhammad bereit, dieser Art von Behandlung offen mit Verachtung entgegenzutreten. Als sachkundiger Experte für die Geschichte des Boxsports verfolgte er diese verächtliche Einstellung gegenüber schwarzen Athleten bis zu Jack Johnson zurück, der gejagt und aufgrund der lächerlichen Anschuldigung, eine weiße Frau rechtswidrig über die Bundesstaatsgrenze gebracht zu haben, sogar eingesperrt wurde. Auch kannte er das traurige Schicksal von Joe Louis und Jesse Owens, die ihr ganzes Leben lang vom Finanzamt wegen angeblicher Steuervergehen verfolgt wurden. Und er war sich der Gefahr bewusst, in der sich Jackie Robinson befand, der Morddrohungen erhielt, als er als erster farbiger Spieler in der modernen Major League Baseball spielte.
Jim Brown, den eine langjährige Freundschaft mit Muhammad verband, galt als der böseste und gemeinste Farbige in Amerika und sah sich allen möglichen erfundenen Anschuldigungen, speziell von Frauen, gegenüber. Die Botschaft war eindeutig: Jedes Mal, wenn du als Schwarzer in der amerikanischen Gesellschaft aus der Reihe tanzt, wirst du attackiert und an den Pranger gestellt. Das war definitiv der Fall, auch bei Muhammad, der im Zuge seines Olympiasiegs unendlich viel Aufmerksamkeit in den Medien bekam. Denn genauso wie man meinen Bruder auf seinen Platz verwies, war er als Weltmeister im Schwergewicht ein wichtiges Instrument für politische, wirtschaftliche und andere Interessen der Weißen. Als Muhammad sich dazu entschloss, gegen das System anzukämpfen, wusste er, dass er sich zur Zielscheibe machen würde. Aber so wie jeder andere farbige Sportler auf irgendeine Art und Weise unter Beschuss des amerikanischen Establishments kam, wusste auch er, dass es ihm ebenfalls so ergehen würde, egal was er tat.
Berücksichtigt man all dies, dann ist es vielleicht einfacher zu verstehen, was das Interesse meines Bruders an der Black Power Bewegung – vor allem an der Nation of Islam (NOI) – erweckte. Es ist eine irrige Annahme, dass Malcolm X meinen Bruder zur Nation of Islam gebracht hatte und für die Konversion meines Bruders zum Islam verantwortlich war. Zweifellos hatte Malcolm einen großen Einfluss darauf, doch er war nicht derjenige, der Muhammads Interesse daran erweckte. Es war ein Prediger namens Captain Samuel X Saxon, der meinen Bruder als Erster in die Lehren der Nation of Islam einführte, nachdem er ihn zufällig auf der 2nd Avenue getroffen hatte, bevor Muhammad zu den Olympischen Spielen nach Rom fuhr.
Captain Samuel war der Vorsteher einer Moschee in Miami – ein Ort, den mein Bruder regelmäßig aufsuchte, als er dorthin zog. Es war das erste Mal, dass er den Lehren der Nation of Islam aufmerksam zuhörte, und Miami war der Ort, an dem er langsam erkannte, dass es genau das war, was er in seinem Leben immer gesucht hatte. Zuerst war es sicherlich mehr religiös als politisch motiviert, doch das änderte sich mit der Zeit. Mein Bruder und ich entschieden uns, dieser kontroversen Organisation beizutreten, da Muhammad Teil von etwas sein wollte, Teil einer Bewegung, nicht wegen einer tieferliegenden spirituellen Suche.
Egal was unsere Gründe dafür waren, bei unseren Eltern zu Hause begannen die Alarmglocken zu schrillen, als Muhammad und ich die Lehren der Nation of Islam annahmen. Vater und Mutter waren irritiert, um es milde auszudrücken. Sie waren der Meinung, dass ihre Kinder gute Christen sein sollten, und sie wussten so gut wie nichts über diese neue Religion. Deswegen war es verständlich, dass sie recht aufgebracht darüber waren. Als er älter wurde, hatte Muhammad diese innere Stimme, die ihm sagte, dass da noch etwas Besseres als der Rassismus, den er als junger Boxer erfahren hatte, sein musste – eine Art Licht am Ende des Tunnels. Und obwohl unsere Eltern uns gelehrt hatten, dass Gott für uns sorgen würde, schien der Glaube, mit dem wir aufgewachsen waren, nicht die Lösung zu sein – zumindest nicht für meinen Bruder und mich. Mein Bruder, der schon immer sehr wissbegierig war, verbrachte sein halbes Leben damit, sich die Frage zu stellen, warum Menschen mit dunkler Hautfarbe sich mit diesen Umständen zufriedengeben sollten und warum alles Schwarze mit etwas Negativem assoziiert wurde. Auch im Christentum schien es so zu sein: Alles Gute in der Bibel wurde weiß gemacht – sogar Jesus und Gott wurden als Weiße dargestellt, ungeachtet ihrer Herkunft. Man zeigte uns das Bild des Erlösers als gütigen weißen Mann, und in der Hierarchie des Himmels schien es nirgends einen Platz für andere Hautfarben zu geben. Das war uns zu wenig. Mein Bruder und ich wollten keine mittelmäßigen „Neger“ sein, die sich der Gnade der Christen unterwerfen mussten. Christen, die schon öfters gezeigt hatten, dass sie Farbige als Bürger zweiter Klasse betrachteten. Muhammad konnte und wollte das nicht akzeptieren.

Natürlich waren unsere Eltern nicht die Einzigen, die sich wegen unseres neuen Umfelds Sorgen machten. Die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten hatten kein gutes Bild von der Nation of Islam und standen allen, die mit dieser Organisation sympathisierten, sehr skeptisch gegenüber. Selbst unter Farbigen gab es viele, die sich von dieser Bewegung distanzierten. Anfangs merkte keiner, dass wir immer mehr dazu tendierten, Muslime zu werden, denn Muhammad und ich hatten beschlossen, unsere Absicht fürs Erste einmal für uns zu behalten – es war also unser dunkles Geheimnis. Wir waren uns einig, dass wir unseren Übertritt zum muslimischen Glauben dann bekannt geben würden, wenn die Zeit richtig dafür war. Doch vorerst mussten wir aufgrund der Neugier der größtenteils weißen Presse vorsichtig damit umgehen, und auch wegen einiger Leute in unserem engeren Umfeld, die etwas durchsickern hätten lassen können. Wir wussten, dass, wenn wir uns gleich zu erkennen geben würden, die Boxverbände, die öffentliche Meinung und sogar die US-Regierung Muhammad auf seinem Weg zur Boxweltmeisterschaft Probleme bereitet hätten. Muhammad, so entschieden wir, sollte seine Zugehörigkeit so lange geheim halten, bis er den so begehrten Schwergewichtstitel in seinen Händen hielt. Er musste, wie er es selbst ausdrückte, so klug wie eine Schlange, aber arglos wie eine Taube sein.
Je länger dieses Versteckspiel dauerte, umso mehr wurde einigen Personen in unserem engsten Umfeld die Verbindung Muhammads zu den Black Muslims, wie die Organisation auch genannt wurde, bewusst. Als er dann eine Bilanz von 19 Siegen und keine Niederlage sowie 15 Knockouts aufwies, bekam Muhammad die Chance, den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Sonny Liston zu fordern – ein Kampf, den er, wie er selbst wusste, viel ernster nehmen musste als alle seine bisherigen Begegnungen. Drei Monate vor dem Kampf gegen Liston verbrachten Muhammad und ich Weihnachten in Angelos Haus, während die Familie im Garten hinter dem Haus feierte. Damals war Integration eher unbekannt, und mein Bruder war auch noch nicht berühmt. Wenn er also die Dundees besuchte, öffneten sie die Tür und lachten darüber mit den Nachbarn, die es seltsam fanden, dass da nebenan ein junger schwarzer Mann zu Besuch kam. Später, als Muhammad immer stärker im Rampenlicht der Medien stand, kamen auch die Nachbarn gerne hinüber, um ihn zu sehen, wenn er bei der Familie Dundee vorbeikam. Damals aber trauten sie ihren Augen nicht, wenn zwei junge Farbige in einer Gegend, in der nur Weiße lebten, an die Tür klopften.
Wie auch immer, an diesem besagten Tag gesellten sich Muhammad und ich zu den Dundees, als sie gerade ihre Geschenke auspackten. Da Muhammad unsere Familie in Louisville vermisste, war Angelos Familie eine Art Ersatz für ihn, und er genoss es vor allem, mit Angelos jüngstem Sohn Jimmy zu spielen, mit dem er über die Jahre ziemlich viel Zeit verbracht hatte. Muhammad war recht still, als wir mit den Dundees am Tisch saßen und aßen, und sog die Familienatmosphäre in sich auf, doch als Jimmy dann mit zwei Walkie-Talkies, die er als Geschenk erhalten hatte, zu spielen begann, kam Muhammads spielerische, energiegeladene Seite zum Vorschein. Der kleine Jimmy rannte in der Wohnung herum und schrie in sein Walkie-Talkie: „Cassius! Cassius! Wo bist du?“
Und Muhammad antwortete: „Es gibt hier keinen Cassius, nur einen Muhammad Ali.“
Das verdutzte Kind rief: „Ich kenne keinen Muhammad Ali!“
Nun, Angelo wusste über die Verbindungen Muhammads mit der Nation of Islam Bescheid, auch wenn er sich sonst kaum mit den politischen Ansichten meines Bruders beschäftigte. Angelo – einer der wenigen, dem Muhammad vertrauen konnte – war darum bemüht, die ganze Sache geheim zu halten, da er befürchtete, dass die Boxing Commission den Kampf absagen würde, wenn sie davon Wind bekäme, dass sein Boxer einer von vielen geschmähten religiösen Gruppierung beigetreten war. Damit wäre der Traum vom Schwergewichtsweltmeister gefährdet gewesen, und Angelo wollte unbedingt, dass Muhammad zum Weltmeister im Schwergewicht gekrönt würde – das war das ultimative Ziel.
Etwas anderes, das weitgehend unbekannt ist, ist die Tatsache, dass mein Bruder erst Cassius X war – das war der Name, den er von Elijah Muhammad zuerst bekommen hatte. Danach gab er ihm den Namen Muhammad Ali, gerade noch rechtzeitig, um ihn direkt nach dem Sieg gegen Liston zu verkünden. Muhammad, so wurde uns gesagt, bedeutet so viel wie „der Gelobte“ oder „der Lobenswerte“ und Ali „der Hohe“, „der Erhabene“. Muhammad hatte seinen Namen über das Telefon erfahren, erst dann besuchte er Elijah Muhammad in dessen Haus und ging zu ihm in den oberen Stock. Der große geistige Anführer sagte zu Muhammad: „Ich habe die Bedeutung dafür.“
Dann kam er herunter und offenbarte uns die Bedeutung. Gleichzeitig erhielt auch ich meinen Namen, Rahaman Ali – was so viel wie „der Gnädige“ bedeutet.
Als wir der Nation of Islam beitraten, übernahmen wir auch die Lehren des Anführers, des ehrwürdigen Elijah Muhammad, der in weiterer Folge einen so starken Einfluss auf meinen Bruder haben sollte. Diese Lehren, denen Muhammad gleich zu Anfang ausgesetzt war, schienen genau richtig für ihn zu sein, passender als alles andere, was er davor gelernt hatte. Muhammad beschloss, seine Gefühle in etwas Tieferes zu kanalisieren, etwas, das er als eine starke Macht in seinem Leben wähnte, denn von da an sah er die Nation of Islam nicht mehr nur als religiöse Organisation, er begann nun auch damit, ihre tieferen Lehren anzunehmen.
Die Mitgliedschaft bei der NOI hatte auch andere Auswirkungen auf das Leben meines Bruders. Als Muhammad Mitglied wurde, verbrachte er viel Zeit mit Elijah Muhammad, geriet aber auch in den Bann eines der neun Kinder des Anführers. Jabir Herbert Muhammad war ein ergebener Muslim, aber auch ein Geschäftsmann, der ein Fotoatelier in der 79th Straße in Chicago sowie die offizielle Zeitung der Nation of Islam, Muhammad Speaks, betrieb. Erst nach dem Kampf gegen Liston traf mein Bruder auf Herbert und freundete sich mit ihm an. Muhammad fragte seinen spirituellen Führer, ob sein Sohn mit ihm zusammenarbeiten und ihm beim Management seiner Boxkarriere helfen könnte. Herberts Vater war sofort damit einverstanden und markierte damit den Beginn einer langen Beziehung, von der Herbert genauso profitierte, wie es die Nation of Islam tat. Zu dieser Zeit wurde Muhammad noch von der Louisville Group gemanagt und hatte einen Zehnjahresvertrag, weshalb Herbert bis 1966 warten musste, um meinen Bruder in seine Fänge zu bekommen, doch er nutzte jede Gelegenheit, um seinen Einfluss auf ihn zu vergrößern. Muhammad und ich erkannten dies damals allerdings noch nicht. Wir waren der Meinung, dass unser Verhältnis auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen basierte.
Elijah Muhammad wiederum machte sich nichts aus Sport und anderen Spielereien, sein Interesse und Ziel lagen darin, es Farbigen zu ermöglichen, in einem vom weißen Mann bestimmten „weißen Amerika“ zu leben. Er freute sich über jedes Mittel, mit dem er seine Idee transportieren konnte, und als laute, charismatische Berühmtheit war mein Bruder ein ideales Medium. So betrachtet stimmt es schon, dass er Muhammad ausnutzte, doch in gewisser Weise funktionierte dies in beide Richtungen. Als Muhammad eine persönliche und berufliche Verbindung zu Herbert aufbaute, hatte mein Bruder durch ihn auch Zugang zum Anführer der Nation of Islam.

Während Nebensachen wie Religion eine wichtige Rolle in Muhammads Leben spielten, arbeitete er weiter daran, zum König der Schwergewichtsklasse zu werden – und an einer besseren Zukunft. Außerdem hatte er weiterhin Zeit für seine Freunde. Einen Tag vor dem Kampf gegen Liston, der am 25. Februar 1964 angesetzt war, besuchten Muhammad und ich den damals erst zehn Jahre alten Jimmy Dundee im Krankenhaus, wo er sich einer Leistenbruchoperation unterziehen musste und somit nicht zum Kampf kommen konnte. Jimmy hatte, seit er fünf war, jeden Kampf von Muhammad live gesehen und war nun verständlicherweise traurig darüber, dass er es diesmal nicht schaffte. Zufälligerweise war die Kinderabteilung des Spitals damals so voll, dass das Personal Jimmy gefragt hatte, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn er in der „Negerabteilung“ untergebracht werden würde. „Warum sollte mir das etwas ausmachen?“, fragte er irritiert.
„Nun, weil dort die Neger behandelt werden“, antwortete der Doktor.
Jimmy meinte, dass ihn das nicht störe, und so war er der einzige weiße Patient in der Abteilung für Afroamerikaner, lag gleich neben einem Jungen seines Alters. Eines Tages, als er mit diesem Jungen darüber sprach, wie traurig er darüber sei, Muhammads Titelkampf nicht sehen zu können, hörte er jemanden im Korridor rufen: „Junger Boss, wo bist du?“
Muhammad nannte Angelo immer „Boss“.
„Kleiner Dundee, wo bist du!?“, hallten die Rufe durch den Korridor. Als Nächstes platzten mein Bruder und ich zusammen mit einigen von Muhammads Freunden aus dem Camp herein – Bundini, Howard Bingham und Patterson, der Bodyguard, alle in Jeansjacken. Sie müssen sich einmal die Gesichter der Schwestern und Pfleger vorstellen! Wir haben ihnen einen ziemlichen Schrecken eingejagt.
Auf jeden Fall betraten wir das Zimmer, und da lag Jimmy. Muhammad gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Als sich seine und die Blicke des anderen Jungen trafen, der im Bett neben Jimmy lag, sagte Muhammad zu ihm: „Was tust du denn hier? Du liegst hier nur rum und tust gar nichts.“
Dann setzte er Jimmy in einen Rollstuhl. Darauf nahmen wir seinen Bettnachbarn, setzten ihn in einen zweiten Rollstuhl und schoben die beiden unter Lachen und Gejohle den Korridor hinunter, während die anderen Patienten uns dabei zusahen. Wir verbrachten viel Zeit mit Jimmy, und alle anderen in der Kinderabteilung bekamen ein Autogramm von Muhammad. Mein Bruder zeigte seinen Ali Shuffle, führte ein paar Zaubertricks und Parodien vor und zauberte diesen Kindern für einen Nachmittag ein Lächeln ins Gesicht.






