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Durch Bekennung von Sünden vor der Gemeinschaft, hatte der Großmeister seine Gruppe vollkommen in der Hand.
Paul wusste all dies theoretisch, er wusste auch, wie gefährlich es werden würde in diese Sekte hineinzugelangen. Aber wenn es keine andere Möglichkeit gab, würde er es versuchen.
Kapitel 5
Grauenvolle Minuten lang wehrte sich das Mädchen, bis es kraftlos zusammensackte. Eiskaltes Wasser berührte ihren am Boden liegenden, nackten Körper und sie schrie auf. Der Wasserstrahl war hart und sie kauerte sich in Embryohaltung zusammen, versuchte sich zu schützen, indem sie die Arme um ihren Körper schlang. Doch der Strahl hatte kein Erbarmen.
Paul hatte inzwischen eine große Kanne mit Kaffee geleert und schleppte sich mehr schlecht als recht in die Universität. Er war schon sehr spät dran und deswegen war er nicht erst in das Lehrerzimmer gegangen, sondern gleich in den Hörsaal. Hier standen fast alle Studenten in einem Pulk zusammen und hatten sehr ernste Gesichter. Was war denn nun schon wieder passiert? Paul trat hinter sein Pult und setzte seine helle Ledertasche ab, als die Studenten ihn gleich umringten.
„Haben Sie es schon gehört? Es fehlt schon wieder ein Mädchen!“, sagte Tim, ein schwarzhaariger, aufgeweckter Junge.
„Nein!“, Paul zögerte, „wisst ihr mehr darüber?“
„Gabi aus der Parallelklasse ist verschwunden!“
„Sie wollte zu Ursels Geburtstagsparty kommen und ist nicht aufgetaucht!“
„Vorgestern war ich noch mit ihr zusammen!“
Alle sprachen durcheinander. Paul musste erst mal wieder Ruhe in die Klasse bringen und bat: „Nehmt doch bitte eure Plätze ein!“
Nach einigen Minuten räusperte sich Paul und sagte: „Es ist wirklich sehr schlimm, was hier im Moment passiert!“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.
„Für die Mädchen unter euch ist es sicher auch enorm schwierig, ich empfehle euch, geht nirgends alleine hin, sucht euch immer eine Begleitung! Ich will euch keine Angst machen, aber mir scheint, es ist das Beste, vorsichtig zu sein! Möchte noch jemand etwas dazu sagen?“ Paul schaute sich im Hörsaal um, die meisten schauten betroffen, doch es meldete sich niemand mehr. Paul seufzte.
„Nun, dann wollen wir versuchen, uns auf den Unterricht zu konzentrieren! Wir machen bei den Ausgrabungen in Ägypten weiter …“
Am späten Nachmittag, Paul hatte gerade einige Klausuren korrigiert, klingelte es an seiner Tür. Es war Kommissar Bruckner, er bat um ein Gespräch. Paul führte ihn ins Wohnzimmer und bot dem Kommissar etwas zu trinken an, was dieser dankend annahm. Der Kommissar schaute sich in Pauls Wohnzimmer um und fühlte sich gleich wohl. Die gemütliche Couch lud mit den bunten Kissen zum Faulenzen ein, und die helle Wohnzimmerwand aus Buchenholz war mehrfach unterbrochen durch Regale, die das Ganze auflockerten. Überall waren Bücher verstreut, nicht wenige standen in den Regalen und lagen in mehreren Stapeln auf dem Tisch. „Setzten Sie sich doch, Herr Bruckner!“, bat Paul. Der Kommissar legte seinen Mantel über die Lehne eines Sessels und setzte sich seufzend.
„Was führt Sie zu mir?“, fragte Paul neugierig.
„Leider keine angenehme Aufgabe!“, sagte der Kommissar.
„Viel lieber würde ich mich privat mit Ihnen unterhalten und dabei ein schönes Bierchen trinken, aber nun ist wieder ein Mädchen verschwunden. Sie haben es sicher schon gehört?!“ Paul nickte.
„Ja, ich habe es von den Studenten gehört. Die Mädchen haben inzwischen alle Angst aus dem Haus zu gehen, was ich gut verstehen kann. Viele von ihnen leben in Studentenwohnheimen und sind weit weg von ihrem zu Hause, andere haben das Glück, bei ihren Eltern zu wohnen, aber die Angst geht um. Ich habe den Mädchen empfohlen nirgendwo alleine hinzugehen.“ Der Kommissar nickte bedächtig.
„Ist wohl eine gute, erste Sicherheitsmaßnahme, aber auf Dauer kann es natürlich nicht so weitergehen. Der eigentliche Grund meines Hierseins ist sehr ernster Natur. Sie sagten mir, dass Sie sich in den Orden einschleusen würden, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gäbe?“ Paul nickte bestätigend.
„Ich vermute, dass die vermissten Mädchen in engem Zusammenhang mit dem Orden stehen, in dem auch Andrea fast umgekommen wäre. Und Sie, als Archäologe und Geschichtslehrer, haben den besten Durchblick, was die Rituale und das Drumherum betrifft. Sie können meinen Vorschlag natürlich ablehnen, das ist Ihr gutes Recht, doch ich möchte Sie bitten uns und den Mädchen zu helfen.“
Paul nahm einen großen Schluck Mineralwasser aus seinem Glas und seufzte.
„Ich sehe auch keine andere Möglichkeit, und ich vermute genauso wie Sie, dass die Mädchen durch die Organisation des Ordens verschwinden.“
„Bedenken Sie alles in Ruhe, Sie wissen, in welche Gefahr Sie sich begeben! Auch würden Sie Ihren Unterricht sicherlich einige Zeit vernachlässigen müssen. Ich möchte jedoch niemanden einweihen, vor allem nicht die Schulleitung. Es ist schon so schwer genug, dass nichts davon an die Presse kommt.“
„Ja, da haben Sie recht, je weniger davon bekannt wird, desto einfacher werden die Nachforschungen sein!“, antwortete Paul.
„Wenn Sie sich dafür entscheiden“, fuhr der Kommissar fort, „sollten Sie bedenken, dass Sie ganz alleine auf sich gestellt sind. Sie werden kaum eine Möglichkeit finden, um mit mir in Kontakt zu treten. Wir vermuten, dass einige Mitglieder des Ordens in der Universität ihre Spitzel haben, oder sogar im Hörsaal sitzen, um die einzelnen Mädchen auszukundschaften. Deswegen dürfen wir niemandem vertrauen! Ich gebe Ihnen bis morgen Bedenkzeit!“
Paul wollte schon spontan Zusagen, doch der Kommissar war schon aufgestanden und ging an die Tür. Er winkte ab und sagte nur:
„Morgen komme ich wieder vorbei!“
Dann war er auch schon verschwunden.
Paul verbrachte eine weitere schlaflose Nacht, er erwog das Für und Wider. Doch im Grunde seines Forscherherzens war er schon mitten in der Planung. Er überlegte sich, wie er zu diesem Orden vorstoßen könnte, ohne Verdacht zu erwecken, und wie er von diesem Orden aufgenommen werden könnte. Am liebsten würde er eine winzige Kamera mitnehmen, doch durfte bei ihm nichts gefunden werden, was ihn auffliegen lassen konnte. Einige Male stand er wieder auf und tigerte durchs Schlafzimmer, doch irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte er sich für den Einsatz entschieden, und danach konnte er endlich einschlafen.
Heute war Samstag und es fand kein Unterricht statt. Die Klingel seiner Haustür riss Paul aus dem Schlaf und total übernächtigt tapste er zur Tür, um zu öffnen. Der Kommissar begrüßte ihn im Vorbeigehen und steuerte auf seine offene Küche zu.
„Ich habe ein paar frische Brötchen mitgebracht!“, war sein aufgeräumter Kommentar.
„Ich mache schon mal Kaffee, während Sie sich duschen und anziehen!“ Paul war ziemlich verdattert, vielleicht lag es auch an seinem noch sehr langsam arbeitenden Gehirn. So fragte Paul:
„Habe ich etwas verpasst?“
Der Kommissar lächelte und meinte:
„Sie haben sich doch schon dafür entschieden, oder täusche ich mich?“ Paul nickte müde. Zufrieden brummend setzte der Kommissar die Kaffeemaschine in Gang.
Bei einem knusprigen Brötchen und einer herrlich duftenden Tasse Kaffee waren Pauls Lebensgeister wieder geweckt. Auch die ausgiebige Dusche hatte dazu beigetragen.
Er war gespannt, was Kommissar Bruckner ihm mitteilen wollte.
„Wir brauchen einen unverdächtigen Mittelsmann, Paul, ich darf Sie doch Paul nennen?“ Paul nickte.
„Ich bin Hans! Also, um zur Sache zu kommen, haben Sie eine Idee, wie wir das handhaben könnten? Vor allem sollten Sie absolutes Vertrauen zu dieser Person haben!“ Da Paul sich in der vergangenen Nacht schon viele Gedanken darüber gemacht hatte, brachte er auch gleich seinen Vorschlag an.
„Das Einzige, was an meinem Plan nicht gelingen könnte, wäre, dass Melissa nicht mitmachen möchte. Das könnte ich ihr allerdings auch nicht verdenken.“
Hans klopfte Paul auf die Schulter und meinte: „Eine gute Idee, ich mache mir keine Sorgen, bei ihrem Charme …“ Paul verkniff das Gesicht und zog die Nase kraus.
„Ich möchte sie nicht dazu überreden, sie muss schon freiwillig mitmachen. Vielleicht bringe ich sie dadurch auch in Gefahr!“
Bruckner erhob sich, schüttelte Paul die Hand und wünschte ihm viel Erfolg.
„Passen Sie auf sich auf!“, waren seine letzten Worte, bevor er ging.
Kapitel 6
Blut – überall war Blut! Und es tat so weh, sie wollte nicht mehr hier sein, sie wollte aus diesem Albtraum erwachen!
Frisches Blut bahnte sich in hellroten Rinnsalen einen Weg an der Säule entlang. Einzelne Tropfen verschmolzen miteinander, um sich gemeinsam am Fuße der Säule in einer Lache zu sammeln. Zwei Schwerter lagen gekreuzt vor der Säule und wurden mit frischem Blut benetzt.
Paul telefonierte mit Melissa. Er fragte sie, was für ein Gefühl sie bei ihrer Klausur hätte. Melissa war bis zu seinem Anruf recht guter Dinge gewesen, doch nun wurde sie doch unsicher.
„Könnten wir uns kurz treffen und alles in Ruhe besprechen?“, fragte Paul.
„Ja, klar! Wo?“
„Am besten treffen wir uns im Park vor der Universität. Bis gleich!“
Melissa starrte den Hörer an und wunderte sich, der Professor hatte ihre Antwort nicht abgewartet, sondern schon aufgelegt.
Im Park schaute sich Paul unauffällig um und führte Melissa an eine etwas abgelegene Parkbank.
„Ich habe mit dir etwas Wichtiges zu bereden, es betrifft keineswegs deine Noten, um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen!“
Erleichtert setzte sich Melissa neben Paul.
„Zuerst möchte ich dich bitten, niemandem von diesem Gespräch zu erzählen. Niemandem! Hast du verstanden?“
„Ja, versprochen!“
„Nun gut, dann fangen wir an. Zuerst die gute Nachricht, Andrea ist auf dem Weg der Besserung. Du kannst sie im Luisen- Krankenhaus besuchen, wenn du möchtest.“
Melissa fasste sich an ihr Herz und seufzte erleichtert.
„Gott sei Dank! Das ist nur Ihnen zu verdanken!“
Sie sagte das mit solcher Überzeugung, etwas anderes kam für sie dabei nicht in Frage. Bescheiden nickte Paul.
„Ja, und es ist leider eine sehr komplizierte Geschichte. Es sind nun noch mehr Mädchen verschwunden und der Kommissar und ich haben einen begründeten Verdacht. Ich muss nun diesem Verdacht nachgehen, natürlich unter äußerster Geheimhaltung und dazu brauche ich einen Vermittler zwischen mir und dem Kommissar. Ich brauche jemanden, zu dem ich vollstes Vertrauen habe und der zuverlässig ist. Außerdem erfordert es ein wenig Mut.“
Hier hielt Paul inne und beobachtete Melissas Gesicht. Darin spiegelte sich alles Mögliche wider, von Erstaunen bis zu Verehrung.
„Ich dachte dabei an dich!“
Nun war die Bombe geplatzt. Melissa sah ihn entgeistert an.
„Ich?“
Dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht, dass ihr geliebter Professor zu ihr, Melissa, Vertrauen hatte, darüber freute sie sich sehr. Doch dann wurde sie ernst und fragte:
„Wie kann ich helfen? Was muss ich tun?“
Paul erläuterte ihr seinen Plan.
„Wir wissen, dass deine Noten nicht allzu schlecht sind, doch ich muss dich ab und zu alleine sprechen, ohne irgendwelche Zuhörer. Deswegen schlage ich eine Nachhilfestunde vor, die von mir immer kurzfristig angesetzt wird. Dann setzen wir uns kurz zusammen und tun so als ob. Dabei gebe ich dir Informationen weiter, die ausschließlich für den Kommissar bestimmt sind. Du darfst aber nicht dein Handy benutzen, für den Fall, dass es abgehört wird. Du triffst dich mit dem Kommissar und zwar als seine Haushaltshilfe. Eine Studentin braucht doch immer Geld und so tust du, als würdest du bei ihm privat sauber machen.“
Melissa war Feuer und Flamme.
„Das ist doch ein guter Plan!“, meinte sie.
„Es gibt nur einen Haken. Du kannst keine Begleitung mitnehmen, du wärst immer alleine unterwegs. Das ist leider ein großes Risiko!“
„Ich habe einen Freund, ich könnte ihn doch bitten, dass er mich zu meiner ‚Putzstelle‘ bringt und mich dann auch wieder abholt. Er begleitet mich seit den Vorfällen sowieso überall hin. Er holt mich auch immer von der Uni ab.“ Paul nickte erleichtert.
„Das könnte gehen. Ich möchte aber nochmals darauf aufmerksam machen, dass es gefährlich werden könnte, und zu niemandem ein Wort, auch nicht zu deinem Freund!“ Melissa nickte ernst.
„Okay. Wie geht es jetzt weiter?“
„Ist dein Freund in der Nähe?“ Melissa nickte.
„Dann ruf ihn jetzt an, er soll dich abholen. Ich werde solange hier warten. Hier habe ich die Adresse von Kommissar Bruckner und seine Telefonnummern. Am besten prägst du dir alles gut ein und vernichtest dann die Karte!“
Paul hoffte sehr, an alles gedacht zu haben und auch, dass er Melissa nicht in Gefahr brachte. Er würde noch Sorgen genug haben, sich selbst wieder heil aus der Sache herauszubringen, mit der er noch nicht einmal angefangen hatte.
Kapitel 7
Paul versuchte noch einmal des Nachts in die unterirdischen Räume des Ordens zu gelangen, doch es war immer jemand außerhalb des Eingangs postiert, verborgen hinter dichtem Gestrüpp patrouillierte eine Wache. Also waren sie jetzt vorsichtiger geworden, als bei seinem ersten heimlichen Besuch, das erschwerte seine Nachforschungen gewaltig. Er hatte gehofft, noch einmal die Räumlichkeiten und jeden Winkel untersuchen zu können. Doch er hatte ja eine Skizze angefertigt, durch die er sich die Örtlichkeiten sehr gut eingeprägt hatte. Es gab mehrere Gänge, die von der großen Säulenhalle hinausführten, aber nur zwei, die nicht in einer Sackgasse endeten. Mehrmals schlich er um die Kirche St. Gereon herum, konnte aber keine Hinweise auf weitere Ausgänge finden.
Es war nun schon wieder eine Woche vergangen, es war Freitagabend, und er hatte nichts erreicht. Er hatte sich in mehreren Bars herumgetrieben, hatte unauffällig Gespräche belauscht, hatte versucht manche vielversprechende Person auszuhorchen, aber er war nicht wirklich weitergekommen. Doch kleinste Hinweise setzte er wie ein Puzzle zusammen und konnte so wenigstens den Bruder von Andreas Vater ausfindig machen. Er hoffte, durch ihn in die Bruderschaft eingeführt zu werden. Aber als er genauer nachbohrte, stellte sich heraus, der Bruder von Andreas Vater war nur ein ganz kleines Licht in der Ordensrangordnung, eher ein Diener, also keiner von den dreizehn Ranghöchsten.
An diesem Abend lag er wieder vor dem Eingang des Ordens auf der Lauer und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Er wusste selbst nicht, was das sein könnte, doch dann, als er eine Stunde nutzlos in seinem Auto verbracht hatte, kam ihm ein Gedanke. Er würde einfach die Konfrontation suchen. Er kramte in seinem Kofferraum, er meinte sich erinnern zu können, dort letzte Woche noch eine Skimütze gesehen zu haben. Und tatsächlich, da war sie. Er schnitt sich zwei Löcher für die Augen frei und zog sie sich über sein Gesicht. Er schaute, dass er seine Taschenlampe, natürlich mit neuen Batterien, bei sich hatte, sie war winzig und passte in jede Hosentasche. Am liebsten hätte er sich bewaffnet, doch da machte er sich keine Hoffnungen, eine Waffe würde er sicher nicht an den Wachen vorbeischmuggeln können.
So schritt er selbstbewusst und zielstrebig auf den Wachmann zu, den man von der Straße aus nicht sehen konnte. Dieser war entsprechend erschrocken, hatte er doch nicht mit jemandem gerechnet, der fremd war und nicht zum Orden gehörte. Paul sprach ihn auch direkt ziemlich forsch an und machte so gleich seine Stellung klar. So sprach man nur, wenn man es gewohnt war, Befehle zu geben, oder wenn man sich in reichen Gesellschaftsschichten bewegte. Der Wachmann telefonierte sofort mit seinem Boss und fragte nach, was er machen solle. Er nickte zweimal, was sein Boss am andere Ende nicht sehen konnte und legte nach einem „Jawohl, sofort!“ wieder auf.
Er kam auf Paul zu und tastete ihn nach Waffen ab. Als einziges zog er die Taschenlampe und Pauls Handy heraus und als er die Taschenlampe als unverdächtig einstufte, gab er sie Paul zurück, das Handy behielt er. Die Steinmauer glitt zur Seite und öffnete so den Durchlass, allerdings von jemandem, der von innen herauskam, wahrscheinlich, damit Paul den Öffnungsmechanismus nicht sehen sollte. Zwei Wächter, die aus der Tür heraustraten, nahmen ihn in ihre Mitte und brachten ihn ins Innere. Dort wurden seine Augen verbunden und er wurde, so kam es Paul vor, absichtlich im Zickzackkurs durch die Gänge geführt. Als Paul Weihrauch wahrnahm, da wusste er, dass sie sich in der großen Säulenhalle befanden. Auch hallten ihre Schritte hier viel heller. Dann bogen sie nochmals ab und drückten Paul auf eine kalte Steinbank. „Warten!“, lautete der Befehl. Paul dachte, dass deren Wortschatz nicht gerade berauschend war, aber wahrscheinlich waren die Wächter nur einfache Befehlsempfänger. Sie nahmen ihm die Augenbinde ab, seine Skimütze allerdings durfte er aufbehalten.
Es verging fast eine Stunde, bis sich der Großkontur, also die rechte Hand des Großmeisters, mit ihm befasste. Er bat ihn in eine Kammer, Kerzen und Fackeln erhellten den Raum nur bedingt. Es gab einige dunkle Ecken und Nischen, die für Paul nicht einsehbar waren. Er war auf der Hut, aber er schaute sich unauffällig um. Er registrierte eine Art Paravent und vermutete noch weitere Zuhörer.
Der Großkontur bat ihn Platz zu nehmen, blieb aber selbst stehen. Es war psychologisch ein guter Schachzug, auf den Gegner hinunterzuschauen. Doch Paul ließ sich davon nicht beirren, er war es gewohnt, von den vielen Blicken seiner Studenten täglich beobachtet zu werden. Als er an seine Studenten dachte, da fielen ihm auch gleich die vermissten Mädchen wieder ein, und die Aufgabe, die er hier zu erfüllen gedachte. So straffte er die Schultern und wartete ab. Der Großkontur sah ihn erst einige Minuten schweigend an, vermutlich um ihn zu testen und um ihn einzuschüchtern. Paul blieb eisern. Dann endlich räusperte sich der Großkontur und fragte: „Was führt Sie zu uns?“ Paul antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Ich möchte Ordensmitglied werden!“
„Woher haben Sie von diesem Orden erfahren? Niemand weiß um unseren Orden, er unterliegt strengster Geheimhaltung. Also, wer hat uns verraten?“ Paul überlegte nur kurz, dann sagte er herausfordernd: „Sagen wir einmal so, direkt verraten hat Sie niemand, aber durch unvorsichtige Handlungsweise sind mir einige Dinge aufgefallen und denen bin ich nachgegangen.“
Diese Aussage schien dem Großkontur einzuleuchten.
„Und was genau stellen Sie sich vor, was wir hier tun? Wissen Sie wie es in einem Orden zugeht?“
„Da ich mich schon lange mit dem Gedanken trage in einen Orden einzutreten, habe ich mich natürlich mit dem Ordensleben an sich schon lange befasst.“
„Wir sind aber kein gewöhnlicher Orden, es gibt hier einige Besonderheiten. Was wissen Sie darüber?“
„Im Großen und Ganzen nur, dass es hier einige Riten gibt, die ich persönlich absolut für nötig befinde, die aber bisher in keinem anderen Orden zelebriert werden. Darum ist dies ja wohl auch ein geheimer Ort, nicht wahr?“, schob Paul seine Frage hinterher.
Plötzlich ertönte eine rauchige Stimme hinter dem Paravent: „Genug jetzt, ich übernehme den Gast!“
Hinter dem Paravent kam eine mächtige Gestalt in einem riesigen schwarzen Umhang hervor, vor dem Gesicht eine grausig aussehende Maske. Die Maske erinnerte Paul vor allem an die verzerrten Masken der Schamanen und an die der Medizinmänner in Afrika. Er nahm wahr, dass der Großkontur eine Verbeugung andeutend, die Kammer verließ. Paul erhob sich von seinem Stuhl und nickte dem Großmeister kurz zu. Durch den Fackelschein beleuchtet, sah der maskierte Großmeister wirklich zum Fürchten aus, doch Paul ließ sich davon nicht beirren. Dahinter war ein Mensch, wenn er allerdings an die Torturen dachte, die dieser „Mensch“ seinen Mitmenschen angedeihen ließ, so zweifelte er daran es mit einem Menschen in diesem Sinne zu tun zu haben. Höchstens ein machtbesessener Irrer konnte sich solche Foltermaßnahmen ausdenken, wie er, Paul, sie schon gesehen hatte. Ganz zu schweigen von den Methoden und Ritualen, die er noch nicht kannte. Im Grunde genommen hatte er einen gehörigen Respekt vor diesem Monster, doch er durfte sich nichts anmerken lassen.
„Sie sind schon ziemlich weit in mein Refugium vorgedrungen und ich behalte Sie lieber im Auge, als dass Sie weiter Ihre, nennen wir es einmal, Forschungen betreiben. Es gibt allerdings feste Regeln, bei Nichteinhaltung drohen äußerst üble, aber nützliche Strafen. Es wäre ihnen also nicht geraten mir zuwider zu handeln. Außerdem werde ich alles über Sie in Erfahrung bringen, aber Sie werden von mir nichts wissen. Ziehen Sie die Maske ab!“ Der Ton war wie der Befehl eines Generals an seine Soldaten. Paul gehorchte, obwohl ihm sehr flau in der Magengegend war. Der Großmeister umrundete ihn, Paul hatte sich nicht wieder gesetzt, und betrachtete ihn eingehend. Dann schaute er ihm in die Augen. Paul hielt mit starren Blick stand, wobei Paul nur in zwei gruselige, schwarze Höhlen blickte und kein Auge dahinter entdecken konnte. Der Großmeister schien zufrieden zu sein, er verlangte Pauls Ausweis, er musste seinen Beruf angeben, seine Arbeitsstelle und sogar seine Sozialversicherungsnummer. Mit anderen Worten, er wurde komplett durchleuchtet und seine Daten waren nicht mehr geschützt.
„Die anderen Ordensmitglieder werden nicht erfahren, wer Sie sind, die Daten sind bei mir gut aufgehoben!“, versicherte der Großmeister. Allerdings gab sich Paul nicht der Illusion hin, das zu glauben, denn er wusste, er würde nun auf Schritt und Tritt beschattet und beobachtet werden, nur so hatte ein solcher Orden seine Mitglieder in der Hand. Vielleicht wussten die maskierten Ordensmitglieder wirklich nicht, wer er war, aber der Großmeister hatte sicher genug Abschaum beschäftigt, die ihm alle Informationen zuverlässig weitergaben. Paul war jedenfalls auf der Hut, er würde von nun an jeden Schritt, den er tat, sorgfältig abwägen.
„Ziehen Sie nun ihre Maske wieder an, der Großkontur wird sich um Sie kümmern.“
„Wie geht es nun weiter?“, wagte Paul noch zu fragen.
„Ob Sie wirklich zu unserem Orden passen, werden wir in einer besonderen Sitzung abwägen!“
Dann verschwand der Großmeister wie durch Geisterhand hinter seinem Paravent und Paul hörte, wie sich eine Tür dahinter öffnete. Also gab es auch aus den Kammern noch kleine Hintertüren, durch die jederzeit jemand hereinkommen oder hinausgehen konnte.
Kaum war der Spuk vorbei, als der Großkontur vor ihm stand. Als erstes gab er Paul sein Handy zurück, dann nahm er ihn mit vor die Tür der Kammer, dort wurden wieder seine Augen verbunden. „Eine reine Vorsichtsmaßnahme, solange Sie noch nicht offiziell unserem Orden angehören!“, sagte er entschuldigend. Dann nahmen ihn wieder zwei Wächter in ihre Mitte und geleiteten ihn in eine andere Kammer, die jedoch noch ein weiteres Stockwerk tiefer lag. Paul konnte sich daran erinnern, dass im untersten Stockwerk nur kleine Abstellkammern und Geräteräume für Utensilien waren. Und richtig, als ihm die Augenbinde wieder abgenommen wurde, befand er sich in einer Art Kleiderkammer. Sauber aufgereiht hingen schwarze Umhänge und Masken an einer Stange. In einem Regal standen schwarze Schuhe und auch schwarze Hosen und Hemden lagen bereit. Paul erinnerte das dunkle Schwarz in diesem mysteriösen, unterirdischen Gewölbe sehr an eine Beerdigung. Doch bei Beerdigungen blitzte hier und da noch etwas weißes auf, was er hier gänzlich vermisste.
Ihm wurde nun passende Kleidung gegeben, nachdem er nach seiner Konfektionsgröße gefragt worden war. Paul dachte mit Galgenhumor, nun wissen sie sogar noch meine Schuhgröße und meine Kragenweite.
Er wurde alleine gelassen, um sich umzuziehen und sich unerkannt die Maske vor sein Gesicht zu ziehen.
Paul versuchte dem Gespräch zu lauschen, welches vor der Kammertür geführt wurde. Er bekam nur Bruchstücke mit, aber er reimte sich einiges zusammen.
„… Mutprobe, er muss eine Aufnahme bestehen … so ausgefallen war das bei uns damals noch nicht!“
Paul hatte genug gehört und ihm schauderte schon jetzt vor dem, was auf ihn zukam. Doch da musste er nun durch. Er durfte sich nicht verdächtig machen, indem er sich weigerte irgendetwas nicht zu tun. Es war nur schlimm, dass es genug Menschen gab, die an solchen quälerischen Handlungen ihre Freude hatten und denen eingeredet wurde, dass sie alles richtig machten und ihre Sünden alle vergeben wären.




