Augenzeugenbericht des Häftling Nr. 738 im KZ Buchenwald 1937–1945

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Alfred Michael Andreas Bunzol
Augenzeugenbericht des Häftling Nr. 738 im KZ
Buchenwald
1937 – 1945
Die Leben des Buchenwaldhäftlings
Alfred Bunzol 738
Verlag Rockstuhl
Umschlaggestaltung: Harald Rockstuhl, Bad Langensalza
Titelbild: Sammlung Buchenwaldarchiv
ISBN 978 - 3-86777 - 277-8, gedruckte Ausgabe 2011
1. E-Bookauflage 2014
ISBN 978 - 3-86777 - 603-5, E-Book [ePUb]
Satz: Alfred Michael Andreas Bunzol, Großrudestedt
Innenlayout: Annekathrin Rockstuhl, Bad Langensalza
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaber: Harald Rockstuhl
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www.verlag-rockstuhl.de
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Der Beginn, Vergangenheit und Gegenwart
Der 22. Mai 1951
Die Jahre 1907 bis 1925
Die Jahre 1926 bis 1937
Die Jahre 1937 bis 1945
Die Jahre 1945 bis 1951
Anhang
Bildquellen
Vorwort
Vielleicht musste es erst heute werden, damit ich zu merken begann, dass eine späte Einsicht in mir herangereift war. So wie bei einem typischen Spätstarter. Nun aber teile ich euch die Geheimnisse dieser Einsichten mit, die meinem Verstand bisher verschlossen blieben, weil die Zeit dafür in ihm noch nicht gereift war. Wie auch der Pflanzenkeim auf dem Felde seine Zeit braucht, um sich zu entwickeln. Man muss ihn säen, das Feld gießen, Unkraut jäten, und nur dann wird er im Laufe der Zeit in seiner vollen Pracht richtig reif. Irgendwer mir zu sagen versucht, du kannst deiner Vergangenheit nicht davon laufen, geschweige sie ignorieren. Auch kannst du sie nicht ändern, nur daraus lernen. Irgendwann wird man eben von ihr eingeholt. Dafür offenbart sie sich mir jetzt wie eine informative Zeitreise durch das vergangene Jahrhundert unserer Familie. Es zeigt, wie die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, des 20. Jahrhunderts, an unserer Familienentwicklung mitschrieb, sie beeinflusste und prägte. Bis in unsere Gegenwart mitbestimmt. Übrigens schreibt man das Jahr 2006, als ich mit meiner Familiengeschichte begann. 2006, das war das Jahr an dem der Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ auf dem Sundance Film Festival, von der Weltöffentlichkeit anfangs kaum beachtet, seine Premiere hatte. Sollten sich die darin aufgestellten Prognosen und Behauptungen bestätigen, tragen wir alle eine sehr hohe Verantwortung, wie keine bisherige Generation vor uns, gegenüber den nachfolgenden. Irgendwann ist die Zukunft unsere Gegenwart, wollen wir Veränderungen so müssen sie jetzt geschehen. Wir kommen um eine Veränderung unseres bisherigen achtlosen Umgangs mit der Natur nicht mehr herum, sonst berauben wir uns unsere eigene Lebensbasis. Machen wir so weiter, ist es durchaus möglich, die Erde auf Dauer für uns unbewohnbar zu machen, wenn wir nicht rechtzeitig genügend Überblick gewinnen, um das zu verhindern. Wir könnten unsere gewohnte Welt verlieren und die Welt könnte uns verlieren. Unsere vom Überfluss geprägte westliche Welt ist erbärmlich arm geworden. Gilt heutzutage der Konsumhunger nicht als Ausdruck individueller Selbstverwirklichung für uns alle? Ist er nicht zu einer tödlichen Sucht geworden? Haben wir uns nicht ein System geschaffen, das in seiner einzig logischen Konsequenz, die Umwelt zerstören, soziale Ungleichheit verschärfen, Kriege provozieren und das menschliche Leben in Formen pressen muss? Entscheidenden Problemen wie Krieg, Klimawandel, Armut und Perspektivlosigkeit begegnen wir alle mit staunender Unfähigkeit. Während der Großteil der Weltbevölkerung in Armut lebt und durch transnationale Konzerne ausgebeutet wird, kaufen wir alle wesentlich mehr, als wir tatsächlich benötigen, als für uns ausreichend wäre. Wir müssen anfangen zu lernen über den Tellerrand zu blicken. Der Leser möge mir verzeihen, schon in Vorwort mit solchen Themen bombardiert zu werden. Ich bin ganz gewiss kein Pessimist, aber man muss die Menschen wachrütteln, nur so kann sich überhaupt noch etwas ändern. Vielleicht gelingt es mir, mit unserer Familiengeschichte. Man sich unmittelbar nach dem Lesen der letzten Zeilen mit der tristen Realität, in der wir alle leben, etwas mehr beschäftigt. An sich die Frage stellt, was zählt heute mehr? Der Geldbeutel, das Aussehen, das arrogante Auftreten, die Gleichgültigkeit, das schauspielerische Talent, ja auch die Brutalität eines Menschen, oder die inneren Werte, wie Liebe, Glück, Frieden, Toleranz, Wahrheit, Zuverlässigkeit, Achtung, Demut, Respekt anderen gegenüber. 2006, das war aber auch das Jahr der Fußballweltmeisterschaft, als die ganze Welt für 4 Wochen auf Deutschland, als Austragungsland, schaute. 2006 bestand aber auch meine Tochter Steffi ihr Staatsexsamen an der Uni Jena als Jurist, die Vorraussetzung zur Prüfung als Volljurist. Meine Tochter Anja machte am Jahresende einen Schwangerschaftstest der positiv verlief, somit werde ich zum zweiten Mal Opa und sie zum zweiten Mal Mutter.
So, und nun kommen wir zu mir. Warum schreibe ich diese Geschichte? Hätte mir jemand vor einem oder zwei Jahren gesagt, daß ich damit anfangen werde eine solche zu schreiben, ich hätte Ihn ausgelacht. Hätte gesagt, daß ich es gar nicht kann, geschweige will, es für unmöglich hielt. Ich bin ja von Haus aus Diplom-Informatiker, also fachfremd. Und das schon mein Arbeitsleben lang, bis zum heutigen Tag und mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zu meiner Rente. Mein Spezialgebiet sind eigentlich Bits und Bytes. Aber irgendetwas treibt mich dazu, wie eine, durch Berührung, durch Gesten, durch Zufall entstehende Liebe, die man nie mehr verlieren will. Es ist ein Verlangen, eine Sucht in mir entstanden, die man schwer erklären kann. Vielleicht wird sie auch von außen gesteuert und mir der Willen und die Fähigkeit gegeben, es zu tun! In meinem Gehirn werden nach Mutters Tod (sie starb am 3. 1. 2006, 19.35 Uhr im Katholischen Krankenhaus Erfurt im Alter von 86 Jahren) immer wieder Gedanken produziert, denen ich nachgehen und sie aufschreiben muß. Sie sind ganz einfach da, ob ich will oder nicht! Ich muss sie mir von der Seele schreiben. Auch mache ich nun etwas, was ich noch nie in meinem Leben getan habe: Ich lasse euch gerne, so fern ihr es lesen wollt, daran teilhaben. Die Erteilung zum „teilhaben“ habe ich mir aber nicht so einfach gemacht, schließlich ermöglichen sie auch persönliche, intime und voyeuristische Blicke in unserer Familiengeschichte.
Anfangen werde ich mit dem Leben meines Vaters im 1. Teil der Geschichte. Erzählen werde ich Euch sein gequältes, gehetztes Leben, umrahmt von einer Überdosis Geschichte, einem Überschuss an Emotionen, die das menschliche Fassungsvermögen oft übersteigen. Von seinem Zuviel an extremen Ereignissen und tragischen Entwicklungen, Ängsten und lähmender Nüchternheit. Von seinem Übermaß an Erinnerungen, an enttäuschten Hoffnungen. Von seinem Schicksal, das in unserer Familie nicht seinesgleichen hat, das es ihn unmöglich zu machen schien, jemals ein gewöhnliches, normales Leben zu führen. Als Mensch, so wie du oder ich. Ich schreibe es aber auch gegen das Vergessen. Es ist ein Recht von mir, das ich als sein Sohn besitze und habe. Man möge beim lesen bedenken, daß ich kein Schriftsteller bin. Ich habe es so geschrieben wie ich es kann, aber Wahrheitsgetreu, versuche die Realität widerzuspiegeln. Die Geschichte Deutschlands, verpackt in unserer Familie, immer sachlich und ohne Scheuklappen zu sehen. Ansonsten hätte ich das Gefühl, das geschriebene hätte wenig Wert. Alles ist durch Recherchen, Dokumente und Aufzeichnungen untermauert. Bis auf den „Selbstmord“ von Vater, er ist von mir fiktiv gestellt, ich denke aber, so war sein Ende, alle Indizien deuten darauf hin. Der Leser möge sich aber darüber sein eigenes Urteil bilden. Aus juristischen Gründen habe ich lediglich die Namen der Zeugen geändert oder auch fiktiv handelnde Personen eingefügt. So zum Beispiel Major Kowulev vom NKWD, der in Rangsdorf wohnte. Das Schreiben hätte ich mir übrigens nicht so schwer vorgestellt. Vor allem die Gedanken, die man im Kopf hat, so auf Papier zu bringen, das sie dort für jedermann verständlich sagen was man will und denkt. Der gewählte Inhalt und die gewählte Form, ein Zusammenspiel von Dokumentation und Roman, realistisch bis zur Schmerzgrenze, ergaben sich einfach von Anfang an. Ich will nicht sagen wie von selbst, denn schließlich bin ich ja der Schreiberling und somit auch verantwortlich für Inhalt und Form. Doch genauso gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde die es einfach gibt, die aber schwer oder gar nicht zu erklären sind. Funktioniert nicht von Anfang an bei der Entstehung des Menschen auch alles wie von selbst. Wer ist hier eigentlich verantwortlich dafür? Für die Zeugung Mann und Frau und dann? Vielleicht ist in dieser Chronik nicht alles perfekt formuliert, ich bin ja auch kein perfekter Mensch. Aber wer ist dies schon? Denn schließlich gilt für uns alle: „nobody is perfect!“. Auch war es zu keinem Zeitpunkt meine Absicht aus der Geschichte unserer Familie einen Krimi oder ähnliches werden zulassen, womöglich dafür die geschichtlichen Fakten zu verlassen oder umzubasteln. Sie soll einfach nur unsere Familiengeschichte dokumentieren und zeigen. Ich denke aber, sie liest sich genau so spannend.
Ich sehe schon … nun aber genug gefaselt. Lest einfach den nachfolgenden Text, so wie ein neugieriges Kind und stellt euch Fragen, die ihr durch Nachforschungen im inneren und äußeren beantworten müsst. Auch lasst Vorurteile und scheinbare Argumente wie, die Menschheit ist halt so, das kann man doch nicht (so lange) geheim halten, das ist Zufall, das würden die doch nie machen, beiseite, denn sie dienen nur dazu, die Suche nach den wahren Zusammenhängen zu stören und zu stoppen. Für den Fall, dass ihr neugierig geworden seid, sollte man auf jeden Fall weiterlesen, zumindest es für sich im Auge behalten. Ich möchte euch jedoch, je nach Einstellung vorwarnen oder aufmuntern, man lernt fortan den Menschen in allen Formen und Auswüchsen kennen, als Bestie aber auch als Engel.
Alfred Michael Andreas Bunzol
Der Beginn, Vergangenheit und Gegenwart
Mutters Tod, der einen in Trauer zurückließ, hat am Anfang eine gewisse Ratlosigkeit in mir ausgelöst. Ratlosigkeit gegenüber den bisherigen Erzählungen aus ihrem Leben. Über die Geschichte der Familie, des Vaters. Nach Sichtung der von Ihr hinterlassenen Dokumente zeigten sich mir ganz andere Bilder, als die, die ich mir bis dahin vorgestellt und ausgemalt hatte. Es blieben nur wenige übrig. Vielleicht wollte oder konnte sie zu Lebzeiten nicht die wirkliche Wahrheit erzählen. Meiner anfänglichen Ratlosigkeit entgegenzuwirken begab ich mich auf eine Wanderschaft in die Geschichte. So wie „Hans im Glück“. Nicht um in ihr eine goldene Gans zu finden, nein, es wurde eine Suche nach den Lebenslinien unserer Familie, verpackt in eineinhalb Jahrhunderten. Was ich darin fand waren ihre Spuren und Schicksale enthalten in Berichten, Dokumenten, Zahlen, Briefen und Bildern. Ich sprach mit Zeitzeugen. Zum Ende der Wanderschaft begann ich das gewonnene Material zu sammeln, zu sortieren, zu verdichtet und die Schicksale wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Es war einfach wunderbar, solch ein ausgefallenes Puzzlespiel zusammensetzen zu dürfen. Alles roch förmlich nach Geschichte. Letztendlich war ich mehr als erstaunt über das Ergebnis, das sich mir Stück für Stück offenbarte. In den Biografien spiegelt sich das soziale und politische Leben einer Zeit voll großer Ideale und blutiger Kriege. Zeigte mir aber auch die andere Seite der Medaille. Die Liebe! Verdammt schön war es mit anzusehen wie sie es versteht, trotz allem Leid, trotz allem Schmerz, auf ihr Recht zu pochen, um es sich ganz einfach zu nehmen. Sie bestäubt uns nach ihren Spielregeln, ohne zu hinterfragen nach einem wann, warum, weshalb, wieso. Kommt und geht zu uns, wie sie es will. Alle Puzzelbausteine lieferten mir letztendlich die Menge an Material die ich brauchte, um eine Familiengeschichte zu schreiben. Denn unsere Familiengeschichte muß vor dem Vergessen gerettet und bewahrt werden! All das zu vergessen wäre dumm, verantwortungslos und undankbar. Leider vergisst der Mensch relativ schnell, es liegt ja in seiner Natur! Man bedenke! Als ich 1952 geboren wurde, also vor nicht einmal einem Menschenleben gab es noch keine Fernseher, Computer oder Handys. Ein Menschenleben weiter und es gab noch keine Elektrizitätsversorgung oder Flugzeuge. Zwei Menschenleben zuvor keine Dampfmaschinen, geschweige Autos. Drei Menschenleben weiter und wir sind schon im Mittelalter gelandet. Wir wissen, dass es so ist, und doch ist es immer wieder faszinierend, wie gründlich der Mensch vergisst. Wir leben in beschleunigten Zeiten, klar. Doch irgendwie bekommen wir das gar nicht richtig mit. Vor allem, weil wir uns einfach treiben lassen, ohne die uns umgebenden Strömungen zu hinterfragen. Vielleicht glauben wir ja zu wissen wohin für uns die Reise geht. Wenn wir uns da mal nicht irren.
Wie schon gesagt, ein Grund zum schreiben der Familiengeschichte waren die gefundenen Unterlagen, Aufzeichnungen und Dokumente die ich im Nachlass von Mutter vorfand. Mutter redete auch immer davon, dass sie ein Buch schrieb. Ich fand aber nur ein ca. 20 Seiten umfassendes Skript. Es war für mich ein bisschen Ungewöhnlich, da sie ja schon seit ungefähr 15 Jahren davon sprach und daran schrieb? Egal, sie hat es als Rentnerin versucht, und interessant ist das Skript allemal. (Ich habe es natürlich mit in die Chronik eingebaut. Es ermöglicht dem Leser ein Einblick in Ihr Leben, welches sie zwischen ihrem 70. und 86. Lebensjahr so formulierte.) In all den gefundenen steckte der Ideenspeicher, das transportable Gedächtnis, die Keimzelle meiner Familie, des verstorbenen Vater mit seiner beeindruckenden Biografie. Gestehen muss ich euch aber, dass seine Vergangenheit, seine Geschichte, mich bis zu diesen Zeitpunkt nicht sonderlich interessierte. Irgendwie war er in unserer Familie immer ein gewisses Tabuthema, über das Mutter ungern sprach. Ich wuchs ohne Vater auf, es war eben so. Mein Vater war für mich seit ich denken kann Tod! Über ihn könnte ich niemals sagen. Vater, du hast mir so viel für mein Leben gegeben. Alles was du konntest. Es wurde uns Kindern gesagt, dass er durch einen Autounfall ums Leben kam und das reichte als Erklärung. Wir wussten auch, dass er in Buchenwald inhaftiert war und Mutter versuchte in den wenigen Gesprächen, ihn uns immer als aufrichten Kommunisten und Kämpfer für seine Sache zu beschreiben. Es kam aber selten vor und wie gesagt, es interessierte mich auch nicht besonders, da er für mich ja im gewissen Sinne ein Fremder war und ist, eben nur mein biologischer Zeuger. Denn als ich im Jahre 1952 das Licht der Welt erblickte, um meine lebenslange Reise anzutreten, hatte er die seinige bereits seit sieben Monaten beendet und sich aus dieser Welt verabschiedet. Das Interesse an ihm änderte sich auch nicht groß im Laufe meines Lebens, bis zu dem Tag der Familienfeier zum 75. Geburtstag von Mutter.

Es waren wie immer alle Familienangehörigen anwesend. Auch Tante Mischa, die Schwester von Mutter, und Onkel Albert. Sie wohnten in Düsseldorf, der damaligen BRD. Da wir sie nicht besuchen konnten, Reisemöglichkeiten waren ja für uns DDR Bürger stark beschnitten. Nur den Rentnern in der DDR ging es gut. Sie konnten in den Westen reisen. Mit 10 DM Reisegeld! Wir als Nichtrentner mit gewissen Hindernissen nur in die Ostblockstaaten. So kamen sie eben jedes Jahr zu uns. Oft auch zweimal im Jahr, meist über Weihnachten und Silvester. Das „Westpäckchen“ oder die „Westgeschenke“ bildeten für uns dann oft den absoluten Höhepunkt zum Weihnachtsfest. Vor allen für die Kinder. Bei solchen Feiern ging es immer sehr lustig zu und jeder hat sich auf den anderen gefreut. Sie haben sich auch immer im „Osten“ wohlgefühlt. Vielleicht war es für sie das andere Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie, die Lebensweise der Menschen des Ostens. Der Geschmack des Ostens. Für uns war die Ost West Situation eben so wie sie damals war und man nahm sie, als nicht erfreuliche, aber auch nicht zu ändernde, als eine der vielen unsinnigen politischen Gegebenheiten hin. Reisen in den Westen waren eben für uns „Nichtrentner“ tabu. Aber dies nur am Rande. „Im 2. Teil der Familiengeschichte werde ich ihr Leben nach der Kriegsteilung Deutschlands und dessen Wiederaufbau nach zwei Strickmustern in Ost- und Westdeutschland und wie sie damit zu Recht kam noch genauer und ausführlich schildern. Selbstverständlich werde ich euch auch davon berichten, was für uns damals die Freundschaft zur Sowjetunion, DSF, SED, HO, Konsum, der Intershop mit seinem eigenartigen Geruch, Westgeld, GST, NVA, Panzerbüchsenschütze II, Pioniere, FDJ, Trabi oder Liebe, Pille und Ehei ….. bedeutete. Erzähle Euch, wo und warum ich studierte, daß ich oft mit einem lauen Gefühl im Magen zur Uni ging, weil ich nicht gelernt hatte, oder zu faul dazu war. Werde euch beschreiben, wie sich die Welt für mich anfühlt und anfühlte. Werde euch informieren über die alltägliche Lebensweise in der DDR, in der Wendezeit, über die heutige in der BRD. Nicht aus der Sicht eines Krugs, Maske, Witt, Biermann und Haagen oder wie sie alle heißen mögen! Deren Leben und Lebenswandel haben und hatten gestern wie heute mit dem meinen, und ich denke mit dem der meisten Otto Normalverbraucher, nicht das Geringste zu tun. Für sie sind es immer wieder die gleichen Schickiterrias wo sie zu sitzen pflegen und meinen, sie sind die besseren Menschen. Wenig hat sich für sie geändert, nur ihr Auftreten um Aufmerksamkeit zu erlangen und die Menge an Geld welches sie dafür bekommen, da es genug andere „Dumme“ gibt, denen sie ihre Märchen auftischen können. Da werden sie für etwas geehrt, was nicht selten leider auch ziemlich geistlos war oder ist. Aber es ist eben alles eine Geschmackssache. Wer kennt sich nicht alles aus in dieser Welt der Schickimickis, träumt womöglich im Stillen von ihr? Na ja! Wo, außer in einigen wenigen Museen oder Dokumentationen, können Eltern ihren Kindern noch zeigen, wie es damals war, in der DDR, in der Wendezeit? Der Mensch vergisst eben! Doch lest erst mal den 1. Teil und freut euch dann auf Teil 2!“
Irgendwie kam an diesen Abend, übrigens zum ersten Mal bei all den vielen Besuchen, das Gespräch auf unseren Vater. Mutter sagte was er für ein aufrechter Kommunist war. Da lachte Tante Mischa. Sie hatte immer so eine aufrichtige und offene, manchmal derbe Art sich zu Äußern. Auf keinen Fall aber eine unsympatische. Oft lachten wir, wenn sie sich in Ihrer Art mit Onkel Albert stritt. Er hatte ganz schönen Dampf vor Ihr. Sie sagte zu Ihrer Schwester: „Meinst Du etwa diesen Feigling, der sich durch Selbstmord aus den Staub gemacht hat und Dich mit den vier Kindern zurückließ. Aufrechter Kommunist, da kann ich nur lachen. Hätte er sich lieber um Euch gekümmert, statt um seinen scheiß Kommunismus“. Für mich schlug diese Behauptung wie eine Bombe ein. Ich sagte zu Tante Mischa: „Wieso, er ist doch durch einen Autounfall gestorben“. Es war übrigens mein einziger Kommentar an diesem Abend zu diesem Thema. Auch hat es keiner der Gäste groß mitbekommen. Ha, sagte sie, frage doch Deine Mutter. Mutter sagte, jaaa er hat Selbstmord begangen. Sie sagte es so, als wenn es vollkommen selbstverständlich war und wir es doch wüsten. Irgendwie ging an diesen Abend ein Knacks durch die Mutter-, Sohn Beziehung. Ich konnte es nicht verstehen, daß sie uns so belogen hat. Als wir kleine Kinder waren erscheint es mir sinnvoll, daß sie es uns so sagte, es war ok. Wir waren aber jetzt 40 und hatten ein Recht auf die Wahrheit gehabt. Ob Autounfall oder Selbstmord, es war mir zum damaligen Zeitpunkt relative schnuppe, aber nicht die Lüge von Mutter. Ich war innerlich stocksauer und irgendwie hat diese Wahrheit, mehr die Lügen der Mutter mich an diesen Abend aus der Bahn geworfen. Ich trank mir einen an, verlor sprichwörtlich die Orientierung, hatte dabei aber keinen Filmriss, und landete statt im Bett im „Rosenbeet“. War natürlich Blödsinn, ist aber halt passiert. War vielleicht auch Sauer darüber, das sie mir einen Flirt mit Iris vermiest hat, der den Tag so schön hat beginnen lassen. Wir kennen uns schon ein Leben lang, wohnen in der gleichen Straße. Mann kann einer Frau ansehen, ob er Chancen bei ihr hat oder nicht! Ich glaube, ich habe sie. Eigentlich wollte ich mit ihr an diesen Abend nur ein bisschen Spaß haben, ohne Hintergedanken. Es einfach mitnehmen. Einen kleinen Flirt, ein kleines Vergnügen, ein Ausbruch aus dem Alltag. Eben eine kleine Affäre am Rande. Doch schon am späten Abend ging sie so schnell zu Ende, wie sie am Nachmittag begonnen hatte. Aber was soll es, es war ein Abend voller Ereignisse für mich. Das sind meine Erinnerungen über den Abend als ich erfuhr, dass mein Vater „Selbstmord“ begangen hat. Ich beschreibe ihn so, wie er war.
Im Nachlass von Mutter fand ich auch einen Brief der verdeutlichte, dass die Enthüllungen dieses Tages, dass sie ihren Kindern nicht die Wahrheit gesagt hat, ihr schwer zu schaffen machte. Dieser Brief von ihr hat mich emonzional sehr berührt und traurig gemacht. Trotzdem war ich über Mutter etwas böse, warum hat sie mit ihren Kindern nicht so offen wie in diesem Brief gesprochen. Man hätte vieles klären können. Zumal die Nachforschungen ergaben, dass sie nach dem „Selbstmord“ ihres Mannes, über Nacht, ohne jegliche Absicherung dastand. Schwanger, mit 3 kleinen Kindern! Sie bedroht und erpresst wurde, die wahren Gründe dieser Tat zu verschweigen und zu ignorieren. Ihr nichts anderes übrig blieb, als nach Großrudestedt zu ihren Eltern zu ziehen. Sie um den Unterhalt für ihre Kinder kämpfen musste. Erst im Jahre 1954 wurde eine VDNii Rente in Höhe von 105,00 DM für Jutta, Rosel und später für mich genehmigt. Alle anderen Anträge von Ihr wurden abgelehnt. Sie hat hart dafür gekämpft, was mehr als nur meinen Respekt verdient. Wenn ich hier sitze und diese Zeilen schreibe sehe ich sie oft vor mir, die kleine Mutter, die kleine Käte, wie sie verstand um ihre Rechte zu kämpfen, vor allem für die ihrer Kinder. Ich würde sie jetzt gern in die Arme nehmen und Danke sagen. Sie ist meine Mutter, auch wenn ich dieses Jahr 54 geworden bin. Eigene Kinder habe, Enkelkinder. So werde ich trotzdem immer in meinem inneren ihr Kind bleiben. Dies alles dient mir auch als Ansporn, um endlich Licht ins Dunkle zu bringen. Falls dies überhaupt noch möglich ist. Bei all meinen Nachforschungen habe ich gemerkt, daß 100 Jahre in der Geschichte rückwärts eine Ewigkeit sein kann und es schwer ist noch etwas herauszufinden. Aber auf keinen Fall unmöglich. Denn etwas herauszufinden, ohne es zu suchen, ist schwer und unmöglich. Jede Familie hat ihre eigene Geschichte. Diese Erzählung enthält ein Stück unserer Geschichte. Sie versucht unserer Familie ein Gesicht zu geben. Unsere Lebensweise von heute mag vollständig anders sein als die unserer Vorfahren, aber unsere Ängste, Wünsche und Hoffnungen sind eigentlich die gleichen geblieben. Das habe ich beim schreiben gemerkt.
Um mir ein besseres Bild über Vater zu machen sprach ich per Telefon mit dem Zeitzeugen Herr R. über Bunzol. Er kannte den Bunzol nur 3 Monate aus Block 17 in Buchenwald, wo der Bunzol als Blockältester Vertretung machen mußte. Herr R. war zu dieser Zeit Blockschreiber im Block 17. (Blockältester aus 17 wurde kurzzeitig von SS inhaftiert und verhört) R. war nach der Befreiung bis zu seiner Pensionierung bei der Kripo in Weimar, Bunzol war bei der VP (PK Leiter). Sagte mehrmals, während des Telefonats, dass er mir nicht weiterhelfen kann, da er nicht viel weiß. Nur soviel, das alle in der Dienststelle Weimar vom Tod überrascht waren und keine Erklärung dafür hatten. Hatte über mögliche Ursachen keine Erklärungen nicht mal Vermutungen. Am 15. Juli 2007 war ich mit Renee’ zum siebzigsten Jahrestag der Errichtung von Buchenwald. Zur Feierstunde waren ehemalige Häftlinge aus ganz Europa gekommen. Es gibt aber nur noch wenige lebende Zeitzeugen, die altersbedingt von Jahr zu Jahr immer weniger werden. Ich konnte mich mit einigen aus Frankreich und Polen über Bunzol unterhalten. Ein voller Erfolg! Der ehemalige polnische Häftling W. K. aus Wroclaw, war 17 als er mit seinem Vater nach Buchenwald deportiert wurde. Nur er überlebte. W. K. konnte sich nach anfänglichen Sprachproblemen sofort an Bunzol erinnern. Er sagte und wußte sofort: „Ach ja, der Bunzol, der war der Verbindungsmann zu den polnischen Kommunisten. Der Bunzol, ein guter Kamerad. Was war der Bunzol für ein Jahrgang, fragte er mich? Ich sagte 1907. Dann habe ich damals richtig geschätzt, so um die 25 bis 30, ich war 17. Er hat sich immer in Rahmen seiner Möglichkeiten für uns polnische Häftlinge eingesetzt, egal ob Kommunisten oder nicht. Vor allen für uns Polenjungs, damit wir eine Chance zum Überleben hatten. Der Bunzol und der Wyschka, sie waren oft zusammen, waren gute und aufrichtige Menschen.“ Leider war keine Zeit mehr zu intensiveren Gesprächen, er mußte zur Feierstunde zurück. Ich schrieb ihm und er hat mir viele interessante und unschätzbare Details per E-Mail über die Zusammenarbeit von polnischen und deutschen Kameraden geschildert.