Völkerrecht

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Die neue Ordnung beruhte im Wesentlichen auf drei Elementen: der Rückkehr zum dynastischen Prinzip, bald in Anlehnung an eine Formulierung des Schweizer Staatsrechtlers Karl Ludwig von Haller als «Restauration» bezeichnet; moderner Diplomatie auf der Grundlage des Gleichgewichts der Mächte; schliesslich einer bedeutenderen Rolle des Völkerrechts. Dem Völkerrecht war in der post-napoleonischen Friedensordnung eine wichtigere Rolle zugedacht als in der Ära nach dem Westfälischen Frieden. Man setzte darauf, die internationalen Beziehungen durch Verträge zu stabilisieren. Beispiel ist etwa der Londoner Vertrag von 1839. Die Grossmächte garantierten – im Interesse europäischer Stabilität – die Neutralität Belgiens. Jener Neutralität bemerkenswerterweise, deren Bruch 75 Jahre später durch den Angriff Deutschlands auf Belgien den Beginn des Ersten Weltkriegs markieren sollte.
Merkmal der Ordnung nach 1815 war auch eine stärker hervorgehobene Stellung der Führungsmächte. Grossbritannien, Russland, Österreich, Preussen und bald auch wieder Frankreich übernahmen gemeinsam eine Rolle, die später manchmal als die eines «Sicherheitsrats des 19. Jahrhunderts» bezeichnet wurde. Hervorgehoben waren die Grossmächte allerdings nur politisch, nicht völkerrechtlich. Sie hatten, anders als heute die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, keinen rechtlichen Sonderstatus. Die als sogenanntes Konzert der Grossmächte oder Pentarchie bezeichneten Führungsmächte unternahmen aber einen ersten Versuch, in Europa ein gemeinsames internationales Konfliktmanagement durch sie selbst zu betreiben. Das System funktionierte in den ersten Jahren nach dem Wiener Kongress einigermassen und spielte mindestens bis zum Krimkrieg (1853–1856) eine Rolle.30 In der Orientkrise von 1839 bis 1841 etwa verhinderten die Grossmächte, die sich als Hüter des Gleichgewichts verstanden, eine Herauslösung Ägyptens aus dem Osmanischen Reich.
Geistige Grundlagen des Völkerrechts
Geistige Grundlage des Völkerrechts in seiner frühen neuzeitlichen Phase war ein verbleibendes Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Westchristenheit gewesen. Trotz aller Differenzen und Gegensätze gab es eine gemeinsame kulturelle Prägung durch den römisch-christlichen Glauben, von dem der Protestantismus mehr Variante als Gegensatz war. Über Jahrhunderte hatten Kaiser und Papst die Idee der Einheit der Welt verkörpert. Diese Idee lebte symbolisch über den Dreissigjährigen Krieg hinaus im weiterhin bestehenden, nun aber entsakralisierten Kaiseramt weiter. Eine verbindende Klammer war auch die lateinische Sprache als Lingua franca der Gelehrten gewesen. Noch die Westfälischen Friedensverträge wurden lateinisch abgefasst. Latein war politisch neutral, da es nicht die Sprache einer Grossmacht war. Wer es benutzte, bewegte sich im geistigen Horizont einer gemeinsamen abendländischen Kultur, als deren Wurzeln, verstärkt durch Renaissance und Humanismus, die griechisch-lateinische Antike verstanden wurde. Auch das Nachwirken der europäisch mittelalterlichen Ritterkultur trug zu einer gewissen Restsolidarität bei, die die Grundlage der westlichen Völkerrechtsgemeinschaft bildete. Ritterlichkeit bedeutete Expertentum für das Kriegshandwerk, auch die Idee vorbildlichen Verhaltens klang an. Einflüsse auf das humanitäre Völkerrecht sind offensichtlich.31 Dem Verbot der Heimtücke etwa, wie wir es heute kennen, statuiert unter anderem in der I. Genfer Konvention von 1949, liegt die ritterliche Idee des fairen Kampfs zugrunde.
Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Vorstellung einer westchristlich-römischen Grundlage des Völkerrechts allmählich durch eine neue verdrängt oder überlagert. Die Vorstellung wurde in Europa zusehends stärker, dass das Völkerrecht das Recht einer Zivilisationsgemeinschaft sei. Es sei das Recht einer Gemeinschaft zivilisierter Staaten, wobei man mit «Zivilisation» vor allem die englische und französische Kultur meinte. Stark vereinfachend kann man sagen: Das Völkerrecht wurde der Idee nach vom Recht der Westchristenheit zum Recht einer Zivilisationsgemeinschaft, die mit der Zeit offener wurde für nichtwestchristliche Staaten, denen man Zivilisiertheit zubilligte. Diese Idee spielte bis ins 20. Jahrhundert, im Grunde bis zum Zweiten Weltkrieg, eine zentrale Rolle.32 Im Statut des 1920 geschaffenen Ständigen Internationalen Gerichtshofs heisst es in Artikel 38 Absatz 1 Ziffer 3 nicht zufällig, dass das Gericht die «von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsprinzipien» als Völkerrecht anwenden wird. Diese Bestimmung ist weitgehend unverändert in das Statut des Internationalen Gerichtshofs, des IGH, übernommen worden. Dem Begriff «zivilisiert» kam in diesem Zusammenhang nie praktische Bedeutung zu. Eine gewisse Symbolik der Formel aber, in der sich ein wichtiger Teil der Geschichte des Völkerrechts spiegelt, blieb.
Teilnehmer: Erweiterung auf nichtchristliche Staaten
Das 19. Jahrhundert brachte Veränderungen im Kreis der Teilnehmer des Völkerrechts. In den 1810er- und 1820er-Jahren wurden zunächst die südamerikanischen Staaten unabhängig und Völkerrechtssubjekte. Gelegentlich ist in diesem Zusammenhang von einer ersten Entkolonisierungswelle die Rede, der in der Zwischenkriegszeit eine bescheidene zweite und dann zwischen 1955 und 1975 die sehr starke dritte folgte. Die Loslösung Brasiliens vom portugiesischen Mutterland 1822 erfolgte friedlich, während die spanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit gewaltsam erstreiten mussten. Die Bedeutung Europas wurde durch diese Entwicklung relativiert. Eine Zäsur markierte auch die Erklärung der Vereinigten Staaten 1823, Interventionen europäischer Mächte auf dem amerikanischen Doppelkontinent künftig nicht mehr hinnehmen zu wollen.33 Die als Monroe-Doktrin bekannte Deklaration bildete den Anfang und den Rahmen für eine partiell selbstständige Völkerrechtsentwicklung auf dem amerikanischen Doppelkontinent.
Der entscheidende Schritt der Ausdehnung des Völkerrechts auf nichtchristliche Staaten erfolgte mit der Anerkennung des Osmanischen Reichs. Dieses erhielt im Friedensvertrag von Paris 1856, der den Krimkrieg beendete, den Status einer vollwertigen Vertragspartei. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden verschiedene asiatische Staaten Mitglieder der im Kern aber weiterhin europäischen Völkerrechtsgemeinschaft: Japan, Siam, China und Persien. Japan stieg zur regionalen Grossmacht auf.34 Es errichtete nach europäischem Vorbild Kolonien und Kolonialprotektorate, etwa in Korea. China, das sich den europäischen Mächten zunächst überlegen gefühlt und die Bedrohung verkannt hatte, musste im Opiumkrieg gegen die Briten eine bittere Niederlage einstecken und ab 1842 in sogenannten ungleichen Verträgen Beschränkungen seiner Souveränität hinnehmen. In Europa entstanden in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg neue Staaten, die sich aus dem Osmanischen Reich herauszulösen vermochten. Die Fürstentümer Rumänien und Serbien wurden 1881 beziehungsweise 1882 und Montenegro 1910 unabhängig. Nomadenvölker und indianische Stämme wurden generell nicht für völkerrechtsfähig erklärt. Ein berüchtigtes Urteil des US Supreme Court von 1831 – Cherokee Nation v. Georgia – spricht von den Indianerstämmen als «domestic dependent nations».35 Die Kolonisierung ihrer Gebiete erfolgte nach dem oben beschriebenen Muster der «Kolonisierung durch Nichtwahrnehmung».
Europäische Kolonisierung der Welt: Phasen
Das 19. Jahrhundert brachte eine neue Hochphase der Kolonisierung. Für ihre völkerrechtliche Einordnung ist es hilfreich, grundsätzlich drei Hauptphasen europäischer Ausgriffe auf die Welt zu unterscheiden. Differenzen bestanden vor allem bei den Rechtsformen, in denen kolonisiert wurde, sowie mit Blick auf die Modalitäten und die beteiligten Mächte. Die erste Phase war die Zeit der Eroberung überseeischer Gebiete vor allem durch Spanien und Portugal im 15. und 16. Jahrhundert. Diese dehnten ihre Staatsgewalt auf überseeische Gebiete aus. Der Staat wurde grösser. Als zweite Phase kann die Zeit zwischen 17. und 18. Jahrhundert gelten. In dieser Periode spielten englische und niederländische Handelskompanien die Schlüsselrolle bei der Kolonisierung. Sie waren teilweise mit staatsähnlichen Befugnissen ausgestattet, konnten etwa Verträge schliessen und vereinzelt gar Krieg führen.36 Sie sollten jedoch nicht oder nicht primär neue Territorien in Übersee besetzen, sondern Handelsmonopole errichten und absichern helfen. Diese «privatisierte» Form der Kolonisierung, die auf Handelsüberschüsse abzielte und deren Grundlage die Handelstheorie des Merkantilismus war, ermöglichte das Verfolgen wirtschaftlicher Ziele, ohne gleichzeitig das gesamte europäische Konzept der Staatlichkeit mit Gewaltmonopol und festen Grenzen in die Kolonien exportieren zu müssen. Der Export staatlicher Strukturen war teuer.
Die letzte Phase ab dem späten 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg glich in vielen Hinsichten der ersten mehr als der zweiten. Kolonien wurden nun im Regelfall wieder Teil des Mutterlands und damit von dessen Staatsgebiet. Staatliche Behörden lösten die Administrationen der Handelsgesellschaften immer mehr ab. Natürlich ist dies hier nur ein grobes Modell. Die Wirklichkeit war vielfältiger und widersprüchlicher. Wichtig ist vor allem, dass bei der Form der Kolonisierung Vielfalt und Spielräume für eine Anpassung an die jeweiligen politischen Ziele bestanden. Die intensivierte Kolonisierung ab 1870 wird oft als Periode des Imperialismus bezeichnet. Im Mittelpunkt stand – aus europäischer Sicht – der «Wettlauf um Afrika», in dem vor allem Grossbritannien und Frankreich ihre Kolonialreiche stark erweiterten.37 Im Fall Grossbritanniens kamen im 19. Jahrhundert als neue Besitzungen zudem Kanada, Neuseeland und Australien hinzu. Zwischen 1862 und 1912 verdoppelte sich das Territorium der von Grossbritannien beherrschten kolonialen Besitzungen auf bis zu ein Viertel der gesamten Landmasse der Welt. Auf See war Grossbritannien ohnehin dominierend. Neue französische Besitzungen wurden im 19. Jahrhundert etwa Französisch-Indochina, Madagaskar sowie Französisch-Nordafrika und Westafrika. Weltanschaulich gestützt wurde die europäische Kolonisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch biologistische und rassistische Weltanschauungen. Charles Darwins Forschungen über Selektionsprozesse in der Natur – 1859 in «On the Origin of Species» veröffentlicht – veränderten den Blick auf das Soziale. Das Prinzip der «natural selection», vulgarisiert und auf internationale Beziehungen übertragen, lieferte das ideologische Fundament, um Krieg als legitime Form von Wettbewerb und gar Fortschrittstreiber darzustellen. Darwin selbst hatte 1871 in «The Descent of Man» angesichts der Überlegenheit der amerikanischen Kolonisatoren über Indianer geschrieben: «[…] the wonderful progress of the United States, as well as the character of the people, are the results of natural selection […]». Das Völkerrecht war wesentlicher Teil eines kulturell-rechtlichen Amalgams, das die Unterwerfung der Welt unter europäische Herrschaft rechtfertigte.
Weitere Formen kolonialer Beherrschung
Koloniale Beherrschung bedeutete in dieser Periode nicht automatisch Kolonialstatus des beherrschten Gebiets. Das Völkerrecht kannte verschiedene Formen kolonialer Beherrschung, wobei die Wahl vor allem von der Interessenlage aufseiten der Kolonialmacht abhing.38 Eine wichtige Rolle spielte im 19. und frühen 20. Jahrhundert etwa das Kolonialprotektorat. Als Protektorat war in der Vergangenheit ein schwacher Staat bezeichnet worden, der einen Teil seiner Souveränitätsrechte aus Sicherheitsgründen auf einen anderen Staat überträgt, ohne dadurch aber seine Existenz als unabhängiger Staat zu verlieren. Reversibilität gehörte zur Konstruktion, der Protegierte hatte es in Händen, wieder vollständig souveräner Staat zu werden. Der Protektorstaat war typischerweise für die Aussenbeziehungen zuständig, da er dafür die notwendige Infrastruktur besass. Die Ionischen Inseln etwa waren von 1815 bis 1864 ein Protektorat Grossbritanniens gewesen. Im kolonialen Kontext wurde das Institut – der Idee nach fremdnützig – denaturiert. «Protegiert» wurden hier nicht schwache Staaten in deren primärem Interesse, sondern Gebiete, die Kolonialmächte als Kolonien ins Auge gefasst hatten. Ein Kolonialprotektorat war eine Kolonie auf Probe, seine Errichtung eine Vorstufe der Annexion. Madagaskar etwa wurde 1885 französisches Protektorat und 1896 Kolonie, Korea 1905 japanisches Protektorat und 1910 Kolonie. Seit 1999 hat der Begriff des Protektorats im Zusammenhang mit den UNO-Übergangsadministrationen auf Osttimor, der UNTAET (1999–2002), und im Kosovo, der 1999 geschaffenen UNMIK, eine gewisse Reaktivierung erfahren. Die Gebiete wurden teilweise als UNO-Protektorate bezeichnet. Mit der ursprünglichen hat diese Begriffsverwendung gemein, dass der Protektor der Idee nach, anders als beim Kolonialprotektorat, fremdnützig handelt.39 Der Unterschied besteht darin, dass er über seinen Status nicht selbst entscheidet.
Weitere Formen kolonialer Beherrschung verdienen kurze Erwähnung. Als Interessensphären galten Gebiete, die an bereits bestehende Kolonien angrenzten und auf die eine Kolonialmacht Ansprüche anmeldete. Der deutsche Ausdruck «Hinterland» wurde in diesem Zusammenhang als Lehnwort auch im Englischen verwendet. Beispiel ist der englisch-deutsche Vertrag über die Kolonien und Helgoland von 1890. Verträge über sogenannte Einflusssphären betrafen staatsähnliche Territorien mit schwacher Staatlichkeit. Die Vertragsparteien verpflichteten sich untereinander, in der Sphäre der anderen keine politischen oder wirtschaftlichen Konzessionen zu erwerben und die anderen Parteien beim Erwerb solcher Rechte in der eigenen Einflusssphäre nicht zu behindern. Einflusssphären wurden etwa mit Blick auf China und Persien vereinbart. So schlossen 1907 Russland und Grossbritannien einen Vertrag, der ihre Einflusssphären in Persien abgrenzte. Die wohl am weitesten reichende Form imperialer Durchdringung überseeischer Gebiete aber waren Abmachungen über Open-door-Regime. Kern solcher Regime waren Vereinbarungen, dass die Bürger aller Länder in diesen Gebieten gleiche ökonomische Möglichkeiten haben sollten. Sie wurden gegen den Willen der betroffenen Gebiete oder Staaten abgeschlossen, ihnen in der Regel aufgezwungen, etwa China 1842. Das Aufkommen von Open-door-Regimen hing mit dem Aufstieg der Freihandelstheorie zusammen, die im Wesentlichen besagte, dass freier Handel letztlich allen Beteiligten zugutekommt.
Wachstum und internationale Organisationen
Freihandel und erste Kodifikationen
Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde das Bedürfnis nach gemeinsamen völkerrechtlichen Lösungen immer stärker. Der Gesamtbestand an Völkerrecht wuchs zum einen an, weil der technische Fortschritt gemeinsame Lösungen bei Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur forderte.40 Man musste etwa das Problem lösen, dass an der Auslieferung eines Briefs im Ausland zwei Leistungserbringer beteiligt sind, die für ihre Leistung entschädigt werden wollen.
Man vereinbarte eine Regelung von bestechender Schlichtheit: Die Staaten behalten das volle Entgelt für die auf ihrem Territorium aufgegebenen Briefe und liefern dafür die im anderen Staat aufgegebenen unentgeltlich ab. Es entstanden erste internationale Organisationen, die sich mit Kommunikations- und Verkehrsfragen befassten. 1865 wurde der Allgemeine Telegrafenverein und 1874 der Weltpostverein gegründet.41 Bereits im frühen 19. Jahrhundert waren allerdings als Vorformen internationaler Organisationen einige zwischenstaatliche Kommissionen entstanden, die die Navigation grosser Flüsse administrierten, etwa 1815 die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt. Die ab den 1860er-Jahren entstehenden Organisationen waren relativ «unpolitisch», weil sie sich im Unterschied zu späteren wie dem Völkerbund nur mit technischen Fragen befassten.
Der Bedarf an gemeinsamen Regeln stieg auch an, weil die sich industrialisierenden Wettbewerbswirtschaften Erweiterungen der Wirtschaftsräume verlangten. Der britische Wirtschaftswissenschafter David Ricardo – kaum zufällig ein Autor aus einem früh industrialisierten Staat – hatte 1817 in einer epochalen Schrift mit dem Titel «Principles of Political Economy and Taxation» die These aufgestellt, der Abbau von Handelsschranken sei für alle beteiligten Länder vorteilhaft, weil jede Ökonomie sich so auf das konzentriere, was sie relativ am besten könne, das heisst im Vergleich zu den anderen. Dies gelte auch, wenn man nicht zu den von vornherein Starken gehöre, weil Konzentration auf das, was man relativ am besten kann, immer noch vergleichsweise effizient und daher profitabel sei, so Ricardos «Theorie der komparativen Vorteile».
Das heutige WTO-Recht beruht auf dieser Grundidee. Auch das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts erhielt ab der Jahrhundertmitte durch die Freihandelslehre einen Schub. Sie forderte den Abbau von Zöllen und eine stärkere Integration der Wirtschaftsräume. 1860 wurde zwischen Frankreich und Grossbritannien ein damals als bedeutend empfundener Vertrag geschlossen, der beide Staaten auf das «Prinzip der Meistbegünstigung» verpflichtete.42 Jede Zollsenkung für ein bestimmtes Gut, das irgendeinem Staat gewährt wurde, musste nun auch dem Vertragspartner zugestanden werden – mit dem Ziel, das Zollniveau generell zu senken. Die Schweiz hatte bereits 1850 einen solchen Vertrag mit den USA und 1855 einen mit Grossbritannien vereinbart.
Es kam zu ersten Kodifikationen völkerrechtlicher Teilgebiete. Den Anfang machte das humanitäre Völkerrecht mit der Schaffung der ersten Genfer Konvention «betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen» von 1864. Sie regelte den Schutz der Verwundeten und die Neutralität des Sanitätspersonals und war im Wesentlichen eine Folge davon, dass in den Kriegen der 1850er-Jahre viele Verwundete «unnötig» starben, weil es am erforderlichen Schutz und an der Wundversorgung fehlte. Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, vom russischen Zaren Nikolaus II. initiiert, brachten überdies vertragliche Fixierungen verschiedener Aspekte der Kriegführung.43 Hier stand nicht der Schutz des Einzelnen, sondern die Einhegung des Kriegs an sich, beispielsweise durch bestimmte Verbote von Waffen und Kriegführungsmethoden, im Vordergrund. Man einigte sich etwa auf ein Verbot des Einsatzes von Gift. Im Gebiet des humanitären Völkerrechts begann früh, was später in vielen anderen Gebieten des Völkerrechts zu beobachten sein würde: eine starke Verschiebung vom Gewohnheits- zum Vertragsrecht, das nun zur dominierenden Rechtsquelle wurde. Das Völkerrecht wurde durch diese Verschiebung insofern gestärkt, als es einfacher ist, Gewohnheitsrecht entweder zu bestreiten oder als blosse Völkermoral abzutun. Obschon sich die internationale Situation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und vor allem gegen dessen Ende zusehends zuspitzte, gab es in dieser Zeit bei vielen einen grossen Glauben an den Fortschritt durch Völkerrecht. In den Begriffen «Völkerrecht» und «ius gentium» klang die Idee einer Art «Weltvernunft» an. Eine moderne Völkerrechtswissenschaft entstand, die dieses Projekt voranzutreiben versuchte. Der Finne Martti Koskenniemi (geb. 1953) hat den Aufstieg dieser neuen Wissenschaft mit ihrer Mission in seinem 2001 erschienenen Buch «The Gentle Civilizer of Nations» beschrieben.
Aufkommen der Schiedsgerichtsbarkeit
Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war auch die Zeit des Aufstiegs der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.44 Eine eigentliche internationale Justiz mit festen Gerichten gab es damals noch nicht, die Unterwerfung unter «fremde» Institutionen erschien im Licht eines radikalisierten Souveränitätsverständnisses generell als Problem. Dennoch kam es zwischen 1872 und dem Ersten Weltkrieg zu mehreren Hundert Schiedsurteilen, bei denen die Abgrenzung zwischen politischer Vermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit im juristisch-technischen Sinne noch nicht immer klar war. Teilweise amteten Staatspräsidenten oder ganze Regierungen als Schiedsrichter. Der Anteil der Juristen in den Schiedsgerichten stieg erst mit der Zeit allmählich an. Auffallend viele Schiedsfälle betrafen Grenzstreitigkeiten. So wurde etwa die Grenze Brasiliens vollständig von Schiedsgerichten festgelegt, was ihren zuweilen geometrischen Verlauf miterklärt. Auch politisch brisante Streitigkeiten wurden teilweise von Schiedsgerichten entschieden, was als grösster Fortschritt galt.
Hervorhebung verdient der Alabama-Schiedsfall von 1872. Er markiert im Wesentlichen den Beginn der modernen Schiedsgerichtsbarkeit. Es standen sich mit den Vereinigten Staaten und Grossbritannien zwei der damals mächtigsten Staaten gegenüber.45 Es ging um Neutralitätsfragen. Grossbritannien hatte sich im amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 zunächst neutral erklärt und es dann aber doch zugelassen, dass auf seinem Territorium unter anderem ein Kreuzer der konföderierten Südstaaten gebaut wurde, die CSS Alabama. Das Schiff kam im Bürgerkrieg zum Einsatz und fügte den Unionstruppen starke Verluste zu. Das in Genf tagende Schiedsgericht kam zum Schluss, Grossbritannien habe seine Sorgfaltspflichten als Neutraler verletzt. Es verlieh mit seinem Entscheid dem nur dem Grundsatz nach feststehenden Neutralitätsrecht klarere Konturen. In der Sache hatte dies Elemente von Rechtsetzung durch Spruchtätigkeit. Der relative Erfolg der Schiedsgerichtsbarkeit in der Folge beflügelte den Glauben an die rechtsförmige Streitbeilegung. An den Haager Friedenskonferenzen war ihre Stärkung deshalb ein zentrales Thema. 1900 wurde auf Grundlage des 1899 angenommenen ersten Haager Abkommens zur friedlichen Beilegung internationaler Streitfälle der «Ständige Schiedshof» mit Sitz in Den Haag eingerichtet. Der Name verspricht mehr, als er hält, dennoch war der Schritt von einiger symbolischer Bedeutung. Er bestand und besteht bis heute im Wesentlichen aus einer Verwaltungsstelle, die bei der Einsetzung von Schiedsgerichten Hilfestellung leistet. Er hat in den letzten Jahren nach langem Schattendasein gar wieder an Bedeutung gewonnen.
Weg in den Ersten Weltkrieg
Die Frage, weshalb die internationale Ordnung mit dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach, ist ein eigener Wissenschaftszweig. Man muss mit pauschalen Aussagen vorsichtig sein, zumal der Erste Weltkrieg sich bei näherer Betrachtung als Krieg mit drei Teilkriegen im Westen und Osten sowie auf dem Balkan darstellt. Trotz aller Zusammenhänge hatten diese zum grossen Teil eigene Hintergründe und Anlässe. Was man sicher sagen kann, ist, dass beim Zusammenbruch der Wiener Ordnung 1914 politische, militärische und kulturelle Faktoren auf komplexe Weise zusammenspielten. Seit der Jahrhundertwende gab es keine nichtkolonisierten Gebiete mehr. Koloniale Ambitionen – etwa jene des spät in den «Wettlauf» um die Kolonien eingetretenen Deutschen Reiches – mussten unweigerlich zu Spannungen mit anderen europäischen Grossmächten führen. In der Logik des Gleichgewichtsdenkens war das Zusammenrücken der späteren Alliierten gegen Deutschland das Naheliegende: gemeinsamer Selbstschutz gegen einen Staat, der mit der Deutschen Einigung 1871 die Gewichte zu seinen Gunsten verschoben und spät aggressiv koloniale Ambitionen entwickelt hatte. In deutschen Augen war das Zusammenrücken eine Bedrohung, ein Umzingeln, das in der deutschen Öffentlichkeit eine Art Paranoia erzeugte.
Das Völkerrecht war Teil des Ursachenbündels, das zum Ersten Weltkrieg führte.46 Völkerrechtler tun sich schwer damit, dies zu schreiben. Die Existenz eines «ius ad bellum» schien zu implizieren, dass Kriegführung etwas Normales oder gar Natürliches darstellt. Durch eine darwinistische Brille betrachtet – Darwins Denken wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekanntlich in vulgarisierter Form Gemeingut – war es Ausdruck einer Art Naturgesetzlichkeit. Damit trug das Völkerrecht mit zur Gewalt bei, es wurde in gewisser Weise selbst ein Opfer seiner eigenen Ambitionslosigkeit im Bereich zwischenstaatlicher Gewaltanwendung. Das «ius ad bellum» war im 17. Jahrhundert in einem sehr spezifischen Kontext entstanden, von dem es sich vollständig abgelöst hatte. Hinzu kam, dass das Völkerrecht keinerlei persönliche Verantwortlichkeit politischer oder militärischer Entscheidungsträger kannte. Es war ein Recht zwischen Staaten. Die Entscheidungsträger mussten somit nicht damit rechnen, für Kriege persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dieses «alte» Verständnis des Völkerrechts sollte mit dem Ersten Weltkrieg teilweise und mit dem Zweiten endgültig an sein Ende kommen.47 Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg in seinen Dimensionen ein Ereignis jenseits jeden Erwartungshorizonts war. Deutschland hatte ihn in der festen Überzeugung begonnen, es handle sich um einen kurzen Feldzug. Am Ende wurde er zu einem vierjährigen Krieg mit 17 Millionen Toten, der das Bild militärischer Gewalt für immer und auch das Völkerrecht fundamental veränderte. Man musste die Prämissen internationaler Politik neu denken.