Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen

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Alle, auch die Kriegsgefangenen, hatten Oma aufmerksam angeschaut. Verstanden hatten die Kriegsgefangenen unter Garantie nichts, höchstens ein paar Fetzen. Plötzlich setzte Oma noch einmal an: „Was ich Ihnen Kriegsgefangenen noch sagen wollte: Sind Sie nicht allzu traurig, dass Sie von zu Hause weg mussten. Sie sollen doch hier nur eine Zeit lang arbeiten, bis der Krieg gewonnen …, ich meine bis der Krieg beendet ist. Dann können Sie wieder nach Hause zu Ihren Familien und in Ihre Heimat. Prost.“
Da niemand gleich reagierte, rief sie noch einmal: „Allerseits zum Wohl.“
Opa, Friedel, Mama und all die anderen riefen ebenfalls überlaut: „Prost, Prost.“
Ich schaute auf Johann. Er hob sein winziges Glas hoch und sagte leise „Prost“, Marcel sagte wie üblich nichts, auch Natascha blieb ruhig, nur Nikolai rief: „Na starowje.“
„So, nun erhalten unsere zusätzlichen Leute die Zuweisung für ihre Betten, bzw. wo sie schlafen. Gretel, Friedel und Erika, ihr drei begleitet jetzt die Neuen auf ihre Zimmer und bereitet alles mit Betten, Liegen und Decken entsprechend vor. Wo ist denn überhaupt die Tante Marie, die könnte doch schön mithelfen?“
„Mutti, du weißt doch, dass sie mit Grippe im Bett liegt. Das mit den Zimmern, Betten und Liegen ist leicht gesagt von dir, aber wie soll denn die Zuordnung sein? Außerdem scheinen unsere Zimmer nicht zu langen. Decken und Betten fehlen auch. Nikolai und Natascha können auf keinen Fall in einem Zimmer schlafen“, entgegnete meine Mama.
„Naja, das weiß ich selbst, dass wir die beiden trennen müssen. Johann und Marcel bekommen das Zimmer im ersten Stock am Gangende zum Eingangstor, dort sind sogar zwei Betten drin. Nikolai kann in dem Zimmer im ersten Stock neben der Toilette schlafen. Da müssen wir aber noch eine Liege und Decken besorgen. Für Natascha“, murmelte sie, „da müssen wir uns noch etwas einfallen lassen.“
Sie erhielt eine Zuweisung in eine Besenkammer, welche von den drei Frauen ausgeräumt werden sollte. Außerdem sollte noch eine Liege von der Stube hochgeschafft werden. „Na endlich, so geht es doch“, triumphierte Oma.
Da sagte Johann plötzlich leise, aber bestimmt: „Waschen, sauber sein, langer Tag.“
„Ich zeige es dir, Johann, komm mal mit“, schaltete sich meine Mutter ein. Sie gab Johann in der Küche einen Waschzuber und zeigte auf einen großen Bottich mit warmem Wasser, welcher auf dem Kachelofen stand. Johann musste nur auf die Ofenbank treten, um die Höhe des Waschbottichs zu erreichen. Er füllte das gut temperierte Wasser ein in den Zuber und schleppte ihn gemeinsam mit Marcel in den Kuhstall, der nur durch eine Tür von der Küche getrennt war. Mama flitzte davon, kam mit zwei großen Badetüchern zurück, die sie nebst Seife und Bürste den beiden in den Kuhstall nachbrachte.
„Aber Johann, ihr sollt Euch doch in der Küche waschen. Das machen wir doch immer so und da ist es viel wärmer und sauberer für euch.“
Nun schien alles für nächtliche Ruhe erbracht worden zu sein. Lothar und ich kamen nun an die Reihe. Es war das übliche Gezerre zwischen uns, wer zuerst an die Waschschüssel heran durfte. Nach all den vielen neuen Eindrücken mit den vier neuen Arbeitskräften waren wir aber versöhnlich gestimmt und langten parallel in die Schüssel, wenn wir uns auch teilweise behinderten und vollspritzten. Lothar wollte sich nie die Zähne richtig putzen, was mir überhaupt nicht in den Kopf ging. Ich rumpelte gern und lange mit der Zahnbürste auf meinen restlichen Milchzähnen herum und erhielt prompt auch jedes Mal von Tante Friedel und Mama ein Lob. Nun war bald Ruhe. Friedel und Mama schafften Lothar und mich ins Bett. Mama musste sich immer zu mir aufs Bett setzen und mir eine Geschichte erzählen. Da sie aber oft nicht wusste, was sie erzählen sollte, berichtete sie davon, was sie in der Gemeinde getan hatte und wie alles denn so lief. Ich fragte immer so lange, bis ich einschlief.
Aktuell und aufregend für mich war natürlich, dass wir die vier neuen Leute, die Kriegsgefangenen bei uns hatten. Also fragte ich neugierig: „Mutti, wieso kommen denn die vier neuen Leute hierher? Haben die sich bei uns beworben? Die kommen ja von so weit her, woher kommen sie denn eigentlich?“
„Ach du, kleiner Klausmann, du hast ja wieder hundert Fragen. Also, beworben haben sich die vier auf gar keinen Fall. Das Gegenteil ist der Fall, sie wurden gezwungen, hierher zu kommen und für uns zu arbeiten.“
„Das glaube ich nicht Mama, dem Johann gefällt es doch so gut bei uns und er ist immer so freundlich zu mir.“
„Wenn du alles wüsstest, mein kleiner Junge“, sagte sie ahnungsschwer.
„Warum seufzt du denn so, Mama? Außerdem, ich bin schon ein großer Junge, kann gut Zähne putzen und neben Johann sitzen.“
„Ja, ja, sicher, nun erzähle ich dir einmal, wie es dazu kam. Danach musst du aber gleich schlafen, es ist schon sehr spät. Bei uns in der Gemeinde gehen immer Schreiben vom Kreisamt Freiberg ein, wo Festlegungen drin stehen, was die Bauern anzupflanzen haben, wie viel sie an den Staat abgeben müssen und so weiter und so fort. Vor kurzem kam ein Schreiben von der NSDAP. Darin stand …“
„Mama was ist denn DP?“
„Klausmann, jetzt hörst du einmal durchgängig zu und fragst nicht immer dazwischen. Sonst kommen wir überhaupt nicht weiter. Die NSDAP ist die führende Partei in Deutschland, die alles festlegt und regelt – sie heißt Nationalsozialistische Partei Deutschlands. Diese hat festgelegt, dass Arbeiter aus den von Deutschland besetzten Ländern zu uns kommen, um das Land in dieser schweren Zeit des Krieges zu unterstützen.“
„Aber Mama, wenn die Arbeiter aus diesen Ländern wegmüssen, dann können sie doch dort nicht Felder bebauen, Getreide ernten und Tiere züchten. Da haben ja dann die Kinder in diesen Ländern da nichts zu essen.“
„Ja, du hast nicht ganz unrecht, aber es ist eben so, dass die Partei dies für Deutschland festlegt und das, was sie festlegt, ist gut für die Menschheit und dient uns allen. Unsere BdM-Leiterin erläuterte uns das immer und immer wieder, dass es um die Zukunft und die Sicherheit Deutschlands geht.“
„Mama, wie war denn das nun mit dem Herbringen der Arbeiter? Mussten sie hierher laufen?“
„Nein, sie kamen alle mit dem Zug. Wir bekommen in der Gemeinde immer Schreiben, welche Züge mit welchen Arbeitern und aus welchen Ländern bei uns eintreffen. Für Arbeitskräfte müssen sich die Bauern oder Betriebe bewerben. Dies wird dann von uns eingeschickt, geprüft und eventuell bestätigt. Bei uns tut das der Ortsgruppenleiter in Verbindung mit dem Bürgermeister. Für unser Gut hatte ich mich um drei Arbeitskräfte beworben. Vorgestern kam zehn Uhr auf dem Hauptbahnhof in Freiberg ein Zug aus dem Westen an, eine halbe Stunde später kam ein Zug aus dem Osten. Aus dem ersten wählte ich Johann und Marcel aus und aus dem zweiten Natascha und Nikolai.“
„Wieso hast du denn gewusst, dass es für uns die richtigen Leute sind?“
„Jeder Zug hat mehrere Begleiter und die habe ich gefragt, wer Erfahrung in der Landwirtschaft hat. Danach hat Natascha in der Tierzucht gearbeitet, Nikolai auf dem Feld, Johann und Marcel waren auf großen Bauerngütern, wir würden Rittergüter sagen, tätig, das heißt sie können alles.“
„Aber wer hat sie denn in den Ländern ausgewählt, Mama?“
„Klausmann, das ist aber jetzt die letzte Frage, dann schläfst du. Unsere Soldaten in den besetzten Ländern haben diese Arbeiter ausgewählt, zum Zug gebracht und nun sind sie hier. Genügt das, kleiner Mann?“
„Ja, aber die sind doch nicht freiwillig mitgegangen – der Johann wollte doch sicherlich bei seiner Mama bleiben, dort, wo er geboren ist. Ich verstehe das alles nicht so richtig. Am Ende muss der Schinderhannes noch nach Frankreich, um dort zu arbeiten oder jemand anders muss das tun. Kann das passieren Mutti? Ich kapiere das nicht, wenn ich mich auch freue, dass Johann bei uns ist.“
„Klaus, jetzt ist endgültig Schluss, höre mit der ewigen Fragerei auf und schlafe süß.“ Sie küsste mich auf die Stirn, deckte mich zu und ich musste nun sehen, wie ich mit diesem Sack von Fragen zurechtkam.
Mitten in der Nacht erschrak ich zu Tode. Auf dem Gang hörte ich, wie jemand barfuß in äußerster Angst an das Gangende rannte und immer schrie. Das Schreien war für mich unverständlich – es klang so hart und fremdartig, mit schriller Stimme. Ich hatte große Furcht und rief Mama, welche sofort senkrecht im Bett saß und mit Bestürzung in der Stimme sagte: „Pst, Pst, das ist etwas Gefährliches.“ Dann ging sie aber doch hinaus – ich hinter ihr her, indem ich mich hinten an ihr Nachthemd klammerte. Sie versuchte mich mit der Bemerkung abzuschütteln: „Klaus, geh sofort ins Bett, das ist alles viel zu gefährlich für dich.“ Auf dem Gang war es stockdunkel. Mama versuchte eine Taschenlampe anzuschalten. Ihr Licht war aber zu duster, als dass man etwas erkennen konnte. Da rief Opa: „Mach doch mal Licht, Gretel, bei dir ist doch der Schalter, gleich nach dem Fenster hinten.“
Mama schaltete und es wurde einigermaßen hell. In einer Art Nachthemd, es sah eher aus wie ein dickes Kleid, stand Natascha da, schrie laut und zitterte am ganzen Körper. Mutti versuchte sie zu beruhigen – es gelang nicht. Dann gingen die Frauen, Tante Friedel und Tante Erika waren inzwischen auch da, in das Zimmer von Natascha, das heißt den Besenschrank. Dort schrie Natascha immer: „Tam, Tam, Tam.“ Sie war ganz weiß im Gesicht und hörte nicht auf zu brüllen. Meine Mutti nahm Nataschas linke Hand, Friedel nahm ihre rechte Hand, drückten, jeder von seiner Seite, ihren Kopf an Nataschas Kopf und sprachen mit Engelszungen: „Mädchen, sei ruhig – wir sind hier bei dir – ganz ruhig, ruhig. Wir helfen dir doch. Was ist denn passiert, warum schaust du denn immer auf die eine Stelle?“
Friedel nahm ihren Zeigefinger und wies in die Richtung, wo Natascha hingezeigt hatte. Sie ging mit ihrem Zeigefinger immer näher zur Wand. Wenn es irgendwie nach Ansicht Nataschas falsch war, rief sie: „Njet, Njet.“ War es die richtige Richtung, rief sie: „Da, Da, Da.“ Das Spielchen ging so eine ganze Weile, bis Tante Friedels Finger an die Schnittstelle zwischen Fußboden und senkrechter Wand an eine bestimmte Stelle kam. Da wurde Natascha ganz wild und schlug beide Hände vors Gesicht. Mutti und Tante Friedel beratschlagten: „Was kann denn das nur sein, Gretel? Was denkst denn du?“ Ich hing immer noch an Muttis Nachthemd in Höhe ihres Popses, wobei ich mich nur noch mit der rechten Hand festhielt. An der Stelle, die Tante Friedel zeigte, sah ich eine kleine dunkle Stelle: „Seht ihr da nicht das kleine schwarze Loch?“ Sie wisperten miteinander eine ziemlich lange Zeit und verkündeten dann vollkommen aufgelöst und erregt: „Das ist doch nur ein Mauseloch, so schlimm ist das gar nicht, Natascha. Du kannst beruhigt wieder ins Bett gehen.“
Die blutjunge Russin wurde auch tatsächlich ruhiger. Sie streichelten sie ständig, ihr Zittern am ganzen Körper hatte fast aufgehört. Ich dachte schon, nun wäre alles überstanden. Übrigens, ich fror ganz jämmerlich. Also wollte ich die Sache beschleunigen und sagte: „Legt doch Natascha einfach wieder ins Bett, damit endlich Ruhe wird. Ich will wieder schlafen gehen.“
„Ach, der Junge ist ja auch noch hier. Klaus geh sofort ins Bett, es ist viel zu kalt und zu aufregend.“ Ich ging hinaus, schlunzte aber durch einen Türspalt noch hinein. Die beiden versuchten, Natascha ins Bett zu bringen. Da passierte etwas Furchtbares – Natascha fing wieder an, am ganzen Körper zu zittern, schrie noch mehr als vorher und rannte barfuß an das andere Ende von dem unheimlich langen Flur. Mama sagte: „Uns bleibt hier nichts weiter übrig – Natascha kommt mit zu Klaus und mir ins Zimmer, sonst ist die Nacht rum. Das junge Mädchen hat eine derartige Furcht, wir müssen dem einfach Rechnung tragen.“
Da sahen die beiden, was das erneute Chaos verursacht hatte. Eine Maus raste in der Besenkammer hin und her und da Opa in der Nähe des Mauseloches stand, war ihr der Rückzug versperrt. Sie jagte auf den Gang hinaus und verschreckte die arme Tascha vollends. Opa rannte in dem dusteren Licht mit einem langen Besen in der Hand hinter ihr her und wollte sie erschlagen. Jetzt wurde Tante Friedel energisch: „Jetzt ist Schluss! Opa, du hörst mit der Jagd nach der kleinen Maus sofort auf! Wir müssen jetzt zur Ruhe kommen!“ So wurde es dann auch. Opa schleppte den Strohsack in unser Zimmer, Friedel brachte Laken und Kopfkissen und Mutti die zwei Decken. So langsam aber sicher trat Ruhe ein.
An dieser Stelle drängt es mich, einen zeitlichen Vorgriff vorzunehmen. Als das Erntefest nahte, kam auf uns alle ein absolutes Chaos zu. Das Haus wurde auf den Kopf gestellt und der Hausputz blühte. Unter anderem wurden die Strohsäcke auf den Hof geschleppt, sie sollten eine neue Füllung bekommen. Also wurde das alte Stroh herausgeschüttet – bei Nataschas Strohsack kam, außer dem alten Stroh, ein Nest mit kleinen, nackten Mäusen zum Vorschein. Lothar und ich erschraken unheimlich. Nachdem wir aber den ersten Schreck überstanden hatten, sahen wir genauer hin. Die kleinen Mäuschen waren unheimlich niedlich und taten uns sehr leid. Da wir ahnten, was mit den kleinen Mäuschen geschehen würde (Opa schrie zum Beispiel derb: „Holt mal den Kater Moritz her, hier sind kleine Mäuse.“), verzogen wir uns rasch. Natürlich wurde Natascha von diesem Vorkommnis nicht informiert. Was wäre wohl geschehen, wenn sie es erfahren hätte? Ich könnte mir fast vorstellen, dass sie es aufgeregt ablehnen würde, jemals wieder auf einem Strohsack zu nächtigen.
Am nächsten Morgen wurde ich spät munter, schließlich war es auch eine aufregende Nacht gewesen. Ich schaute mich in unserem Zimmer um. Nataschas Decken waren zurückgeschlagen und Muttis Federbett ebenfalls – natürlich war keiner mehr da. Neugierig, wie ich nun mal bin, stürmte ich vom ersten Stock runter in die Küche. Nur Oma war noch da. „Der Lothar kommt auch gleich, Klaus, wasche dich und putze dir die Zähne.“
„Oma, mich interessiert vor allem – wo ist denn die Natascha?“
„Die ist im Kuhstall und mistet aus.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte ich nebenan in den Kuhstall, sofort erkannte ich sie. „Natascha, wie geht es dir? Bist du noch ängstlich und aufgeregt?“ Als sie mich sah, strahlte sie: „Dobroje utro, Klauuuss.“
Strahlend sah ich mir Natascha näher an. Sie trug ein rotes Kopftuch, welches sie unten am Kinn mit zwei Knoten gebunden hatte. Ihr Blick war jetzt freundlich, fast strahlend, ganz im Gegensatz zu gestern Abend. An dem unteren Teil ihrer linken Wange war ein Grübchen angesiedelt. Ihre rehbraunen Augen blickten sanft. Sie hatte leicht hervorstehende Wangenknochen und ganz rote Wangen – ich fand sie äußerst hübsch, jung und frisch dazu. Gestern hatte ich erfahren, dass Natascha gerade 18 Jahre alt geworden sei.
Plötzlich rief Oma mit ihrer Donnerstimme: „Klaus komm her zum Essen, der Lothar ist auch schon da und außerdem hast du dich noch nicht gewaschen und nicht die Zähne geputzt, so geht das nicht. Du musst besser folgen!“ Leicht verschreckt winkte ich schnell Natascha zu und machte mich schnurstracks auf den Weg in die Küche.
„Lothar, nach dem Essen gehen wir schnell zu Natascha, die ist prima. Vielleicht können wir ihr helfen bei der Arbeit.“
„Eigentlich wollten wir doch mit Tell spielen und ihn als Zugpferd für unseren Handwagen einspannen.“
„Das können wir doch immer noch tun, erst gehen wir mal zu Natascha und da fällt mir ein, wir sollten vielleicht auch mal schauen, was Johann, Marcel und Nikolai so anstellen.“
„Na einverstanden, so machen wir das.“
Nach dem Frühstück gingen wir sofort in den Kuhstall zu Natascha. Sie arbeitete immer noch fleißig und lud die Hinterlassenschaften der Kühe auf einen kleinen Transportwagen. War dieser voll, musste sie ihn hinausfahren. Dies war aber nicht so einfach, sie musste um den Misthaufen herumfahren, dann ging es einen Weg mit Anstieg hoch, damit sie es von oben abkippen konnte. Als sie wieder zurückkam, keuchte sie mächtig, war feuerrot im Gesicht und hatte Schweißtropfen auf der Stirn. Mir tat sie ganz einfach leid, Lothar schaute auch sehr mitfühlend. Ich holte mein Stofftaschentuch aus der Tasche und stupste damit Natascha auf die Stirn. Sie ging aber sofort mit dem Kopf zurück und winkte ab. Lothar zischelte mir zu: „Du Dummkopf, dein Taschentuch ist genauso schmutzig wie meines, wenn das die Mutti hört oder sieht, ist der Teufel los. Wir blamieren uns doch, Klaus, pass doch mehr auf!“
Auch wenn es Lothar nicht passte, ich wollte bei Natascha bleiben. Ihr schien es allerdings nicht ganz recht zu sein, sie war eifrig beim Arbeiten und sagte, leicht aufgeregt: „Ja chotschu rabotatch (ich will arbeiten)!“ Ich verstand zwar ihre Worte nicht, aber dass sie weiter schuften wollte, dies wurde mir schon klar. Sie rief uns noch zu: „Smotrie na Nikolai, Johann und Marcel (schaue zu Nikolai, Johann und Marcel)!“, und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Getreideboden, gleich neben der Tenne.
Also gingen wir, ich zumindest leicht widerwillig, zu dem dritten Gebäude unseres Bauerngutes, wo in der ersten Etage das Getreide lagerte, welches über die Tenne angeliefert wurde. Bereits am Beginn der Tenne angekommen, hörten wir einen Riesenspektakel. Opa hatte mir das ganze schon einmal erklärt – das Getreide wurde mit Dreschflegeln gedroschen. Diese bestanden im Wesentlichen aus zwei zylindrischen Holzkloben, welche gelenkig miteinander verbunden waren. Der untere Holzzylinder wurde mit Gewalt auf das Getreide geschlagen, so, dass das Stroh und die Körner getrennt wurden. Nikolai und Marcel hämmerten wie wild mit den Dreschflegeln. Sie sahen beide knallrot aus, von ihrem Gesicht tropfte der Schweiß sichtbar herab – es war ja auch ein mächtiger Drill. Hannes, der Schinder, trennte Stroh und Körner und schaffte immer wieder neues Getreide heran. Nicolai und Marcel taten mir richtig leid, Lothar hatte ähnliche Gefühle.
„Wollt ihr etwas zu trinken?“, rief ich den dreien zu. Hannes und Marcel hörten sofort auf mit arbeiten, während Nikolai weiter schuftete. Ich ging hin und schubste ihn an der linken Schulter an – er hörte auf und schaute mich fragend an. Wir wiederholten unsere Frage erneut, aber Nikolai verstand nichts. Was tun?
Ich hielt den Kopf etwas hoch, machte den Mund auf und tat, als wenn ich eine Flasche schräg in der Luft halten würde. Nikolai nickte erfreut mit dem Kopf: „Da, Da, Da.“ Auch Marcel und Hannes nickten bestätigend mit dem Kopf. Also gingen wir ins Haus und suchten Oma. Sie war aber nicht da – dafür fanden wir Friedel im Kuhstall, welche Natascha half.
„Tante Friedel, bitte hilf uns, Marcel, Nicolaj und Hannes sind fix und fertig. Die sehen feuerrot aus und der Schweiß fließt nur so. Wir müssen unbedingt etwas zu trinken bringen.“
„Nun übertreibt mal nicht so. Schaut euch mal Natascha und mich an – wir sind auch schon ganz malade.“
„Ja, aber die drei dreschen in der Scheune, das ist eine übelst schwere Schinderei.“
„Kommt mal mit, ihr Quälgeister. Hier ist noch die Kanne mit Malzkaffee, hier haben wir einen Topf mit Milch, da sind drei Tassen und nun ab mit euch. Ihr habt jetzt genug gestört.“
Lothar trug die Kanne Kaffee, ich den Topf, am kleinen Finger baumelten die leeren Tassen. Wir rückten stolz mit unserer Ware an, erschraken aber zutiefst, als wir dort angekommen waren. Was war denn hier los? Marcel lag mitten im Getreide auf dem Fußboden. Nikolai kniete neben ihm und hielt seinen Kopf mit beiden Händen. Auf der Stirn war eine Verletzung zu sehen – Blut rann von der Stirn nach unten. Auweia, Lothar und ich waren vollkommen entgeistert. Hannes schaute noch bedepperter als sonst drein. Wir stellten Kanne und Topf hin und wollten zu trinken geben. Hannes schenkte sich Kaffee ein und trank, aber Nikolai sagte, als er sah, was wir mitgebracht hatten: „Njet,ja chotschu pitch wodu.“
Keiner wusste, was er meinte. Da meldete sich der verletzte Marcel: „Wasser, Wasser.“ Wir flitzten aufgeregt zurück in die Küche. Oma war inzwischen wieder da. Wir erzählten, was sich da in der Scheune abgespielt hatte. „Ich schicke euch sofort die Friedel mit, Kinder, das ist ja eine schlimme Sache.“
Friedel hielt eine Karaffe unter den Wasserhahn, dann marschierten wir drei im Eilschritt los. „Ei Gott“, entwischte es Friedel, als sie Marcel blutend auf der Erde sah. „Nikolai, erzähle! Was war denn hier los?“ Nicolai hob nur entnervt die Hände und schaute sie unglücklich an. „Ach ja, du armer Kerl kannst ja kein Deutsch.“
Plötzlich fing Hannes an zu erzählen: „Lothar und Klaus wollten etwas zu trinken holen. Das war für die beiden gleich Anlass, eine Pause einzulegen. Wir müssen aber mit Hochdruck arbeiten, damit die Hälfte des Getreides heute noch fertig gedroschen wird. Also nahm ich Marcel den Dreschflegel weg, holte aus und da er hinter mir stand, traf ich ihn am Kopf. Es tut mir leid, dass mir das passiert ist.“
„Hannes, du Döskopf, das hat noch ein Nachspiel. Immer machst du solchen Quatsch und es entsteht Schaden. Marcel, kannst du aufstehen?“ Als er fragend und gequält aufsah, wiederholte Friedel: „Aufstehen, hoch, geht das?“ Dazu zeigte sie noch mit beiden Händen von unten nach oben, als sie das Wort hoch aussprach, damit er es verstehen konnte. Kurz und knapp antwortete Marcel: „Oui.“
„Nicolaj und Hannes, ihr führt Marcel, jeder auf einer Seite und stützt ihn, in das Wohnhaus. Wir müssen die Wunde desinfizieren und verbinden.“ Marcel stand vorsichtig, mit Unterstützung von Nicolaj, auf – dabei stöhnte er. „Ist dir schwindlig?“, fragte Friedel, „ich meine, dreht es dir, Marcel?“ Dabei machte sie mit der rechten Hand eine drehende Bewegung.
Marcel begriff: „Non, Non.“
„Gott sei Dank.“ Marcel war sehr schlank und hatte eine stattliche Größe. Seine blonden Haare waren durch den Unfall zerzaust und seine stahlblauen Augen schauten ernst und traurig in die Welt. Oma und Opa erwarteten schon unsere Prozession. „Opa war schon bei unseren Nachbarn und zwar bei Peunerts. Tochter Erika, die als Krankenschwester in Freiberg arbeitet, kommt gleich.“ Fünf Minuten später kam Erika, schaute sich alles gründlich an, desinfizierte, legte Zellstoff auf und dann erhielt Marcel einen ziemlich großen Verband um den Kopf. Dann bekam er noch einen Tee und wurde in sein Bett geschickt. Nicolaj und Friedel begleiteten den Verletzten.
Opa wartete ungeduldig, bis das Ende der medizinischen Behandlung erfolgt war und nahm sich nun, in großer Erregung und Empörung (man sah es deutlich an seinem vor Wut verzerrtem Gesicht) den Schinderhannes vor. „Hannes, du bist ein Tollpatsch und machst so viel falsch, so viel Scheiße. Wenn das so weitergeht, werfe ich dich raus. Was mich am meisten aufregt ist, dass du immer der Größte, Stärkste, Schnellste und der Fleißigste sein willst, dazu noch einen großen Mund hast und anderen ständig übers Maul fährst!“ Während Opa sprach, war er aufgeregt hin- und hergelaufen und hatte mit seiner Fleischermeister-Donnerstimme dermaßen geschrien, dass meine Mama, die gerade ins Haus trat, aufgeregt und ängstlich guckte: „Opa, bitte, nicht schon wieder, sei still!“
Irgendwie beruhigte sich das Ganze doch einigermaßen. Auf alle Fälle war die Großspurigkeit, zumindest in diesem Moment, von Hannes abgefallen – er wirkte sehr niedergeschlagen.
Nun wollten Lothar und ich natürlich unbedingt zu Johann schauen. Wir wussten, dass er pflügte und zwar hinten auf dem großen Grundstück am Wald vor der Leipziger Straße. Also liefen wir zwei hin und schwatzten natürlich dabei und schwatzten und schwatzten – am meisten redeten wir über unser geplantes Ziegengespann. Vor allem Lothar drängte darauf, dass wir endlich eine Fuhre mit der Ziege machen. Ständig lag er mir in den Ohren: „Klaus, ich mach das nicht mehr lange mit. Wir reden schon so lange davon, dass wir mit der Ziege einmal mit unserem Handwagen fahren wollen – nie wird etwas daraus. Du bist schuld daran, weil du keine rechte Lust hast.“
Wir wussten aber nicht genau, wie wir die Ziegen am Handwagen befestigen sollten. Lothar hatte den Vorschlag, dass wir es mit einem Strick versuchen sollten und ich hatte dazu meine Bedenken, da ich daran dachte, wie die Pferde, mit dem Geschirr versehen, die Wagen zogen. Also stritten wir, diskutierten wie wild, doch ohne Ergebnis. Lothar war vor Eifer ganz rot im Gesicht.
Da sahen wir von Ferne schon das Gespann von Johann. Wir schrien und riefen laut mit unseren hohen Fistelstimmen: „Johann – wir kommen.“ Dieser hörte uns nicht, da er schon wieder, wir hatten es schon von Ferne gesehen, Probleme mit unserem Ochsen hatte. Dieser blieb einfach stur stehen und zickte, mit sich und der Welt offensichtlich unzufrieden. Johann tat sein Möglichstes – er sprach mit ruhiger Stimme auf den Ochsen ein und schwang die Peitsche vor seinen Augen und knallte neben seinem dicken Hintern. Er praktizierte das Ganze viel verständnisvoller als Hannes, der mit einem riesengroßen Knüppel auf unsere Kuh Elsa eingedroschen hatte.