Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen

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Begeistert rufend rannten wir zu Johann. Ich schlang beide Arme um seine Hüfte, auch Lothar schaute begeistert in sein Gesicht. „Bonjour, Guten Tag, Kinder.“
„Wie geht es denn mit dem Pflügen?“
„Ochse will nicht, faul, ich muss geben Futter, Wasser.“
„Sollen wir es für dich holen, Johann?“
„Oui.“
„Johann, wir holen für dich Heu und Wasser.“
„Non, in Stall ist Kübel, Möhren und Wasser.“
„Ja, das tun wir für dich“, schrien wir begeistert.
„Non, vor mir – vor Tier.“
Nun hatten wir zwei eine Aufgabe. Wir stolperten vor Eifer über das Feld. Wir liefen im Eiltempo und als ich vorschlug zu rennen, antwortete Lothar sofort, nicht mit einer Diskussion, sondern mit einer praktischen Tat. Er flitzte nämlich plötzlich davon, ich kam kaum hinterher. Nach vielleicht fünfzig Metern hatten wir unsere Körner bereits verschossen und gingen in den gemütlichen Trab über. Dabei keuchten wir noch immer wegen der ungewohnten Hundert-Meter-Sprinterei. Durch den Hausflur stürmten wir in die Küche, es war aber niemand da. Also – nebenan in den Kuhstall. Tatsächlich, hier stand ein Holzbottich mit Henkel, indem verschiedenes Gemüse lag – Möhren, Sellerie, grüner Salat, Kohlrabi und anderes mehr. Begeistert quietschten wir: „Lothar, das meinte der Johann.“
„Klaus, hier sind die Möhren.“
Wir versuchten, ihn gemeinsam anzuheben. Mit äußerster Anstrengung konnten wir den Kübel geradeso hochheben. „Lothar, wir müssen den Handwagen nehmen. Der Kübel ist ja wie am Boden festgewachsen, viel zu schwer.“
Wir holten den Handwagen aus der Scheune und fuhren damit gleich vom Hof durch das Kuhstalltor hinein. Da wir den Kübel höchstens dreißig Zentimeter hoch brachten, machten wir die hintere Querstrebe des Wagens auf einer Seite los und konnten sie damit zur Seite drehen. Nun war der Kübel dran – es war eine große Schinderei, aber wir schafften es, dass er nun endlich auf dem Wagen stand. Wir drehten die hintere Querstrebe wieder zurück und befestigten sie an dem rechten Holm des Wagens. Nun schoben wir den Handwagen rückwärts aus dem Kuhstall. Das war schon verdammt schwer, da hier unregelmäßige Natursteinplatten verlegt waren. Es war ein holpriges Fahren, aber nun waren wir auf dem Hof und konnten den Wagen um 180° drehen. Jeder erfasste einen Griff der Deichsel und wir zogen den Wagen über den Hof. Auch das war ziemlich anstrengend, da dieser mit grobem Pflaster versehen war, teilweise fest gestampfte Erde – es war mühselig. Wir berieten: „Wie sollen wir denn den Weg hoch zum Feld und dann auf dem Weg die vielleicht Tausend Meter bis hin zu Johann schaffen?“
„Lothar, ich hab’s. Wir müssen Paul, die weiße Edelziege, einspannen.“
„Du hast Recht – guter Gedanke. Das rettet uns.“
Verwundert schaute uns die Ziege an, als wir in ihren Stall kamen: „Määhhh, Määhhh.“ Aber wie befestigen wir nun den Paul? „Sieh doch mal hier, hier hängt doch das, ich weiß nicht, wie es heißt, was den Tieren um den Hals gehängt wird.“
„Ja, richtig und siehst du da – dort sind Riemen. Die müssen wir rechts und links am Handwagen befestigen und dann müssen die Paul um den Hals gehängt werden, damit dieser ziehen kann.“ Wir fanden einen Ring aus Leder, an dem wir die Riemen befestigten konnten. Der Ring wurde Paul um den Hals gehängt. Auf alle Fälle schafften wir es, dass die Ziege am Wagen befestigt war und zwar links von der Deichsel. „Lothar, die haben doch immer noch, ja, jetzt weiß ich es – einen Zügel, der vorne bis zum Kopf des Pferdes geht, na, hier neben der Ziege. Diesen nimmt der Fahrer in die Hand und führt damit das Pferd. Am vorderen Teil ist so ein Stahlteil, welches in das Maul kommt.“
„Klaus, das Ding, also den Zügel, brauchen wir nicht. Ich lege vorn meine Hand auf das Genick beziehungsweise den Hals von Paul und schiebe ihn, das wird schon gehen.“
„Naja, mag ja so gehen, Lothar, wir müssen aber Paul noch an der Deichsel befestigen.“ Wir fanden zwei lange Riemen, welche wir um Paul und um die Deichsel wanden und dann an den Schnallen befestigten. Alles war jetzt festgezurrt. Wir fuhren los – die ganze Chose ging mehr schlecht als recht.
„Klaus, wir haben doch das Wasser vergessen.“
„Verdammt, das ist vielleicht belastend.“
Wir holten aus dem Kuhstall einen vollen Eimer mit Wasser, den wir wieder gemeinsam tragen mussten. Auch dieser war wieder sehr schwer – wir keuchten. Das Ganze war schon eine ziemliche Plackerei, die wir uns nicht so vorgestellt hatten. Aber was soll’s. „Paul, zieh.“ Wir gaben Paul einen Klaps auf sein linkes Hinterteil und tatsächlich, Paul zog den Wagen. Lothar war vorne bei Paul und ich schob an dem hinteren Querholm. So kamen wir mühselig vom Hof auf den ziemlich steilen Anstieg, welcher vom Hof bis auf den oberen Weg führte. Aber, was war denn das? Paul wollte nicht mehr. Er blieb einfach stehen. Wir redeten auf ihn ein, gaben ihm mehrere Klapse auf sein Hinterviertel, drückten am Hals, gaben ihm eine Möhre – nichts, er bewegte sich nicht mehr. Paul zickte.
Erschöpft setzten wir uns auf einen Stapel Rundholz, welcher sich gleich neben dem Misthaufen befand. Beide hatten wir den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen ruhten auf den Knien. Wir waren verzweifelt. „Vielleicht sollten wir ihm Wasser geben“, schlug Lothar vor. Gesagt, getan. Wir holten einen Becher und hielten ihn Paul vor das Maul. Erstaunt sahen wir, dass er trank. Wir freuten uns, gaben ihm die Möhren von vorhin noch einmal und siehe da – er fraß sie auf. „Los, Klaus, jetzt geht’s weiter.“ Tatsächlich lief Paul, zwar langsam, aber er lief wieder weiter. Wir wurden übermütig, bestürmten die Ziege mit lauten Rufen, noch schneller zu laufen, jubelten, gaben Klapse auf den Po und zerrten an Paul herum. Wir wollten, dass er Galopp läuft. Tatsächlich wurde er auch schneller. Wir schafften den Anstieg und wollten auf den Weg einschwenken. Wie solche Wege halt so sind – rechts und links tiefe Fahrspuren, in der Mitte eine meist sehr hohe Grasnarbe und neben dem Weg ebenfalls hohe Aufwerfungen. Wir versuchten, auf diesen Weg einzuschwenken und brüllten, wie vorhin beschrieben, auf Paul ein.
Plötzlich drehte sich das linke Vorderrad von der Grasnarbe auf die Fahrspur stark nach rechts – die Ziege zog ebenfalls in diese Richtung und unser Gefährt kippte nach links um. Das Schlimmste war, dass Paul von dem Wagen und der Deichsel nach unten gerissen wurde und mit seinem Körper auf die Deichsel krachte, welche zerbrach. Mit einem Wort: Die Ziege, welche an der Deichsel festgebunden war, wurde zu Boden gerissen und lag strampelnd und meckernd im Dreck. Ihre Augen waren vor Schreck geweidet – sicherlich hatte sie Todesangst. Ihr Spitzbart am Kinn zitterte beträchtlich und das Meckern nahm unheimlich zu. Wir gerieten in panische Angst und knübberten aufgeregt an den zwei Riemen, mit denen Paul an der Deichsel befestigt war. Uns zitterten die Hände vor Aufregung, es gelang uns aber, die Riemen zu lösen. Paul hatte von der Deichsel einen Schlag abbekommen, meckerte aufgeregt und rannte wie wild los. Dabei stolperte er über die Deichsel und stürzte erneut hin, sodass beide Vorderbeine zusammensackten. Wir konnten ihn gerade noch gemeinsam am Hals zurückhalten wegzurennen und richteten das aufgeregte Tier auf.
„Um Himmels willen – kannst du dir vorstellen, Lothar, wenn Paul ein Bein gebrochen hätte. Da hätte Opa die arme Ziegel tot gemacht, so machen die das doch immer, wenn ein Tier verletzt ist.“
Den Wagen wieder aufzurichten, war uns unmöglich. Der Kübel, das Gemüse und der Wassereimer fielen herunter. Da Lothar links vom Wagen lief, ergoss sich das gesamte Wasser auf seine Beine. Es war ein Desaster. Wir waren beide sehr durcheinander und trauten uns nicht zu, die Fahrt fortzusetzen. „Lothar, du musst nach Hause gehen und Hilfe holen.“
„Und wieso ich, schau mal auf meine Beine und Schuhe – alles nass. Jetzt habe ich endgültig die Schnauze voll – so eine Scheiße“, schimpfte er. Ich versuchte, Lothar ein wenig zu beruhigen und ging nun natürlich selbst los, um Hilfe zu holen. Zurück kam ich mit Hannes, der wieder einmal (eigentlich wie immer) schlechte Laune hatte: „Herrjeminee, was macht ihr denn wieder für einen Rotz? Die Ziege einzuspannen – seid ihr denn verrückt? Dazu muss man Ahnung haben und die nötige Ausrüstung. Ihr wisst wohl gar nicht, dass man dazu ein Komet, einen Ortgang und ordentliches Zaumzeug mit Zügeln benötigt?“
Hannes richtete unseren Handwagen auf und lud alles wieder auf – den Kübel mit Gemüse und den leeren Wassereimer. Dann nahm er die Deichsel in die Hand und zog los mit der Bemerkung: „Um den Paul müsst ihr euch selbst kümmern. Passt ja auf, dass er nicht ausreißt. Wenigstens einen Strick um den Hals hättet ihr der Ziege legen können, ihr habt richtiggehend keine Ahnung. Ich werde alles der Frau Straßburger, Herrn Straßburger und euren Müttern sagen. So geht das nicht, ich mach das einfach nicht mehr mit. Was ihr euch einbildet – am liebsten würde ich euch mal richtig verprügeln.“
Tatsächlich hob Hannes die Hand und wollte uns eine knallen. Da Lothar ihm am nächsten stand, hätte es ihn erwischt. Er war aber sehr schnell und drehte sich rasch um und war weg. Obwohl ich ziemliche Angst vor Hannes hatte, maulte ich: „Hannes, wenn du uns etwas tust, dann fliegst du endgültig raus. Das hat der Opa bereits gesagt. Ich sage meiner Mutter, der Oma und dem Opa Bescheid. Du wirst schon sehen – warte nur ab!“
Nun bekam Hannes auf einmal Angst und redete auf mich ein: „So schlimm war das nun auch wieder nicht gemeint. Ihr müsst aber in Zukunft mehr fragen und nicht einfach irgendwas machen, wovon ihr keine Ahnung habt. Am besten, wir sagen ganz einfach, dass es nicht ganz geklappt hat mit der Ziege und beschuldigen uns nicht gegenseitig. So kann euch nichts passieren und mir auch nicht. Einverstanden?“ Aha, dachte ich, da hat er jetzt doch Angst bekommen vor Opa. Gut, dass ich so energisch rangegangen bin. Das muss ich mir für die Zukunft merken.
Also marschierten wir gemeinsam, Lothar war inzwischen wieder zurückgekommen, zu unserem Dreiseitenhof. Die Ziege wurde wieder im Stall angebunden und wir räumten den Leiterwagen weg. Hannes schaffte den Gemüsekübel in den Kuhstall und Lothar schleppte den leeren Wassereimer wieder an seine Ursprungsstelle. Wir waren wieder zu Hause.
Wir merkten schon, als wir auf den Hof einrückten, dass irgendetwas anders als sonst war. Aus dem Haus und vor allen Dingen aus dem Kuhstall drangen laute, aufgeregte und heftige Stimmen. Wir gingen näher heran und sahen, dass Tante Friedel und Tante Erika heftig in Fehde lagen. Sie waren beide sehr aufgeregt und brüllten sich ohne Rücksicht an. Friedel stand, gemeinsam mit Tascha, oben auf dem Heuwagen, welcher halb außerhalb des Tores und halb im Kuhstall stand. Sie hatte eine Mistgabel in der Hand und war glühend rot im Gesicht. Ihr Kopftuch, welches sie trug, war verrutscht und ihre struppigen Haare hingen wirr hervor. Wir hörten nur: „Alles muss ich hier allein machen, Heu aufladen, Heu abladen, Tiere füttern, ausmisten, melken und so weiter und so fort – das ist eine unheimliche Schinderei. Und was tust du? Du hängst ständig in deinem Zimmer rum und kümmerst dich um deine Tochter Elisabeth. Das ist alles. Wir haben hier aber ein Bauerngut und müssen uns alle davon ernähren.“
Erika konterte: „Die Gretel arbeitet aber auch nicht mit auf dem Feld oder im Stall.“
„Die Gretel arbeitet in der Gemeinde, gibt davon Geld an uns alle ab und außerdem haben wir große Vorteile, dass sie in der Gemeinde ist, da wir so über alles Bescheid wissen. Ich meine damit, dass sie uns Wissen vermittelt, was günstig anzubauen ist, wie die Preise für Hähnchen, Eier und so weiter sind – all das ist von Vorteil für uns. Außerdem kümmert sie sich um unsere Kinder. Sie würde das auch für die Elisabeth tun.“ Der Streit ging immer weiter so in diese Richtung, er wurde sogar noch heftiger. Wir gingen zu Oma hinein, die das schon mitbekommen hatte und gerade zu den Streitenden gehen wollte.
„Erika, Friedel – hört sofort mit dem Gebrüll auf. Im Übrigen, du kennst meine Meinung, Erika, du solltest ganz einfach einmal mitarbeiten, so wie es alle tun und wirst sehen, dass es eine ziemlich harte Arbeit ist, es muss aber sein.“
Erika zitterte am ganzen Leibe und schrie zurück: „Ich hab genug mit meiner Familie zu tun. Ich weiß überhaupt nicht, was ihr wollt. Hoffentlich kommt der Heinel bald nach Hause, ich werde mich bei ihm über euch beschweren. Ihr benehmt euch unmöglich zu mir und meinem Kind.“ Sie war über alle Maßen beleidigt und rannte mehr, als das sie ging, davon – in den ersten Stock zu ihrem Zimmer.
Oma ging zu meiner Tante, um sie zu beruhigen: „Friedchen, rege dich nicht so auf, wir wissen doch alle, dass du enorm viel für das Gut tust. Die Erika ist nun mal so. Sie hat zu uns kaum Kontakt, sie ist überhaupt kein Kollektivmensch und macht ihr Ding so für sich allein, etwas verknöchert, immer schnell beleidigt und immer etwas einsam. Die werden wir nicht mehr ändern – ich möchte mal wissen, wie der Heinrich zu ihr gekommen ist. Wahrscheinlich ist es doch so, dass er sie nur geheiratet hat, weil sie schwanger war. So etwas Ähnliches hat ihre Mutter, die Marie, schon angedeutet. Die Marie lässt sich ja auch kaum noch sehen, gestern Abend war sie wieder nicht beim Abendbrot. Wahrscheinlich machen sie sich oben in ihrem Zimmerchen etwas zurecht – sonderbares Benehmen. Man kann sich da nur wundern.“
Tascha schaute mit schreckgeweiteten Augen auf das Krakeele und hatte offensichtlich große Angst. „Ach, kleine Natascha, schau nur nicht so traurig. Wir sind doch alle nett zu dir, bald gibt es Abendbrot, da sehen wir uns wieder in der Stube.“ Sie ging zu Natascha hin, die mit der Gabel in der Hand immer noch auf dem Heuwagen stand und flüsterte freundlich zu ihr: „Komm her, du kleines Mädchen, beuge dich mal herunter zu mir.“
Natascha hatte unter Garantie null verstanden, aber erstaunlicherweise beugte sie sich zu Oma runter, die sie an der Hand tätschelte und die Wange streichelte: „Hab nur keine Angst, Kleine, es ist doch alles gut. Wir haben dich doch auch lieb.“
Ich fand den immer wieder aufkommenden Streit mit Tante Erika nervend und aufregend – er vergiftete unser nettes Miteinander. Innerlich war ich ganz stark auf Friedels und Omas Seite, denn zur Tante Erika hatte ich keinen Kontakt und sie schien darauf auch keinen Wert zu legen. Ich wusste, dass Lothar die gleiche Meinung hatte: „Klaus, die Erika kann mir gestohlen bleiben, die ist einfach gegen mich, zieht immer ein langgezogenes Miesepeter-Gesicht. Da bekommt man richtig Schiss vor ihrer schlechten Laune.“
Nach dem Abendessen sagte Mutti zu Oma: „Du, Mutti, ich habe etwas mit dir zu besprechen. Können wir das gleich hier in der Stube tun? Mir wäre lieb, wenn der Klaus gleich dabei sein könnte, da ich ihm, im Anschluss, noch etwas zu sagen habe.“
Als ich das hörte, war mir sofort klar, dass ich wieder eine Reformande verpasst bekomme. „Mutti, können wir das nicht morgen erledigen?“
„Nein, gleich im Anschluss!“
Unsere Stube bestand aus zwei sehr großen Räumen. In dem einen aßen wir und der andere war mehr als gemütliche Wohnstube mit weichen Lehnsesseln, weichem Sofa und niedrigem Tisch eingerichtet. Von der Essstube ging man durch einen breiten Durchgang in eben diesen Teil. Hier fand die Geheimberatung statt. Ich kannte das schon, weil Mama, wenn sie mal ein ernstes Problem mit mir hatte, und das war relativ häufig, mich immer in die gleiche Ecke mitschleppte, um mit mir zu reden und zwar so, dass es niemand mitbekam.
Nachdem das Abendbrot vorbei und alle hinausgegangen waren, fragte sie: „Denkst du, dass wir es verantworten können, dass der Johann mit dem Wittasch, Erhart in unsere zerbombte Wohnung in Chemnitz fährt, um dort noch Verwertbares zu holen?“
„Was, meinst du den Wittsch – den Mörder? Das meinst du aber nicht im Ernst? Der hat doch einen so schlechten Ruf im Dorf. Am Ende passiert noch irgendetwas.“
„Aber Oma, der Wittasch ist ein ganz passabler Mensch. Das, was man über ihn spricht, glaube ich einfach nicht. Für mich ist er kein Mörder. Die Verhandlungen waren und er wurde freigesprochen – Punkt um!“
„Muss es denn gerade däääär sein – wer weiß, was die Leute über uns dann reden.“
„Oma – es ist weit und breit der einzige, der ein Auto hat. Er hat doch den ‚F7‘ mit der Holzkarosse. Auf alle Fälle hat der einen großen Laderaum und der Mann ist auch durchaus beweglich und intelligent. Für mich ist das größere Problem, dass der Johann als Kriegsgefangener unser Gut nicht verlassen darf. Du musst dir aber mal überlegen – wir haben fast alles verloren. Nachdem, was ich gesehen habe, ist das Bad vollkommen zerstört, die Schlafstube auch, aber aus Vorsaal, Küche und Stube könnten wir noch etwas holen. Der Herbert und ich – wir haben ja fast gar nichts mehr, außer dem, was wir auf dem Leibe tragen. Ich bin einfach der Meinung, wir müssen es riskieren.“
„Meine liebe gute Gretel“, Oma hatte Tränen in den Augen und drückte ihre Große liebevoll, „ich stimme ja zu, auch wenn das Risiko hoch ist und es schwerfällt, zuzustimmen. Auf alle Fälle musst du dem Wittsch …“
„Sag doch nicht immer Wittsch, Oma – das macht mich noch ganz krank.“
„Auf alle Fälle musst du dem, na du weißt schon, eine Vollmacht mitgeben, dass er berechtigt ist, in der Grenadierstraße 6 in Chemnitz im ersten Stock nach verwertbaren Dingen zu suchen und deine eidesstattliche Erklärung, dass du der Wohnungsmieter bist und zur Sicherheit noch, dass du im Gemeindeamt Kleinwaltersdorf arbeitest. Das gibt dem Ganzen noch einen amtlichen Anstrich. Ach – noch etwas fällt mir ein. Du musst dem Wittsch …“
„Oma!“
„… sagen, und dem Johann übrigens auch, dass der Johann nicht reden sondern nur etwas zeigen, darf. Sonst merken die, dass er ein Ausländer und etwas faul ist.“
„Ja, Mutti, so machen wir das. Es ist alles schon sehr kompliziert und schwer – hoffentlich kommt mein Herbertl bald von der Front zurück oder der elendige Krieg ist bald vorbei.“
„Bravo, meine Große, so habe ich dich doch noch nie reden gehört, der Krieg ist eine Schande für unser gesamtes Land.“
„Pst, lass das nur nicht unsere Volksgenossen hören. Ich habe da manchmal richtig Angst bei dir, Oma.“
„Na ja, Gretel, ich bin ja auch nicht im Bund deutscher Mädchen gewesen, wie du. Ich kann ja mal meine Meinung frei und offen sagen.“
„Oma, du wirst dich nie ändern.“
Nachdem dies nun abgearbeitet war, kam ich an die Reihe. Mir war schon ganz schön mulmig zu Mute. Zunächst einmal kam der Vorfall mit der am Leiterwagen eingespannten Ziege und dem kleinen Unfall an die Reihe: „Lothar und du, ihr habt überhaupt kein Recht, eigenmächtig so etwas zu tun. Ihr könnt nicht einfach die Ziege einspannen und damit losgehen. Da braucht es etwas Erfahrung und das richtige Geschirr – das wird euch der Johann schon noch zeigen. Außerdem dürft ihr nicht einfach mit dem Handwagen ins Dorf fahren. Das ist viel zu gefährlich. Also nochmals Klaus, wenn ihr das Gut verlassen wollt, müsst ihr mich oder Oma oder Friedel fragen. Anders geht das ganz einfach nicht. Hast du das nun endlich verstanden und wirst du dich danach richten?“
„Ja, Mama, das werde ich.“ Es war überstanden. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass sie, wenn ich immer gegenhielt, superzornig wurde und ich nur das Gegenteil erreichte.
Am nächsten Tag kam der Wittsch mit seinem F7 in den Hof gerollt. Am Abend zuvor hatte Mutti, nach der Reformande an mich, zusammen mit Oma, ein Sechsaugengespräch mit Johann geführt und dieser hatte zugestimmt, zusammen mit dem „Mörder“ nach Chemnitz zu fahren.
Der Herr Wittasch stieg aus dem Auto aus – er war relativ klein, stark übergewichtig mit ziemlich dickem Bauch, welcher durch ein Sakko eingehüllt wurde. Neugierig schaute ich hin und überlegte mir: „Das Sakko ließe sich niemals über diesem dicken Bauch schließen, der Knopf hätte keine Chance in das Knopfloch zu gelangen.“ Auf seinem fast kahlen Schädel war nur ein Haarkranz sichtbar, seine Schiebermütze war verrutscht und saß auf Pfiff auf einer Seite. Mutti war sofort da und rief: „Sagt bitte sofort dem Johann Bescheid – das Auto ist da.“ Nach kurzer Zeit kam auch Johann und wurde dem Autofahrer vorgestellt. Als Johann die etwas verschobene Figur des Herrn Wittasch mit Gehstock sah, schien es mir, als wenn er schmunzeln würde, sein schwarzes Menjoubärtchen zuckte belustigt. Danach wurden ein großer, offener Pappkarton und drei Holzkisten (die schönen Plastikkästen von heute gab es ja damals noch nicht) in den hinteren Teil des Autos hineingelegt. Mutti übergab Herrn Wittasch noch einen Umschlag mit Schreiben – Johann holte sich schnell noch eine Jacke und ab ging die Post durch unser großes Tor. Wir alle winkten freundlich hinterher, vor allem Tante Friedel gestikulierte sehr begeistert. Mehrfach hatte sie schon zu ihrer Schwester Gretel gesagt: „Ach, weißt du, der Johann ist ein richtig hübscher Mann, der könnte mir sehr gefallen. Ich mag solche dunklen Typen mit schwarzen Haaren, er ist einfach ein schöner Mann.“
„Sicher hast du Recht, Friedchen, ich sehe es genauso – du solltest aber zurückhaltend sein. Dein Herbert wird schon bald wieder hier sein. Nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst. Schließlich ist der Johann uns hier als Gefangener zugeteilt.“
„Aber Gretel, du machst mir richtig Angst, du siehst ganz blass um die Nase aus und außerdem bist du ja so dünn – das ist mir bisher nie aufgefallen.“
„Mach dir keine Sorgen, Friedel, ich bin nur etwas unruhig, weil der Johann mit nach Chemnitz gefahren ist und doch eigentlich unser Gut nicht verlassen darf. Außerdem ist der Wittasch wirklich ein komischer Kerl, hoffentlich passiert da nichts.“
„Komm Gretel, wir gehen ins Haus, setzen uns an den Kamin und schwatzen ein wenig – das ist doch immer gemütlich.“
Am späten Abend kam das Auto von Chemnitz zurück. Johann stieg als Erster aus – wirkte ruhig wie immer, aber Mutti, die schon lange auf dem Hof wartete, spürte irgendetwas. „Johann, schön, dass ihr gesund wieder angekommen seid. War alles in Ordnung? Habt ihr in dem Dreck und Durcheinander etwas gefunden und mitgebracht?“
„Oui, ja, ja – ier schauen.“ Johann zeigte auf all die Dinge, die sie mitgebracht hatten: eine Decke (es war ein Federbett), noch eine Decke (es war aber nur ein Kopfkissen), viel Bettwäsche, einen großen Packen gefalteter Hemden und Pullover, Handtücher, Taschentücher, Wischtücher, Kaffeekannen und viele Bilder von Spitzweg. Das wichtigste für meine Mutti war aber das Rosenthaler Porzellan – das Speiseservice mit vielen tiefen und flachen Tellern, Vorlegetellern, Soßiere, Suppenterrine und vor allem das komplette Kaffeeservice mit kleinen und großen Zuckerbehältern, Kuchentellern. Als sie das sah, strahlte sie und nahm eine Tasse. „Ach, Johann schau mal das wunderbare dünne Porzellan“, ging auf Johann zu und gab ihm einen Schmatz auf die Wange. Dieser war erstaunt, nahm den Kuss aber freudig entgegen, er lächelte. Oma, die dies sah, schmunzelte und sagte zu Mama: „Na Gretel, lass das nur nicht den NSDAP-Ortsvorsteher sehen.“
Aufgeregt quakte ich dazwischen: „Johann, du solltest mir doch meinen braunen Teddybär, den Brummi und die Puppe ‚Freche Liese‘ mitbringen.“ „Klous (so richtig Klaus auszusprechen, gelang ihm selten), haben wir nicht gesucht, non, non, isch meine, nicht funden. Aber hier – sieh – ein Auto und Kugeln.“ Er übergab mir meinen Holzlaster und ein paar Murmeln. Das war natürlich nicht gerade viel, aber besser als gar nichts. Ich nahm es zufrieden entgegen und drückte Johann dankbar die Hand.
Mama ging zur Haustür und rief hinein: „Oma, bring mal bitte den Nicolaj und den Marcel mit. Die sollen mal alles ins Haus hineintragen.“
Während all dieser Gespräche hatte sich nun natürlich auch Herr Wittasch aus dem Auto geschält. Er sah etwas mitgenommen und äußerst unzufrieden aus. Das traf übrigens auch auf Johann zu, welcher erschöpft und abgespannt wirkte. Wittasch ging sofort auf Mutti zu und speckerte äußerst unzufrieden los: „Frau Eulenberger, da lief wieder mal einiges schief. Als wir ankamen, haben wir uns sofort bei der Familie Goldmann gemeldet, welche ins Nachbarhaus zu Bekannten gezogen ist. Sie wussten auch Bescheid und haben sich sehr interessiert, wie es Ihnen geht. Dann haben wir begonnen zu suchen. Es war aber äußerst risikovoll, weil wir immer dachten, dass noch ein Teil der Decke einstürzt. Plötzlich rief ein alter Mann von unten mit Donnerstimme: ‚Was tun Sie denn hier? Das ist verboten. Kommen Sie sofort herunter – auf der Stelle!‘