Rückkehr zu Gott

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Papst Gregor und seine Vorgänger – die Reformbewegung begann unter den deutschen Päpsten Clemens II. (1046 – 1047), Viktor II. (1055 – 1057) und dem Elsässer Leo IX. (1049 – 1054)9 – wollten eine glaubwürdigere Kirche. Dahinter verbarg sich ein Gedanke, der für das weitere religiöse Leben im Mittelalter ausschlaggebend sein sollte:
„Hier auf Erden sollten Lebensentwürfe verwirklicht werden, wie sie in der Schrift vorgegeben sind. Leitbild war die Einheit der Kirche.“10
Papst Gregor verband dieses Ziel an erster Stelle mit einer Reform der kirchlichen Hierarchie:
„Ein aus der Heiligen Schrift abgeleiteter Lebensentwurf, in dem das Priestertum neben und über den Laien stand; ... eine Form der kirchlichen Einheit, verbunden mit der absoluten päpstlichen Führungsrolle. Priestertum und monarchische Stellung des Papstes waren die Leitbilder.“11
Die Reform zielte auf die Unabhängigkeit und Freiheit der Kirche („Libertas ecclesiae“) gegenüber der weltlichen Macht, vor allem gegenüber dem Kaiser. Sie wehrte sich dagegen, dass Bistümer und Abteien durch Laien, d.h. durch Könige, Fürsten und Adlige vergeben wurden (die sog. Laieninvestitur), z.B. durch Zahlungen von hohen Geldsummen (Simonie)12 oder durch Fürsprache einflussreicher Persönlichkeiten, die dem Bewerber, nach erfolgreicher Übernahme eines Bistums, zusätzliche Verpflichtungen aufnötigten.13 Die Investierten standen in dauernder Abhängigkeit ihrer Gönner. Infolge dessen waren sie auch meist nicht am Seelenheil der Menschen interessiert, sondern an der wirtschaftlichen und finanziellen Ausbeutung. Das führte u.a. dazu, dass sie für geistliche Amtshandlungen Geld verlangten. Um dem Priestertum eine neue Würde zu verleihen, forderten die Anhänger der päpstlichen Reformen die Einhaltung des Zölibats.14 Deshalb verkündete Papst Gregor, „dass nur der würdige Priester wirksam die religiösen Funktionen vollziehen könne.“15 Er ließ die „simonistischen, die nicht ausschließlich von der Kirche berufenen Priester ebenso wie die beweibten und unkeuschen Priester als unrechtmäßige wirkungslose Usurpatoren des priesterlichen Amts“16 bezeichnen und als Ketzer verfolgen, sofern sie weiterhin die Messe zelebrierten oder kirchliche Ämter weiter erwarben17:
„Priestern, Diakonen und Subdiakonen, die im Verbrechen der Hurerei (des Ehebruchs mit der Kirche) verharren, verbieten wir im Namen des allmächtigen Gottes und in der Vollmacht des heiligen Petrus den Eintritt in die Kirche, bis sie Buße tun und sich bessern.“18
Den Garanten für glaubwürdige Geistliche und für die Unabhängigkeit der Kirche und Klöster sah Gregor in einem starken Papsttum: Papst Gregor VII. (*1019/30 +1085), der zeitweise Mönch eines cluniazensischen Klosters war, bevor er an die Kurie berufen und 1073 Papst wurde, war davon überzeugt, dass es in der Welt nur um
„das Ringen zwischen dem Gottes- und dem Teufelsreich, um den kämpferischen Einsatz der Gotteskinder [ging], damit der Friede, die Gerechtigkeit und Liebe Gottes möglichst viele Menschen erfülle. Zu diesem Kampf waren alle Christen, vor allem jedoch die geistlichen und weltlichen Amtsträger gerufen.“19
Gottes Reich war für Gregor die ecclesia universalis (die universale Kirche) mit den von Gott eingesetzten Gewalten der weltlichen und der geistlichen Macht (Regnum, Königtum und Sacerdotium, Priestertum). In dieser universalen Kirche sollte Gott ungehindert wirken können. Für die göttlichen Dinge waren aber für Gregor ausschließlich die Priester zuständig. Aus diesem Grund besaß das Sacerdotium den höheren Rang. Die Priester sollten frei sein für das göttliche Handeln in der Welt. Es ging Gregor um die Unabhängigkeit des Klerus und der Klöster von aller weltlichen Einflussnahme. Die dem Sacerdotium gebührende Autorität konnte aber nach Gregor nur einer sichern: der Papst in Rom.20 Daher glaubte Gregor, alle Christen müssten „dem für ihr Seelenheil verantwortlichen Papst gehorchen und unter seiner Führung für das Gottesreich streiten, nicht nur die seiner oberbischöflichen Gewalt untergebenen Priester und Mönche, sondern auch die weltlichen Herrscher.“21
Gregor beabsichtigte nicht, die königliche Herrschaft zu entmachten. Es ging ihm neben der Unabhängigkeit der Priester auch darum, dass die weltlichen Herrscher Christus als ihr Haupt anerkennen. Wenn ein weltlicher Herrscher Christus nicht folge, dann entmachte er sich selbst. Die radikale Konsequenz Gregors:
„Kraft des päpstlichen Rechtes, letztlich zu entscheiden, wer Gottes und wer des Teufels sei, forderte er, einen unwürdigen Herrscher absetzen und die Untertanen vom Treueid lösen zu dürfen.“22
Es waren schließlich die geistlich-spirituellen Impulse der gregorianischen Reform, die einen neuen Aufbruch des religiösen Lebens in der Kirche verursachten: der Gedanke von einem würdigeren und glaubwürdigeren Klerus. Das Wirken eben jener „reformierten“ Kleriker, die wie die Apostel in Armut Christus nachfolgen wollten („vita apostolica“) und deshalb auch als Wanderprediger umherzogen, riefen in den einfachen Gläubigen eine neue Religiosität hervor.23 Sie setzten neue religiöse Bewegungen in Gang. Die vita apostolica und die paupertas vitae, ein Leben auf Wanderschaft wie die Apostel und die radikale Armut Christi, wurden innerhalb dieser Bewegungen zu den wichtigsten geistlichen Werten.24
Die reformatorischen Kräfte, die nach innen die Erneuerung der kirchlichen Hierarchie anstrebten, wirkten auch nach außen auf die Laien:
„Die religiösen Kräfte, die das Reformpapsttum zum Widerstand gegen den simonistischen und beweibten Klerus aufgerufen hatte, waren vielfach zu selbstständiger Aktivität erwacht und begnügten sich nicht mit der erneuerten Geltung der Klosterregel und des Kirchenrechts. Die Evangelien und Apostelschriften selbst wurden ihnen zur Norm des wahrhaft christlichen Lebens, zur Quelle ihrer Frömmigkeit, zum Appell an jeden Christen, sich wie Jesu Jünger und Apostel zu verhalten. Nach deren Weisung begannen Mönche, Eremiten, Kanoniker zu predigen, um die Gläubigen auch außerhalb des Klosters und Klerus aufzurütteln und für ein wahrhaft christliches Leben zu gewinnen.“25
Papst Gregor selbst rief Laienvereinigungen, wie die Pataria in Mailand, auf, gegen den unwürdigen Klerus vorzugehen.26 Er förderte auch den Gedanken, sich wieder mit der Ostkirche zu vereinigen und Jerusalem aus der Hand der Muslime zu befreien. Sein Nachfolger Urban II. (1088-1099) setzte schließlich den ersten Kreuzzug (1096-1099) in Gang. Hinter dem Ruf, das heilige Land zu befreien und die „Ungläubigen“ zu töten – der Papst betonte, so schrecklich sich dies für uns heute anhört, es sei Christenpflicht, fremdes und gottfernes Volk zu töten27 – verbarg sich ein
„mächtiger Ausdruck von Laienfrömmigkeit, der das Ideal der Bußpilgerschaft mit dem Gedanken des Heiligen Krieges verband, was die päpstliche Herrschaft weiter stärken sollte.“28
Trotzdem kann zur Zeit Gregors von einer direkten Förderung der Laienfrömmigkeit nicht die Rede sein. Im Zusammenhang mit einer „vita apostolica“ oder mit einem vertieften geistlichen Leben kam der einfache Gläubige, der Laie, überhaupt nicht vor: Man verstand darunter eine „vita communis“, wie sie in den Klöstern gelebt wurde29, und für Papst Gregor war das Wort „apostolisch“ gleichbedeutend mit „päpstlich“.30 Auch wenn die gregorianische Reform zu den bedeutsamen Umbrüchen beitrug31, so vollzog sich diese Reform „unter dem Banner der Rückkehr zur alten Ordnung, nicht unter dem des Aufbruchs“32.
Doch die von der Reform geweckten Geister meldeten sich zu Wort und ließen sich nicht mehr zum Schweigen bringen. Sie richteten sich schließlich gegen die von Gregor reformierte Hierarchie, die sie kritisch zu hinterfragen begannen, zum Beispiel
„ob die kirchliche Ordinierung des Priesters die einzige und ausreichende Berechtigung zur Vollziehung des christlichen Heilswerkes sei; ob nur die Kirche berufen und dazu eingesetzt sei, allein durch die von ihr bestellten Vertreter den göttlichen Heilsplan, den die Evangelien und die Apostel verkündet hatten, zu verwirklichen; ob nicht jeder einzelne Christ durch die Gebote der Evangelien und das Beispiel der Apostel aufgerufen sei, sein Leben unmittelbar nach den evangelischen und apostolischen Normen auszurichten; und ob andererseits derjenige ein echter Priester sei, der zwar von der Kirche dazu ordiniert ist, aber nicht lebt, wie das Evangelium es verlangt und wie die Apostel lebten. Aus solchen Fragen und Zweifeln erwuchs eine religiöse Gesinnung, die das Wesen des Christentums nicht mehr in der Kirche als Heilsordnung und in der Kirchenlehre als Dogma und Tradition erfüllt und verwirklicht sah, sondern nach einer Verwirklichung des Christentums als einer religiösen Lebensform suchte, die für jeden einzelnen echten Christen unmittelbar verbindlich und für sein Seelenheil wesentlicher sei als seine Stellung im hierarchischen Ordo der Kirche oder sein Glauben an die Lehren der Kirchenväter und Theologen.“33
Die kirchliche Heilsordnung sowie das theologische Lehrgebäude sollten sich von den Anweisungen des Evangeliums und dem Vorbild der Apostel her legitimieren, d.h. irdische Güter zu lassen und wie die Apostel in der Nachfolge Christi das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden. Diese Gedanken waren revolutionär, denn im religiösen und kirchlichen Leben hatten sie im Abendland bisher keine große Rolle gespielt34:
„Diese beiden Gedanken, die Forderung der christlichen, evangelischen Armut und des apostolischen Lebens und Wirkens, sind zu Brennpunkten einer neuen Auffassung vom Wesen des Christentums geworden, von der aus einerseits die bisher bestehende kirchliche Ordnung und Lehre der Kritik unterzogen und andrerseits ein neues Richtmaß für eine wahrhaft christliche Lebensgestaltung gesucht wird.“35
An der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert trat nun das Ideal von der freiwilligen christlichen Armut und von der apostolischen Nachfolge gleichzeitig in sehr unterschiedlichen Kreisen hervor und bestimmte die Entwicklung der religiösen Bewegungen: in den meist antikirchlichen, von der Kirche deshalb als ketzerisch verurteilten Bewegungen, und in kirchlich gesinnten Wanderpredigern36, denen sich zahlreiche Frauen und Männer anschlossen. Aus diesen Gruppen der Wanderprediger gingen sodann neue Orden und Klöster hervor.37
1 Für unsere Ausführungen besonders wichtig: Grundmann 1976, Bd. 1; Ders. 1977; Bünz u.a. 2007; Angenendt 2005, vor allem 44 – 68; Dinzelbacher 1988; 2003a; 2003b; Borst 1988; Ders. 2004. Wir werden in diesem ersten Teil meistens aus Grundmann 1977 zitieren. Die Ausgabe von 1977 ist ein photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe von 1935, dem 1961 sowie 1977 Anhänge mit neueren Erkenntnissen zugefügt wurden. Außerdem fällt auf, dass selbst neuere, in dieser Arbeit aufgeführte kirchengeschichtliche Publikationen immer wieder auf Grundmann verweisen. Meines Erachtens gibt es bis heute kein Werk, das sich so ausführlich und in einem Zusammenhang mit den religiösen Bewegungen des Mittelalters auseinandersetzt und dabei auf eine so große Menge von zeitgenössischen Quellen zurückgreift. In einzelnen Themen, wie z.B. bei der Darstellung der Beginen und der Freien Geister, müssen jedoch neue Forschungserkenntisse berücksichtigt werden. Eine neuere Publikation über die religiösen Bewegungen, Bünz 2007, behandelt, da sie als Festschrift konzipiert ist, einzelne Themen.
2 Dazu: Wollasch 2007; Angenendt 2005, 55f.; Kempf 1999, 365-375. 401-461; Hauschild I 1995, 298 – 304. 425 – 433; Morrison 1993, 195 – 210.
3 Grundmann 1977, 13.
4 Zu Cluny: Siehe Wollasch 2007.
5 Vgl. Angenendt 2005, 55f.; Kempf 1999, 368-371. Von Gorze ging, seit 933, ausschließlich eine geistliche Erneuerung aus. Gorze blieb, im Gegensatz zu Cluny ein Eigenkloster und stellte das Eigenklosterwesen auch nicht in Frage. Allerdings hatte es Gorze im deutschen Sprachraum mit einem erträglicheren Eigenkirchenwesen zu tun als Cluny in Frankreich; dort waren es zum Teil die Adligen und Fürsten selbst, die ein Reformkloster förderten bzw. gründeten.
6 Zum Folgenden: Vgl. Kempf 1999, 371-375; Leclercq 1993, 149ff.; Wollasch 2007.
7 Vgl. Angenendt 2005, 333f.
8 Wollasch 2007, 37-42; Quellen: Odonis abbatis Cluniacensis vita s. Geraldi, in: Bibliotheca Cluniacensis, hg. Von M. Marrier – A. Duchesne, Paris 1614, Neudruck Mâcon 1915.
9 Vgl. Kempf 1999, 404 – 411.
10 Morrison 1993, 195. Vgl. Borst 2007, 177. 212.
11 Morrison 1993, 195.
12 Vgl. Kempf 1999, 392.
13 Vgl. Angenendt 2005, 45f.
14 Vgl. Angenendt 2005, 46. 457, mit weiteren Verweisen); Kempf 1999, 390f.
15 Grundmann 1977, 13.
16 Grundmann 1977, 13.
17 Vgl. Angenendt 2005, 457ff.; Grundmann 1977, 13.
18 Gregor VII., Epistulae 139; zit. n. Grundmann 1977, 13. Vgl. Angenendt 2005, 458.
19 Kempf 1999, 423.
20 Vgl. Angenendt 2005, 324f.; Kempf 1999, 424.
21 Vgl. Kempf 1999, 424.
22 Kempf 1999, 424. - Aus diesem Denken resultieren zahlreiche Konflikte zwischen Kaiser und Papst, zunächst zwischen Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV. selbst, der zum berühmten Gang des Kaisers nach Canossa führte (1077), nachdem der Papst diesen exkommuniziert hatte. Zur Zeit Taulers führte der Konflikt zwischen Papsttum und Kaiser Ludwig der Bayer dazu, dass Tauler Straßburg verlassen und einige Jahre im Baseler Exil verbringen musste, da die Stadtregierung Straßburgs auf der Seite des exkommunizierten Kaisers stand.
23 Vgl. Angenendt 2005, 54
24 Vgl. McGinn 1996, 237
25 Grundmann 1977, 508. Vgl. Angenendt 2005, 54f.
26 Vgl. Borst 2007, 212; Angenendt 2005, 458. 460
27 Vgl. Borst 2007, 25
28 McGinn 1996, 237. Vgl. Erdmann 1965.
29 Vgl. Angenendt 2005, 55.
30 Vgl. Grundmann 1977, 505.
31 McGinn 1996, 233.
32 McGinn 1996, 234.
33 Grundmann 1977, 14.
34 Vgl. Grundmann 1977, 15: „Die monastische Reformbewegung hat zwar bei ihrer Erneuerung des benediktinischen Mönchtums auch den Verzicht auf Privateigentum in aller Strenge gefordert, keineswegs aber sich zu einem ‚Armutsideal‘ und zum Eigentumsverzicht der Klostergemeinschaft bekannt, sondern im Gegenteil nach machtvollem Reichtum der Klöster gestrebt.“
35 Grundmann 1977, 15.
36 Norbert von Xanten (1082 – 1134), begann als Wanderprediger. Zur gleichen Zeit wanderte auch Robert von Arbrissel (+1177) predigend durch Frankreich und sammelte zahlreiche Anhänger um sich, die sich die „Armen Christi“ nannten.
37 Norbert gründete zunächst ein Doppelkloster für Frauen und Männer (Prämonstratenser). Auch Robert gründete ein Kloster für die „Armen Christi“, das sich allerdings nach seinem Tod wieder auflöste.
Zweites Kapitel
Neue Mönchsorden
Bei der Umsetzung der gregorianischen Reform nahm die monastische Lebensform eine bedeutende Rolle ein.38 Diese beeinflusste die neuen religiösen Bewegungen maßgeblich. Denn die Anhänger der gregorianischen Reform, vielfach selbst Mönche, schöpften ihre Vorstellungen
„aus ihrem monastischen Ethos und aus der Übertragung der monastischen Lebensformen – z.B. des Zölibats – auf den gesamten Klerus. Ihr Eintreten für das Mönchtum förderte die Frömmigkeit und die Lebensweisen, die der affektiven Vereinigung dienten. Der stetige Austausch zwischen dem Mönchtum und den Laien brachte eine Umgestaltung der Laienfrömmigkeit mit sich.“39
Die Kraft der gregorianischen Reform zur Umgestaltung der Kirche und des geistlichen Lebens im 11. und 12. Jahrhundert kam aus den drei monastischen Grundformen:
„Die koinobitische (Gemeinschaften mit gemeinsamer Lebensführung nach dem Vorbild der benediktinischen Klöster), die eremitische (Gemeinschaften, die ein Leben der Einsamkeit führten), und die Kollegiate (Gemeinschaften, die das gemeinsame Leben in einer halbkoinobitischen Weise lebten nach dem Beispiel der Regularkanoniker).“40
Die monastische Lebensform bot eine Praxis an, das eigene religiöse Leben zu vertiefen:
„Zahllose Einzelübungen verbanden sich mit körperlichen und geistigen Strengheiten: Verleugnung des Eigenwillens unter den Regeln des Gehorsams, den täglichen und jährlichen Zyklus der Liturgie, besondere Andachten (z.B. zur seligsten Jungfrau Maria), Gebet und Schriftmeditation.“41
Besonders wichtig war das Ziel dieses tiefen geistlichen Lebens: „Solche Übungen sollten ... vor allem das Gefühl erwecken, an der Armut und dem Leiden Christi teilzunehmen.“42 Angeregt von diesem Ideal, das sie in der Urkirche verwirklicht sahen, wie es im 4. Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben wird43, gaben viele Kleriker und Laien ihren persönlichen Besitz auf, bildeten Gemeinschaften oder zogen als Wanderprediger umher, um in apostolischer Armut das Evangelium zu verkünden. Die „reformierten“ Priester und Ordensleute wurden nun
„die Seelenführer der Laien, Männer und Frauen; in Fragen der Moral gaben sie ihnen Rat, verfassten Texte, um ihnen in ihrem Gebetsleben zu helfen, und waren ihre Lehrer für ein vertieftes Andachtsleben.“44
Auf diese Weise suchten Laien und Kleriker, Priester und Mönche nach gemeinsamen Wegen, wie man dem Ideal des Evangeliums entsprechen könne, um „zur ursprünglichen ecclesia apostolica et evangelica“45 zurückzukehren.46 Wir werden sehen, dass die Wege zum Ziel sehr unterschiedlich verlaufen.
Zunächst aber wollen wir bei den Mönchsorden bleiben. Obwohl die traditionellen Orden in gutem Ruf standen47, genügte es vielen Menschen nicht mehr,
„dass der einzelne Mönch zwar nichts besitzen, die Klostergemeinschaft dagegen über große Einkünfte verfügen dürfe. Für sie bedeutete Armut den möglichst vollständigen Verzicht auf irdische Sicherungen.“48
Deshalb zogen sich manche Anhänger dieser neuen Armutsbewegung in abgelegene Gegenden zurück, um allein oder mit Gefährten ganz für Gott frei zu sein. Den notwendigen Lebensunterhalt erwarben sie sich durch Handarbeit, indem sie je nach Bedarf Ackerbau betrieben. Diese Eremiten – obwohl zurückgezogen lebend – standen dennoch im regen Kontakt zu den Laien:
„Gerade die Eremiten und die zönobitischen Vertreter strenger Askese standen in einem viel engeren Kontakt mit breiten Massen des Volkes als die Klosterkonvente älterer Ordnung. Sprachen doch ihre Ideale in steigendem Maße die in gärende Unruhe geratenden Laien an.“49
Aus diesem Grund kann man die Eremiten-Bewegung als wichtigen Impulsgeber für die Wanderpredigt sowie als Vorläufer für die aus der Wanderpredigt ausgehenden Neugründungen, u.a. die Prämonstratenser, ansehen.50
I. Kartäuser und Zisterzienser
Aus der Eremitenbewegung gingen zwei für das Mittelalter und für die religiösen Bewegungen bedeutsame Orden hervor51: die Kartäuser und die für die religiösen Bewegungen wichtigeren Zisterzienser.
Die Kartäuser, La Grande Chartreuse, gehen auf das Wirken des aus Köln stammenden Weltpriesters Bruno (+ 1101) zurück, „der um 1056 an der Reimser Domschule die Leitung der philosophisch-theologischen Studien übernommen hatte, zu Erzbischof Manasses von Reims sowie zu dessen Nachfolger in Gegensatz geraten und dadurch in seinem Wunsch, die Welt zu verlassen, bestärkt worden war. Für kurze Zeit verweilte er in Molesme bei Abt Robert [der Gründer des Zisterzienserordens], ging dann mit Gefährten in die Einöde von Lêche-Fontaine, verließ sie jedoch bald, von sechs Freunden begleitet, und begann um 1084 im Talgrund von Chartreuse von neuem als Eremit zu leben. Eine Ordensgründung oder dergleichen war nicht beabsichtigt; die Gemeinschaft hätte sich sogar fast aufgelöst, als Bruno 1090 dem Ruf Urbans II., seines früheren Schülers, folgen und nach Rom ziehen musste. Bereits im Jahr darauf gestattete ihm der Papst, in Süditalien wiederum den Eremus aufzusuchen. Er errichtet im Waldgebiet von La Torre (Bistum Squillace) die Einsiedelei S. Maria dell´Eremo, der er 1097/99 für kränkliche Gefährten die zönobitisch ausgerichtete Filiale S. Stefano in Bosco angliederte. Dass sich die Spur seines Erdenwirkens nicht verlor (er starb 1101), ist weniger den Eremiten von La Torre als jenen von Chartreuse zuzuschreiben, besonders dem bedeutenden Prior Guigo de Chastel (+ 1137), der 1128 die von Bruno gegründete und wohl weiterentwickelte Lebensweise durch eine Regel [„consuetudines“] festlegte. Was den langsam und in bescheidenem Umfang sich ausbreitenden Kartäuserorden auszeichnete, waren die eigenartige Verbindung von anachoretischer und zönobitischer Form, eine äußerste, aber mit gesundem Sinn für das Tragbare gepaarte Strenge und endlich eine zweckentsprechende Organisation, bei der die beiden Errungenschaften jener Zeit: das Institut der Laienbrüder und die Ordensverfassung der Zisterzienser, verwendet worden sind. Hier hat der Geist, von dem die Armutsbewegung des 11. Jh. beseelt war, einen zwar partikulären, aber so gültigen Ausdruck gefunden, dass er in seiner ursprünglichen Strenge ohne wesentliche Milderung bis zum heutigen Tag den Kartäusern verblieb und, einmaliges Faktum in der Ordensgeschichte, niemals eine Reform erforderte.“52
Die Zisterzienser gehen aus der Suche nach einem vollkommenen christlichen Leben hervor: 1098 gründete der Benediktinerabt Robert von Molesme (*1028 +1111) in der Einöde von Cîteaux bei Dijon (Burgund) ein neues Reformkloster. Dort sollte die Benedictus-Regel ihrer ursprünglichen Strenge gelebt werden. Bereits 1099 musste Robert jedoch, auf Veranlassung des päpstlichen Legaten, in sein Kloster nach Molesme zurückkehren. Seine Gefährten setzten sein Werk fort: Abt Alberich (1099 – 1109) ersetzte das schwarze Benediktinergewand durch ein weißes oder graues. Der dritte Abt, der gebürtige Engländer Stephan Harding (1109 – 1133) verfasste 1119 die Ordensstatuten, die „Carta caritatis“. In ihr wurde strengste Armut gefordert; im Gotteshaus sollte größte Einfachheit herrschen, keine steinernen Türme, keinerlei Schmuck und Prunk im Innern. Darüber hinaus wurde die Bedeutung der Handarbeit betont. Im Gegensatz zu den reicheren Abteien der Benediktiner oder Cluniacenser verzichteten die Zisterzienser auf den Besitz von Eigenkirchen und auf die Verpachtung von Grund und Boden zwecks Zins- und Rentenwirtschaft. Vielmehr nutzten sie den Grundbesitz mit Hilfe von „Conversen“, d.h. von einfachen Laienbrüdern, um sich wirtschaftlich selbst versorgen zu können. Dadurch wurden jedoch die Laienbrüder von den Chorbrüdern deutlicher geschieden.53
Zu einer neuen Blüte des Ordens führte dann das Wirken des hl. Bernhard von Clairvaux (*1090 +1153). Bernhard gilt als der zweite Gründer des Ordens. Als er 1112 in den Orden eintrat, brachte er gleich 30 gleichgesinnte Adlige mit. Bernhard und seine Gefährten prägten fortan das geistliche Leben des Ordens. Bereits in den folgenden Jahren wurden vier neue Niederlassungen gegründet, La Ferté, Ponitigny, Clairvaux und Morimond. Bernhard selbst wurde 1115 Abt von Clairvaux und leitete dieses Kloster bis zu seinem Tode 1153. Bereits 1174 sprach ihn Papst Alexander III. heilig.
Dem Wirken des hl. Bernhard ist es zu verdanken, dass der Zisterzienserorden im 12. Jahrhundert der angesehenste Orden der Christenheit wurde. Allein von Clairvaux aus gingen nach Bernhards Tod noch weitere 68 Neugründungen aus. Bis 1300 stieg die Zahl der Männerklöster von 300 auf 700. Diesen schlossen sich im 12. Jahrhundert auch immer mehr Frauen an. Auch zahlreiche Benediktinerinnenklöster suchten Anschluss an den neuen Orden. So entstanden sehr schnell mehr als 1000 neue Zisterzienserinnenklöster. Viele dieser Klöster, deren Zahl höher war als die der Männer, lebten zwar nach der Regel von Citeaux, gehörten aber rechtlich nicht zum Orden.54 Diese hohe Zahl aber wurde zu einem erheblichen Organisationsproblem für die Männerklöster, die für die Seelsorge der Frauenklöster (Cura monialum) zuständig waren. Genauso problematisch war auch die wirtschaftliche Existenzfähigkeit dieser Frauenkonvente. Deshalb versuchten die Zisterzienser und nach ihnen die Prämonstratenser erfolgreich, die Dominikaner und Franziskaner dagegen vergeblich55, sich der Frauenseelsorge zu entledigen.56
II. Die Bedeutung der Zisterzienser für das geistliche Leben