Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien

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»Das weiß ich. Und ich hoffe, dass all Ihre Befürchtungen sich nicht bewahrheiten.«
»Okay. Dann viel Glück und einen angenehmen Aufenthalt im DVR-Hotel Borik.«
Wortlos, jedoch nickend, drückten auch die beiden anderen Herren die rechte Hand der Ameise. Daraufhin verließ Sorokin den Raum und kurz danach das ehrwürdige Gebäude des Sächsischen Landtags, nachdem er freundlich dem Servicemitarbeiter zugenickt und durch einen Blick auf dessen Armbanduhr festgestellt hatte, dass es mittlerweile 8:52 Uhr war.
Der alte Mann vom BND betrat den Raum, schloss hinter sich die Tür und trat ans Fenster, als wäre er nur aus einem einzigen Grund erschienen: Er wollte den schönen Blick auf das morgendliche Dresden genießen.
»Denken Sie wirklich, dass es vernünftig ist, einen Mann aus den Reihen der Polizei eine solch brisante Aufgabe erledigen zu lassen?«, waren die Worte des Herrn, welcher Sorokin vor wenigen Sekunden den Koffer übergeben hatte.
»Ich kann und will keinen BND-Mitarbeiter einsetzen, und schon gar keinen aus einer unserer Residenturen in diesen Südländern«, raunte der Alte am Fenster, ohne sich dabei umzudrehen. »Die Agenten vor Ort werden beobachtet oder sie haben sich längst auf Geschäfte mit den politischen Eliten und der organisierten Kriminalität eingelassen.« Eine kurze Pause folgte. »Oder eben beides.«
»Wer legitimiert die Aktion?«, fragte einer der beiden anderen Herren, der wahrscheinlich ein Abgeordneter des Sächsischen Landtags war.
»Verlangen Sie von mir Rechenschaft?« Jetzt stand der Alte mit dem Rücken zum Fenster. »Bitteschön: Unsere Abteilung für Internationalen Terrorismus und Internationale Organisierte Kriminalität – kurz TE – ist zuständig für die Aufklärung grenzüberschreitender Gefahren des internationalen Terrorismus und der international organisierten Kriminalität. Seit Jahren tauschen wir Informationen mit der NSA aus, die wir über unsere Fernmeldeverkehrsstelle in der Bad Aiblinger Mangfall-Kaserne weiterleiten. Egal, was Sie in der Bildzeitung darüber gelesen haben, die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA in Bad Aibling basiert auf einem Abkommen, welches bereits am 28. April 2002 geschlossen wurde und das lediglich die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA – die es bereits seit Anfang der Sechziger gibt – verlängerte und in die richtigen Bahnen lenkte. Die NSA wurde darauf aufmerksam, dass ein serbokroatischer Anschlag auf bundesdeutsche Einrichtungen bevorstehen könnte. Übrigens basiert das alles sehr auf Annahmen; die meisten erweisen sich als Irrtümer. Aufgrund der doch recht klaren Hinweise, dass eventuell auch Bundeswehrangehörige oder Nachrichtendienstleute beteiligt sein könnten, gingen die Informationen sofort an die zuständigen Abgeordneten im Bundestag. Es kam zu einer Sitzung eines personell eng begrenzten Bundestagsausschusses, in dem die weitere Vorgehensweise besprochen wurde. Den Abgeordneten wurde zudem eine Akte vorgelegt, laut der es durchaus möglich sein könnte, dass unsere Hauptzielperson, der Pilot, bereits 2008 für die paramilitärische Organisation ›Armee der Republik Kosovo‹ tätig gewesen sein könnte, welche sich zu einem verheerenden Sprengstoffanschlag auf das Gebäude des Internationalen Zivilbüros der EU-Sondergesandten in Priština im Kosovo bekannt hatte. Gewisse Persönlichkeitsmuster des Piloten deuten auf eine Beteiligung hin. Sie erinnern sich vielleicht, dass der Kosovo damals drei meiner BND-Mitarbeiter verdächtigte, die man wahrscheinlich so nur außer Landes schaffen wollte. Dahinter steckte vermutlich der Premierminister des Kosovo, ein ehemaliger Guerilla-Kämpfer, der unserer Europäischen Union den Stinkefinger offerierte. Das nur am Rande. Die Bundestagsabgeordneten beschlossen schließlich die jetzige Vorgehensweise. Die besagt, dass der Sächsische Landtag offiziell die Aktion leitet – deshalb sind Sie, meine Herren, jetzt hier – und dass meine Person eine der wenigen ist, die auf Seiten des Nachrichtendienstes etwas davon wissen.«
»Warum wird ausgerechnet die Ameise auf den Piloten angesetzt?«, fragte der dritte Herr, welcher bislang regungslos und schweigend seinen Stuhl warmgehalten hatte.
Der Alte trat zwei Schritte auf ihn zu: »Die Ameise wurde uns von Seiten der SEK-Führung in Sachsen empfohlen. Unsere Recherche bewies zudem, dass die Ameise tatsächlich bestens geeignet ist.«
Noch einmal meldete sich der Abgeordnete zu Wort: »Verraten Sie uns bitte, weshalb man annimmt, dass Agenten des BND oder Angehörige der Bundeswehr in den geplanten Anschlag involviert sind?«
»Nein«, antwortete der Alte sofort.
»Es würde meinem Gewissen aber guttun.«
Der Alte blickte den Mann sekundenlang an, dann nickte er flüchtig. »Es hat was mit der Beschaffung der Waffen zu tun, die für diesen Anschlag eingesetzt werden könnten. Aber, speziell für Ihr Gewissen: Am Ende des Tages werden wir der Meinung sein, das Richtige getan zu haben.«
Nun war es an dem Abgeordneten, den BND-Mann sekundenlang anzustarren, um schließlich das Gespräch zu beenden. »Ich mag keine Sätze, die im Futur II stehen. Politiker, die diese grammatikalische Form benutzen, sind für mich unglaubwürdig. Sie sind Fantasten.«
»Zum Glück werde ich nie ein Politiker gewesen sein«, waren die abschließenden Worte des Alten. »Zum Glück.« Worauf sein Gesicht zum ersten Mal in dieser Runde grinste.
*
Beim Verlassen des Gebäudes blendete die tief stehende Sonne Sorokin. Also fingerte er seine Sonnenbrille aus der Jacketttasche, setzte sie auf und schob sie zurecht. Dann lief er zu seinem Fahrzeug, schaltete die Klimaautomatik ein und fuhr quer durch Dresden Richtung BAB 4. Am erstbesten Parkplatz hielt er an, öffnete den schwarzen Koffer, stellte innen für jedes Schloss einen neuen vierstelligen Nummerncode ein und entnahm einer kleinen Mappe die Flugscheine. Der Flieger würde bereits am nächsten Morgen um 4:34 Uhr vom Flughafen Leipzig-Halle starten. 4:34 Uhr! Welch eine familienlogistische Herausforderung!
Nachdem Sorokin das neue Smartphone betrachtet hatte, nahm er sein altes Handy zur Hand und wählte die heimische Nummer.
»Ja. Es ist eine Auszeichnung«, sagte er kurz angebunden. »Wir fliegen morgen in aller Frühe nach Kroatien. Kannst du bitte die Koffer packen, Katie?« Trotz der Klimaautomatik lief Sorokin Schweiß über die Schläfen. Er musste die eigene Familie belügen. Die eigene Familie! Zum allerersten Mal!
Leipzig
17. August
»Du hast es aber versprochen!« Fedor protestierte vehement, fuchtelte mit den Armen herum und klang, als wollte er jeden Moment zu heulen beginnen. »Und jetzt hältst du dein Versprechen nicht!«
Vorsichtig fing Sorokin eine der fuchtelnden Hände ein und hielt sie mit beiden Händen fest. »He, Großer. Ich weiß, dass ich dir versprochen habe, dass du ein paar Tage bei Stefan übernachten darfst. Aber manchmal läuft es im Leben eben anders als gedacht. Die Reise wäre verdammt teuer, wenn wir sie selbst bezahlen müssten.«
»Das ist mir aber scheißegal!«
Sorokin schnappte sich Fedors linkes Ohr. »Fedor! Nicht in diesem Ton, hörst du! Die Ferienanlage Borik ist eine der schönsten in ganz Kroatien.«
»Na und? Ich wollte bei Stefan nicht nur schlafen, wir haben alles wochenlang geplant. Wir wollten …«
Sorokin resignierte. »Es tut mir leid. Was willst du noch hören?«
»Es tut dir nicht wirklich leid«, widersprach der Junge, entriss dem Vater seine Hand, streckte die Arme ein wenig aus und lief los. Dabei trat er auf ein Spielzeugauto, das unter seinem linken Fuß zerbarst.
Im gleichen Moment setzte Antons Sirene ein: »Auto! Du chrast Auto puttmacht!« Der Kleine heulte unablässig.
»Dann lass deine Autos nicht einfach rumstehen!«, brüllte Fedor zurück. »Dämlack!«
Anton kreischte nun noch lauter. »Auto ist nicht rumstanden, Auto ist fahren!« Er rannte zu Sorokin, umklammerte dessen rechtes Bein und wischte die Nase daran ab.
»Fedor!«, dröhnte Sorokins Bass, der selbst Anton für Sekunden schweigen ließ. »Entschuldige dich augenblicklich bei deinem kleinen Bruder! Jetzt und sofort!«
»Vergiss es! Du hast dich auch nicht richtig bei mir entschuldigt!« Fedors Zimmertür krachte zu.
Vorsichtig setzte Sorokin einen Fuß vor den anderen, was nicht einfach war, denn Anton hing noch immer kreischend an seinem rechten Bein. »Fedor, ich …!«
Genau in diesem Moment tauchte Jekaterina auf. »Das sind die besten Voraussetzungen für einen harmonischen Urlaub zu fünft.« Ihr gutmütiges Lächeln bedeutete Sorokin, dass er sich um Antons Auto-Problem kümmern sollte, während sie durch die Kinderzimmertür in Fedors Reich schlüpfte und die Tür von innen zudrückte.
Der blinde Junge lag auf dem Bett, das Gesicht zwischen den Armen vergraben, und er schluchzte herzerweichend.
Nun setzte sich Jekaterina auf den Bettrand und begann, sanft den Hals des Fünfzehnjährigen zu kraulen. »Zuckernäschen, denkst du, mit uns zusammen am Meer, das wird dir nicht gefallen?«
»Doch, aber …«
»Aber was? Hast du etwa Angst, dass dir Stefan die Freundschaft kündigt?«
Fedor drehte sich zwar um, schwieg jedoch.
»Ich rufe bei Stefans Mutti an und kläre das. Okay?«
»Wir haben schon Zeug gekauft.«
Wahrscheinlich Software und Elektronikbauteile. Jekaterina lächelte, denn Fedor saß nun dicht neben ihr und kuschelte sich an die Stiefmutter heran. Er hielt ihre rechte Hand fest und fuhr unablässig mit den Fingerkuppen über den Handrücken. »Zeug?«, fragte sie.
»Software und Elektronikbauteile. Wir wollen an unserem neuen Computer bauen.«
»An deinem neuen Computer«, verbesserte Jekaterina Sorokin. »Das Zeug wird dir nicht weglaufen.«
»Aber nach dem Urlaub sind die Ferien vorbei.«
»Es gibt immer Zeit und Möglichkeiten. Glaub das mir.«
»Glaub mir das«, verbesserte Fedor.
Die Mutter fuhr über den Hinterkopf durch Fedors Haare. »Du kleiner Besserwisser!«
»Trotzdem ist es gemein von Papa.«
»Von Papa?« Jekaterina sprach flüsternd und mit einer geheimnisvollen Stimme. »Glaubst du Dummkopf tatsächlich, dein Papa hätte sich für unseren Urlaub entschieden? So ganz plötzlich?«
Fedors Fingerspitzen berührten das Gesicht der Frau, als wollte er an ihrer Mimik erkennen, was sie gerade dachte. »Wie meinst du das?«, hauchte er.
Jekaterina Sorokin spürte Fedors Fingerkuppen auf den Lippen, während sie ebenso leise antwortete: »Ich will doch wetten, dass dein Papa einen Auftrag in Kroatien hat. Er kann mich nicht gut anlügen. Genauso wenig, wie du mich gut anlügen kannst.«
Gedanken surrten durch Fedors Kopf. Noch immer fuhren seine Fingerkuppen über das Gesicht der Mutter, die sich an diese Form von Fedors »Sehen« längst gewöhnt hatte. »Du meinst, Papa hat einen Geheimauftrag in unserem angeblichen Urlaub?«
»Hast du etwa nicht seinen neuen Aktenkoffer bemerkt?«, flüsterte Jekaterina.
»Doch. Ich habe den Koffer gerochen.« Nun ließ Fedor die Hände sinken.
»Den hatte dein Papa heute Morgen jedenfalls noch nicht, als er nach Dresden gefahren ist.« Sie beugte sich zu Fedors rechtem Ohr und hauchte: »Und er lässt auch niemanden an diesen Koffer ran. Er ist mit einem Zahlenschloss … Wie sagt man zu ›zablokirovannyy‹?«
»Verschlossen oder verriegelt«, antwortete Fedor sogleich. »Mama! Hast du es etwa ausprobiert?«
»Aber natürlich habe ich das. Jedenfalls wird dein Papa gute Gründe haben, uns nichts davon zu erzählen.«
Sekundenlang schwieg der Junge. Dann nahm er flink und geschickt das Handy aus der Halterung.
»Was hast du vor?«, fragte die Mutter. Sie lächelte, denn sie kannte Fedors Antwort bereits.
»Ich muss Stefan anrufen.«
»Und dann entschuldigst du dich bei Anton. Okay?«
»Okay.« Fedor legte das Handy rasch zurück und erhob sich. »Das mach ich zuerst.«
Jekaterina hielt den Jungen, der bereits das Zimmer verlassen wollte, noch zurück. »Ich habe eine Frage, Fedor. Was ist ein Dämlack?«
»Ein Dämlack?« Nun kicherte Fedor. »Das ist so was wie im Russischen ein Glupets. Eben ein Dussel oder ein Trottel.«
»Antoschka ist doch aber noch so klein.«
Fedor spürte die Traurigkeit im Gesicht der Mutter, die er über alles mochte. »Es tut mir ja auch leid.« Er umarmte und drückte sie. »Wirklich.«
*
Hans Rattner blickte ungläubig drein. »Wie? Was? Urlaub? Du?«
Ohne zu zögern, antwortete der ungleich jüngere und größere Sorokin: »Ja, Hans. Gewissermaßen ein verordneter Urlaub. Eine Auszeichnungsreise.«
Die Blicke des Hauptkommissars der Leipziger Mordkommission, einem humanoiden Oldtimer der Polizei, wanderten zunächst zu seinem Kaffee schlürfenden Kollegen Kriminalobermeister Paul Meisner und dann zurück zu Sorokin. »Deine Gewerkschaft will ich auch mal haben.« Er schüttelte den Kopf. »Meine letzte Auszeichnung habe ich als siebzehnjähriger Stift in Empfang genommen. Fünf Tage Ukraine, delegiert von der Berufsfachschule, gereist im FDJ-Hemd und im Domizil als Nazi beschimpft. Und heute wollen sie zur EU gehören.« Meisner grinste, worauf Rattner ihn in ruhigem Ton belehrte: »Da musst du nicht drüber lachen, Paul. Die Kiewer hatten einfach noch nicht kapiert, dass die DDR ihre sozialistische Schwester war.« Er setzte sich. »Wohin geht’s denn?«
»Kroatien«, antwortete Sorokin, wie aus der Pistole geschossen. »Ich wollte nur Auf Wiedersehen sagen. Und schau bitte mal nach dem Haus. Und falls was mit mir passiert, dann …« Sorokin stockte.
»Mit dir?« Der alte Rattner lachte auf. »Erwartest du einen Atomkrieg? Ich wüsste nicht, was dich sonst aus den Schuhen hebeln sollte. Mit dir was passieren? Jetzt verarschst du mich aber.« Nach vier Sekunden setzte er hinzu: »Oder?«
»Man kann nie wissen, was solch eine Reise mit sich bringt.« Es klang wieder selbstsicher, was Sorokin zuletzt gesagt hatte.
»Mensch, mal den Teufel nicht an die Wand! Das wird bestimmt ein prima Urlaub. So lange warst du noch nie an einem Stück mit deiner ganzen Familie zusammen, Tolik. Genieß es einfach und vergiss deinen Job für ein paar Tage.«
»Weißt du, Hans …« Sorokin schaute Rattner von oben herab in die Augen. »Ich wollte noch … Was sehr Privates … Mit dir …«
Meisner trank den restlichen Kaffee aus seiner Tasse, erhob sich ruckartig und raunte: »Hab schon verstanden. Ich bin in der Waffenkammer, Hans.« Kurz darauf hatte der Obermeister den Raum verlassen.
Sorokin setzte sich auf dessen Stuhl, der für ihn viel zu niedrig eingestellt war.
Rattner schwieg und wartete. Er wusste nur zu gut, dass Anatolij Sorokin eine tonnenschwere Sache belastete. Sonst hätte das Gespräch niemals in eine solch intime Richtung geführt. »Was ist los, Tolik? Stimmt irgendwas nicht?«
Sorokin flüsterte. »Der ganze Urlaub ist ein Fake.«
»So, so«, hauchte Rattner. »Ein Fake. Und was ist ein Fake?«
»Ein Schwindel. Ich will, dass wenigstens du es weißt. Nur für deine Ohren: Ich wurde kommandiert. Jemand plant vielleicht in Sachsen einen verheerenden Anschlag. Und ich soll rausbekommen, ob was dahintersteckt.«
Es dauerte eine geraume Weile, bis der alte Kommissar die Ansprache verdaut hatte. »Du also. Und da können die dich nicht allein hinschicken?«
»Mir gefällt das auch nicht. Doch sie sagen, ich wäre dadurch unauffälliger, ein unbedeutender Pauschaltourist, verstehst du?«
»Wer sind ›sie‹?«
»Das darf ich dir nicht sagen.« Sorokin zog einen einzelnen Schlüssel aus seiner Hosentasche. »Nimm ihn an dich. Damit kommst du in mein Haus. Geh einfach durch die Garage. Okay?«
»Kannst du nicht wenigstens eine Andeutung machen?«
Sorokin bewegte den Kopf einmal hin und her.
Der Kommissar schnaufte. »Glücklich macht mich das nicht, Tolik. Du kennst die nicht zu bändigende Neugier deines Großen. Lieber wäre es mir, ihr würdet gemeinsam den Urlaub genießen. Das Leben zieht dermaßen schnell an einem vorüber. Gerade war mein Hund noch ein niedlicher Welpe, schon muss ich ihn begraben. Verstehst du?«
»Dein Hund ist tot?«, fragte Sorokin erstaunt.
»Du russischer Dummkopf! Ich hab doch gar keinen Hund. Ich meine das nur so. Die Zeit vergeht wie im Flug. Jetzt sind deine Kinder noch klein und niedlich. Und schon bald musst du entscheiden, was du ihnen zur Hochzeit schenkst. Ich werde dich dran erinnern, wenn du mich fragst, was du ihnen schenken sollst.«
Sorokin dachte angestrengt nach. »Wenn ich den Auftrag nicht hätte, wären wir doch gar nicht in den Urlaub geflogen.«
»Du verstehst mich schon.« Rattner stand auf und klopfte Sorokin auf die rechte Schulter. »Pass gut auf. Auf dich, auf Kati und auf die Kinder. Okay?«
»Versprochen.«
»Falls ich dir helfen kann, ruf mich an. Okay?« Rattner wartete ein paar Sekunden auf die Antwort.
»Okay. Versprochen.«
Der Kriminalkommissar runzelte die Stirn. »Hast du dein Auto wieder irgendwem zum Testfahren gegeben?« Er spielte auf die unschöne Sache an, als er Sorokins Auto während dessen Abwesenheit im Straßenverkehr sah und deshalb jagen und beschlagnahmen ließ.
»Nein. Habe ich nicht. Außerdem stelle ich den Kombi am Flughafen ab. Also wundere dich nicht, wenn die Garage leer ist.« Sorokin erhob sich und überragte Rattner um einen Kopf. Dann drückte er den alten Kommissar an sich, täuschte zwei Wangenküsse vor und verabschiedete sich. »Pass du auch gut auf dich auf, Hans. Drück deine Frau von mir.«
»Mach’s gut, Tolik. Und grüß Kati und deine Plagegeister von mir.«
»Ich muss los. Kati wird schon mit Anton auf mich warten.«
Das moderne Telefon auf Rattners Schreibtisch klingelte aufdringlich. Sorokin verließ mit einem letzten Gruß das Büro.
»Hauptkommissar Rattner«, meldete sich der Kriminalist und lauschte. »Ja, wir kommen. Bringen Sie nichts durcheinander und fassen Sie nichts an. Das darf nur die Spurensicherung. Verstanden?« Er knallte den Hörer hin, ging zur Tür und brüllte auf den Flur hinaus: »Paul? Wo steckst du schon wieder? Wir haben zu tun!«
*
Fedor saß am großen Esstisch im Wohnzimmer. Jekaterina Sorokin war mit Anton wichtige Dinge einkaufen, von deren dringlicher Notwendigkeit sie bis vor wenigen Stunden nichts geahnt hatte. Sonnenmilch, Schwimmflügel, Medikamente … Auch der Vater hatte noch unaufschiebbare Sachen zu erledigen und deswegen die Mutter samt Anton am Einkaufszentrum abgesetzt. Deshalb waren Fedor und Natascha ganz allein zu Haus.
Der blinde Junge streckte die Arme aus und fast unauffällig berührten die Finger beider Hände den Aktenkoffer, der noch unheimlich neu roch. Allmählich näherten sich die Fingerkuppen dem linken Zahlenschloss. Es war auf 7 8 4 3 eingestellt, Fedors Fingerkuppen konnten die eingravierten Ziffern lesen. Mit einem Fingernagel versuchte Fedor den Riegel zu öffnen, doch der bewegte sich nicht. Also begann er, das erste Rädchen zu bewegen, stellte es rückwärts von der 7 bis zur 1.
»Was machst du denn da?«, fragte die altkluge Stimme der kleinen Natascha in unmittelbarer Nähe.
»Nichts«, antwortete Fedor. »Was ist, willst du fernsehen?«
»Geht nicht.«
»Du meinst wegen der Kindersicherung?« Fedor grinste. »Das ist ein Klacks. Warte, ich mach dir den Fernseher an.« Er streckte die rechte Hand aus, denn er wusste, dass Natascha ihm die Fernbedienung hinhalten würde, zeigte in die Richtung des Fernsehers, drückte auf den Bereitschaftsknopf und wartete fünf Sekunden. Dann gab er über die Tastatur der Fernbedienung die Ziffern 1 2 3 4 ein. Einen anderen Code hätte sich die Mutter wohl niemals merken können. Geräuschvoll meldete sich ein Fernsehprogramm. Fedor schaltete zu einem Kinderkanal um und legte die Fernbedienung auf den flachen Beistelltisch, der vor dem Sofa stand. »Okay?«
Natascha nickte, was Fedor nur ahnen konnte, und saß bereits erwartungsfroh und die Zöpfe zwirbelnd auf dem Sofa.
Fedor atmete auf, schlich zurück zum Esstisch und erfühlte erneut das linke Zahlenschloss des Koffers. Das zweite Rädchen drehte er von der 8 auf die 2, das dritte von der 4 auf die 0 und das rechte Rädchen von der 3 auf die 4. – Klick! Der linke Verschluss des Koffers sprang von ganz allein auf. Fedor kannte bestimmte Gewohnheiten des Vaters recht gut. Bei Zahlenkombinationen benutzte Sorokin fast ausschließlich die 1204. Am 12. April wurde Fedors Mama ermordet. Drei Monate nach Fedors Geburt.
Jetzt lauschte er zunächst, ob Natascha von seiner Aktion etwas mitbekommen hatte. Die kicherte heftig über den Schwammkopf und zappelte auf dem Sofa, das dabei leichte Quietschgeräusche von sich gab, die ein Sehender wahrscheinlich nicht wahrnehmen würde. Er widmete sich wieder dem geheimnisvollen, väterlichen Aktenkoffer.
Das rechte Zahlenschloss stand auf 6 4 4 4. Fedor stellte auch hier die 1 2 0 4 ein, doch der Mechanismus öffnete sich nicht. ›Wie klug von Papa! Zwei unterschiedliche Kombinationen! Auch das noch …‹ Im Gehirn des Jungen begann es zu arbeiten. Vielleicht hatte der Vater seinen Lieblingscode rückwärts eingegeben? Fedor ließ es nicht unversucht, hielt die Luft an und drehte fleißig an den Rädchen: 4 0 2 1. Doch der Verschluss blieb zu. Allerdings nicht mehr lange, denn Fedors Erleuchtung folgte sogleich. Das Zahlenschloss hatte auf 6 4 4 4 gestanden! Somit hatte der Vater nach dem Schließen des Koffers alle vier Rädchen gleichzeig mit dem Daumen verstellt! Und zwar um jeweils vier Ziffern! Sofort drehte Fedor die kleinen Rädchen auf 2 0 0 0. ›Logisch. Der Mord geschah genau am 12. April 2000.‹ Der zweite Riegel sprang auf. Einen Augenblick lang lauschte Fedor. Natascha kicherte noch immer über den Trickfilm, also stellte sie im Moment keine Gefahr dar.
Rasch hob Fedor den oberen Teil des Koffers an, gerade so weit, dass seine rechte Hand hineinkrauchen und alles abtasten konnte. Es waren Papiere darin. Die könnte er zwar einscannen und sich anschließend vorlesen lassen, doch das würde viel zu lange dauern. Später vielleicht. Dann fand Fedor ein Handy. Es schien ein sehr modernes Smartphone zu sein. Auch das ließ er in Ruhe. Doch den winzigen USB-Stick, der in einer schmalen Seitentasche steckte, den nahm er an sich, schloss dann leise den Koffer, ohne die Rädchen zu drehen, und schlich in sein Zimmer.
Der eigene Rechner lief ohnehin. Er war fast immer eingeschaltet. Geschickt steckte Fedor den Stick in einen USB-Anschluss und setzte sich das Headset auf. »Wollen Sie …«, fragte eine generierte Stimme, doch sie brach ab, denn Fedor hatte bereits die Enter-Taste gedrückt – Ordner öffnen!
»Eine Onlineverbindung ist notwendig«, krächzte die Computerstimme.
Fedor ging online.
Kurz darauf meldete sich der Computer erneut: »Code eingeben!«
Fedors Finger schwirrten über die Blindentastatur: »ameise1204«. Diesen Code benutzte der Vater praktisch immer, wenn es um Computer ging.
»Code angenommen. Sie sind jetzt auf der geschützten Seite https Doppelpunkt slash slash smi Punkt Sachsen Punkt gd172189 slash Ameise1204 Punkt htm slash …«
»Sächsisches Innenministerium«, flüsterte Fedor und lauschte weiter der ungeschickt und monoton sprechenden Stimme.
»Ihnen stehen folgende Ordner zur Verfügung: Erstens: DOC001. Wollen Sie …?«
Riesig war die Auswahl nicht gerade. Wieder drückte Fedor auf die Enter-Taste.
»Ihnen stehen im Ordner DOC001 folgende Dokumente zur Verfügung: Erstens: MAP001 Punkt PDF. Zweitens: MAP002 Punkt PDF. – Bitte wählen Sie das Dokument aus.«
»MAP001 Punkt PDF!«, raunte Fedor in das Mikrofon.
»Soll die Texterkennung durchgeführt werden?«
»Ja!«
Der Computer surrte kaum hörbar.
»Texterkennung nicht möglich.«
Fedors Stirn schlug ein paar unbedeutende Falten. Dann waren in diesem Dokument wahrscheinlich nur Bilder enthalten. Und die konnte ihm beim besten Willen niemand übersetzen. Er berührte die Zurück-Taste und sagte: »MAP002 Punkt PDF.«
»Soll die Texterkennung durchgeführt werden?«
»Ja, verdammt!«
»Texterkennung durchgeführt. Zielobjekt Doppelpunkt männlich Komma ce a Punkt 29 Komma benutztes Pseudonym Doppelpunkt Pilot112194 Komma ethnische Herkunft Doppelpunkt kroatischer Serbe Komma Gefahrenpotential Doppelpunkt sehr hoch Kontaktperson Doppelpunkt Božidar Seitenende Neue Seite Pilot112194 Mögliche BM Doppelpunkt Planungsunterlagen Anschlag Komma Kartenmaterial BRD Komma Sachsen Komma Hard Minus Software Schrägstrich MANPADS Klammer auf RBS 70 o Punkt RBS 90 u Punkt f Punkt …«