Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien

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Ein Fahrzeuggeräusch! Fedor riss sich das Headset vom Kopf. »Mist!« Er suchte auf der Tastatur, überhastet, drückte erst die falsche Taste, dann gelang es ihm, die Onlineverbindung zu unterbrechen und die Ordner auf dem eigenen Rechner zu schließen. Er zerrte den Stick regelrecht aus dem USB-Anschluss und ging zur angelehnten Tür seines Zimmers.
»Hallo! Wir sind wieder da!« Die Stimme der Mutter bohrte sich in Fedors Ohren. Er spürte Natascha an sich vorbeilaufen, machte vier feste Schritte, öffnete den Koffer, steckte den USB-Stick in die kleine Tasche im Koffer, schloss ihn, verstellte beide Nummernschlösser, ging zwei Schritte nach rechts und einen schräg nach vorn und ließ sich – ohne die Sitzfläche vorher abzufühlen – auf das Sofa fallen. Das Bein irgendeiner Barbiepuppe von Natascha stach Fedor derb in den Oberschenkel. Im gleichen Moment fühlte er eine Hand auf seinem Kopf.
»Na Großer, alles okay bei dir?« – Papa!
Sorokin schenkte dem rötlich gefärbten Gesicht seines Sohnes keine Beachtung.
»Klar doch. Und bei euch?«
»Auch alles okay.«
Fedor ließ die angesammelte Luft aus der Lunge. Dann zog er die Puppe unter sich hervor und warf sie mit Wucht auf den flachen Tisch neben die Fernbedienung.
Anton schwang sich neben Fedor auf das Sofa und rief: »Kuck, Auto neu!«
Fedor streckte die rechte Hand aus, um das neue Spielzeugauto zu erfühlen. Doch Anton traute ihm nicht.
»Mein Auto«, sagte er stattdessen.
»Dann lass es eben sein.« Fedor erhob sich.
Pilot112194 … kroatischer Serbe … MANPADS … RBS 70 … Božidar – das waren genau die Begriffe, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatten. Er würde viel recherchieren müssen.
»Heute geht es früh ins Bett!«, legte Jekaterina laut und deutlich fest. »Gleich nach dem … ähm Uzhin …«
»Abendessen«, half Fedor nach. »Wann genau gibt es das?«
Die Mutter berührte seine Schulter. »Du hast schon Hunger?«
»Nein«, antwortete Fedor. »Aber wenn es noch ein bisschen dauert, dann packe ich inzwischen mein Handgepäck zusammen.«
»In dreißig Minuten. Khorosho? Denk an das Gewicht, Fedor.«
»So viel wiegt mein iPad nicht.«
»Nimmst du nur dein iPad mit?« Mehr konnte die Mutter nicht sagen, denn Fedor hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben und war bereits in seinem Zimmer verschwunden.
Im Grunde genommen war sein Reisegepäck wahrscheinlich ähnlich zusammengesetzt wie das eines durchschnittlichen sehenden Jugendlichen in seinem Alter. Das Smartphone wurde wegen des blindenfreundlichen Apple-Tablets mehr und mehr vernachlässigt, denn mit dem iPad konnte Fedor ebenso telefonieren wie enorm wichtige Dinge aus dem Netz laden und Mitteilungen versenden. Natürlich war seine elektronische Ausrüstung etwas komfortabler als die eines durchschnittlichen reisenden Jugendlichen.
Fedor benutzte eine hochwertige Bluetooth-Braillezeile. Dieses schmale, einer Tastatur gleichende Bauteil ersetzte ihm die Monitoroberfläche, denn über ein kompliziertes Verfahren wurde die Schrift vom Monitor auf der Braillezeile in Brailleschrift wiedergegeben, die er mit den Fingern lesen konnte. Die Informationsaufnahme über das Lesen war aufwendiger als die über das Hören, wenn ihm die Computerstimme etwas vorlas. Jedoch konnte Fedor mit der Braillezeile selbst geschriebene Mitteilungen prüfen und natürlich die Schreibweise ihm wenig bekannter Wörter nachvollziehen. Die Stimme des Screenreader-Programms verlieh seinem iPad sogar einen Namen, denn Fedor nannte es Alex. Das kam daher, dass Alex die Stimme von VoiceOver war. Nach seinem Empfinden war es eine der besten synthetischen Stimmen. Nicht vollendet gut, aber immerhin befriedigend, mitunter fast etwas menschlich. VoiceOver war ein Programm, das auf dem iPad lief und dafür sorgte, dass dieser künstliche Alex alles erklärte, was zu sehen oder zu lesen war. Es sorgte auch dafür, dass Fedor sein iPad über Handgesten steuern konnte. Aktivierte Fedor durch einen Dreifachklick auf die Hometaste die VoiceOver-Steuerung und berührte das Display, so erklärte ihm Alex, was sich auf dem Display befand. Jede beliebige Taste konnte er dann mit einer Doppelberührung aktivieren. Mit bestimmten Fingerbewegungen, den sogenannten »Gesten«, konnte der blinde Junge problemlos das iPad bedienen. Noch genialer war für ihn die »Rotor-Funktion«. Bewegte er zwei Finger auf dem Display, als wollte er eine Cola-Flasche öffnen, dann aktivierte er die Rotor-Funktion, mit der er rasch durch Dokumente wandern konnte. Sehr wichtig war diese Funktion für Fedor, wenn er im Internet unterwegs war. Er arbeitete sich schneller durch die verschiedensten Seiten als viele seiner nichtblinden Freunde. Durch die Berührungsoberflächen der neuen mobilen Gerätegenerationen musste Fedor sich völlig umgewöhnen und eine zweite Art der Bedienung lernen, denn eine Tastatur gab es am iPad nicht. In der Schule hatte er das Zehnfingerschreiben an der Blindentastatur annähernd perfekt gelernt, doch das half ihm bei einem Touchscreen leider nicht weiter. Inzwischen kam Fedor mit den Gesten jedoch so gut zurecht, dass Stefan stets staunte, wenn Fedor mit dem iPad arbeitete oder im Netz surfte.
Nachdem Fedor den Ladezustand aller elektronischen Geräte pedantisch geprüft hatte und endlich davon überzeugt war, dass er eine Speicherkarte mit genügend MP3-Musik und Hörbüchern gefüllt hatte, packte er alles ordentlich und vorsichtig in seinen Rucksack und stellte diesen neben die Zimmertür. Dokumente und Geld trug er gewöhnlich in einem Brustbeutel. Anschließend prüfte Fedor seinen Langstock und stellte ihn neben den Rucksack.
In diesem Moment rief es: »Uzhin!« Die Mutter verbesserte sich sofort: »Ich meine Abendessen!«
*
Ein paar Stunden zuvor, etwa zwanzig Kilometer von Fedors Zuhause entfernt: Hans Rattner, Hauptkommissar der Mordkommission Leipzig, stieg zu seinem immerhin um ein Jahr jüngeren Untergebenen Kriminalobermeister Paul Meisner in den Einsatzwagen und schlug derb die Beifahrertür zu.
»Der Tag fing so gut an«, stellte Meisner fest.
Rattner zuckte mit den Schultern. »Ausgerechnet in der Eisenbahnstraße«, raunte er. »Was ist denn da wieder los?«
Meisner stöhnte. »Schnall dich lieber an, nicht dass uns noch die Polizei erwischt.«
Es dauerte eine geraume Weile, bis Rattner mit dem Gurt zurechtkam. Wahrscheinlich dachten die beiden Beamten in diesem Augenblick des Beginns einer neuen Ermittlung das Gleiche. Vor einigen Tagen glaubten zwei Kollegen ihren Augen nicht zu trauen, als sie nach einer Routinekontrolle in Zivil die Leipziger Multi-Kulti-Meile Eisenbahnstraße abliefen und dabei notgedrungen einen Iraner beobachteten, der es sich gerade mit einem Teppich auf dem Gehsteig bequem machte. Als sie genauer hinschauten, entdeckten die beiden Beamten ein buntes Sortiment an Drogen und Zubehör. So etwas hatten selbst die Drogenfahnder noch nicht gesehen. Als sie den Iraner zur Rede stellen wollten, zückte er sofort ein Teppichmesser. Zum Glück verstanden die Beamten ihr Handwerk besser als der Drogendealer und konnten ihn daher blitzschnell entwaffnen. Später stellte sich heraus, dass die Tütchen, die der Mann in seinem kleinen Freiluft-Lädchen feilbot, mengengerechte Portionen Heroin und Cannabis enthielten. Der Mann wurde festgenommen und wegen illegalen Drogenhandels angeklagt. So ernst die Geschichte auch war, in den Polizeidienststellen sorgte sie für sehr viel Gelächter.
Rattner brachte es damals auf den Punkt: »Unsere Gesellschaft verdummt zusehends. Warum sollte die Verdummung ausgerechnet einen Bogen um die Kriminellen machen?«
Der Hauptkommissar öffnete die Mappe auf seinem Schoß, entnahm ihr das einzige Blatt Papier und versuchte, die Schrift darauf zu lesen. »Wackle nicht so rum!«
Der arme Paul Meisner umfuhr bereits nahezu jedes der unzähligen Schlaglöcher. »Das bin nicht ich, das ist die Straße«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »Und, was sagst du dazu?«
»Scheint Arbeit zu geben. Hier steht wortwörtlich: ›Notarzt wurde 11:16 Uhr über Notruf zu Hinterhaus gerufen. Er fand einen Toten vor, der nicht mehr wiederbelebt werden wollte. Männliche Leiche, südländisch, zirka vierzig Jahre. Tötungsdelikt durchaus möglich.‹ Welch primitiver Idiot hat denn so etwas geschrieben?« Rattner packte den Zettel zurück und Meisners Gesicht färbte sich rosa.
»Ich. Das war eine Telefonmitschrift. Entschuldige bitte!« Dann schwieg er beharrlich.
»Bist du jetzt eingeschnappt oder was?«, fragte Rattner drei Ampeln später.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Kriminalobermeister. »Du kannst einen aber auch manchmal schwächen.«
»Schwächen?« Rattner grinste. »Merkwürdig. Das sagt meine Frau seit ein paar Jahren auch ständig.«
»Volltrottel!«, rief Meisner und meinte damit einen Autofahrer, welcher schlagartig von der rechten in die linke Spur gewechselt hatte. Und zwei Spuren lagen noch dazwischen. Sie ließen den Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs hinter sich und fuhren durch eine kurvenreiche Straße, die in die Eisenbahnstraße münden würde. »Der Satz ›Du kannst einen aber auch schwächen‹ umschreibt lediglich mit netten Worten, dass die Senilität bei dir heftig zugenommen hat. Jetzt weißt du auch seit wann.« Nun grinste Meisner. Er versuchte, irgendwelche Hausnummern zu erkennen. »Das mit dem Häusernummerieren haben die hier noch nicht richtig verstanden.« Abrupt trat er auf die Bremse, lenkte scharf links ein und wendete fast auf der Stelle. Das geschah etwas sprunghaft, denn die Straßenbahntrasse hatte man hier leicht erhöht, um die freie Fahrt der Tram zu gewährleisten. Einige Sekunden später stand der Wagen zur einen Hälfte auf dem Fußweg und zur anderen Hälfte zwischen zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei. »Lass bloß nichts im Auto liegen, sonst kann ich gleich einen neuen Satz Scheiben bestellen.«
»Du und deine Vorurteile gegenüber fremdländischen Mitbürgern.« Rattner schüttelte den Kopf und schaute bedächtig an der Fassade hinauf. Unmittelbar über einem Laden im Erdgeschoss hing ein buntes Schild mit zwei Wörtern in kyrillischer Schrift: »Cрпски специалитети«. Weil Rattner aus früheren DDR-Zeiten noch halbwegs russisch beherrschte, buchstabierte er: »Srpski Specijaliteti. – Sag mal, was ist denn Srpski nun wieder für ein Land?«
Meisner beendete soeben die Kontrolle der Sicherheit seines Fahrzeuges. »Srpski? Sag mal, weißt du denn überhaupt irgendetwas? Srpski! In diesem Laden gibt es Serbische Spezialitäten. Außerdem siehst du das auch auf dem Schild da: Pasulj, Sarma, Bela, Vesalica, Proja und Slivovic.«
Rattner öffnete die Haustür. »Immerhin: Slivovic kenne ich ganz gut. Brennt im Hals und wärmt von innen.«
»Mir war völlig klar, dass du nur den Pflaumenschnaps kennst.«
»Ich dachte immer, der wäre tschechisch.«
»Da hast du falsch gedacht. Die meisten Sachen gibt es überall im slawischen Raum.«
Im düsteren Hausflur wurden Rattner und Meisner von einer Streifenpolizistin begrüßt. »Morgen, die Herren. Der Tatort befindet sich vierzehn Schritte geradeaus auf dem Hinterhof.«
Beide knurrten gleichzeitig ein »Danke!« und verließen den Hausflur durch den Hintereingang.
Auf dem Hinterhof herrschte reges Treiben.
Einer der Herren in Blau begrüßte die Kriminalisten mit den Worten: »Den Weg hätten Sie sich praktisch sparen können.« Er zeigte auf einen Mann, welcher unmittelbar neben der Hauswand in einer Blutlache lag. »Das Opfer. Nebojša Suker, 49, deutsche Staatsbürgerschaft seit acht Jahren, der Vater des Ladeninhabers.« Und dann auf eine Frau, die am anderen Ende des Hofes auf einer umgedrehten Holzkiste saß und mit Handschellen an den Handgelenken versuchte, eine Zigarette zu rauchen. »Der Täter – oder besser die Täterin. Kristina Krajic, 28, hat dem Opfer mehrmals ein Filetiermesser in den Hals gerammt. Sie hat keine Aufenthaltsgenehmigung.«
Zwei Leute in modernen Weltraumanzügen betraten den Hof. Die Spurensicherung. Beide grüßten Rattner, indem sie kurz winkten, und gingen sofort zu der Leiche, um die sich niemand wirklich kümmerte.
»Eine Frage noch: War diese Kristina hier, als Sie am Tatort eintrafen?«
Der Polizist verneinte. »Niemand hatte was gesehen, wir haben ringsherum fast alle Leute gefragt. Wer hier wohnt und arbeitet, ist wie die drei berühmten Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Als wir mit dem Absperren beschäftigt waren, kam Kristina Krajic auf den Hof getaumelt, setzte sich und erzählte irgendwas Unverständliches. Irgendwann sagte sie dann in gebrochenem Deutsch: ›Ja. Ich habe das getan. Sorry.‹ Das war alles. Seitdem schweigt sie.«
»Haftbefehl?«
»Ein vorläufiger wurde bereits mündlich erteilt. Der Staatsanwalt meinte …«
Mit einer Handbewegung unterbrach Rattner. »Ist mir egal, was der Staatsanwalt meinte. Lassen Sie alle Spuren sichern. Ich will die Namen und Adressen von allen Leuten, die hier wohnen, und auch die von den Angestellten, die im Laden arbeiten. Paul, du hörst dich um. Die vermeintliche Täterin nehme ich mit zum Verhör. Ich brauche jemanden, der mich ins Präsidium fährt.«
Der Polizist reagierte sofort: »Mike! Du bringst den Hauptkommissar und die Verdächtige zum Verhör. Okay?«
»Was ist mit dem Sohn des Opfers? Wie hat der sich verhalten?«, wollte Rattner wissen.
»Pan… Pantelija Suker? Der sitzt mit der gesamten Familie oben in seiner Wohnung und scheint sich zu beraten. Ehrlich gesagt, wie die absolute Trauer wirkte das nicht.«
»Paul!«, rief Rattner dem Kollegen hinterher. »Mit diesem Pantelija Suker will ich auch unbedingt sprechen! Sieh zu, dass du ihn ins Präsidium bringst.«
»Nur ihn oder die ganze Familie?«
»Paul!«
»Ich mach schon.« Meisner winkte ab.
Minuten später saß Rattner auf der Rückbank eines Einsatzfahrzeuges neben der jungen Frau. Sie sagte kein Wort und wirkte wie in einem tiefen Traumzustand. Kristina Krajic war ungeschminkt, einfach gekleidet mit Jeans und Bluse, ihr langes, dunkles Haar lag offen über den Schultern und sie trug keinerlei Schmuck.
Internationaler Luftraum
18. August
Stokan Vujasinović, ein knapp fünfzigjähriger Serbe, saß am Bullauge des Fliegers und schaute hinaus auf den leeren, langweiligen Flughafen, dessen Areal zwischen Leipzig und Halle in Mitteldeutschland lag. Hier starteten und landeten nicht nur unzählige DHL-Flieger. Auch die NATO, speziell die Amerikaner, nutzte diesen östlichen deutschen Flugplatz, um Versorgungsgüter, Waffen und frische, junge Kämpfer in ihre Besatzungsgebiete zu bringen.
Unbewusst verzog der stoppelbärtige Mann das Gesicht, an dessen Kinn eine trotzdem gut zu erkennende Narbe prangte.
»Hallo«, sagte eine junge Stimme.
Vujasinović schaute nach oben. Na prima! Ein deutscher Jugendlicher auf dem Weg in den Urlaub. »Hey, pozdrav!«, antwortete der Serbe in einer englisch-serbischen Wortkreation, die er sehr häufig benutzte.
»Ich habe 12 B. Ist das der Sitz in der Mitte?«, fragte der Junge, der einen Rucksack in den Händen hielt, den er zunächst auf dem Sitz neben dem Gang abstellte und schließlich öffnete.
»Ja, B ist in der Mitte. Was ist, willst du gern ans Fenster? Mir ist das egal.«
Der Junge lächelte. »Mir auch. Ich sehe eh nichts. Außerdem, bei Final Destination, also, ich meine beim ersten Teil, da sind zuerst alle die rausgeflogen, die direkt an den Fenstern saßen. Ich meine, als das Flugzeug gleich am Anfang vom Film explodiert ist.«
Stokan Vujasinović betrachtete das Gesicht des Jungen und erblickte nun auch den Blindenstock. »Was denn, du bist blind?«, fragte er leise und mit deutlich erkennbarem Akzent.
Fedor schnitt eine für ihn typische, fast einstudiert wirkende Grimasse. »Man kann eben nicht alles haben. Ich komm aber ganz gut damit zurecht.«
»Du bist blind und hast trotzdem Final Destination gesehen? Wie heißt du? Fliegst du ganz allein nach Kroatien?«
Wenigstens Vujasinovićs letzte Frage wurde augenblicklich beantwortet. Ein verdammt kräftiger Kerl schob sich durch den schmalen Mittelgang und fragte den Jungen: »Ich leg den Rucksack ins Gepäckfach. Brauchst du noch was, Fedor?«
Der Junge nahm aus dem geöffneten Rucksack das iPad, die Bluetooth-Braillezeile und das Headset heraus und verschloss den Rucksack wieder. Der Vater verstaute das Handgepäck und den Langstock, fuhr dem Jungen über den Kopf und meinte: »Wenn was ist, dann komm vor zu uns. Beim Start und bei der Landung musst du dein iPad ausmachen.«
»Papa! Ich fliege doch nicht das erste Mal.« Fedor setzte sich auf den mittleren Platz und nahm das iPad und die Braillezeile auf den Schoß. Noch einmal spürte er ein sanftes Klopfen auf seiner Schulter, worauf er flüsterte: »Ich komm schon klar, Papa.«
Sorokin nickte dem Mann neben Fedor zu und fing Anton auf, der gerade durch den Gang flitzte und sehr laut nach ihm rief. Der Hüne hob den kleinen Kerl hoch und trug ihn zurück zu seinem Platz.
»Die meisten wissen das nicht. Es gibt auch Fernsehen für Blinde. Da wird einem erklärt, was gerade zu sehen ist. Das sind manchmal verdammt viele Informationen auf einmal, vor allem dann, wenn die Schauspieler gerade reden. Ist aber besser als nichts«, erklärte der Junge.
»Du heißt also Fedor? Und wie noch?«
»Sorokin.«
»Und wo geht’s hin?«, fragte der Mann neben ihm, während er aus dem Bullauge schaute und einen Gepäcktransporter beobachtete, der mit drei leeren Hängern über den Beton raste.
»Ins DVR-Hotel in der Ferienanlage Borik«, antwortete Fedor und erklärte sofort: »Wir sind fünf. Sie hatten aber keine zusammenhängenden Plätze mehr. Ist aber nicht so schlimm. Anton und Natascha können nämlich mächtig nerven.«
»Ihr macht Urlaub in Kroatien?«
»Ja.« Fedors Finger fuhren über das iPad, das noch ausgeschaltet war, seine Wangen färbten sich ein wenig rot. »Urlaub.«
»Euren Namen nach seid ihr aber auch nicht aus Deutschland?«, fragte Vujasinović.
»Ja und nein. Wir sind offiziell Deutsche. Aber ich wurde in Russland geboren, weit im Osten, am Ural. Und Mama und die beiden Kleinen kommen aus Moskau.«
»Du sprichst gut Deutsch. Bei dir hört man kein bisschen, dass du aus Russland stammst. Fedor heißt du?«
»Ja. Ich war noch ziemlich winzig, als ich Deutscher wurde. Und Sie?« Der Junge drehte seinen Kopf ein wenig zu diesem Mann hin, nicht, um ihn zu sehen, sondern um ihn zu riechen. Er kannte den Duft von dessen Parfüm. Jekaterina hatte ihrem Mann zu Weihnachten ein Duftwasser geschenkt. Das war nicht so gut. Allerdings brachte sie einige Gratisproben mit. Und die hatte Fedor getestet. Eine gefiel der neuen Mutter besonders gut. Und auch Fedor genoss den Geruch, der tagelang an ihm haften blieb. Das Parfüm trug den lustigen Namen »Bang Bang« und roch nach verschiedenen Dingen, die Fedors feiner Geruchssinn speicherte. Er atmete in diesem Moment durch die Nase ein und verdrängte die meist unangenehmen Gerüche im Inneren des Fliegers: die des Kaffees, die der Toiletten und vor allem die der angstschwitzenden Passagiere.
»Ich heiße Stokan Vujasinović. Aber sag einfach Stokan zu mir.«
Die Nasenflügel des blinden Jungen bebten kaum merklich. Er roch frische Zitrone. »Stokan?«, flüsterte Fedor. »Ist das ein kroatischer Name?«
»Nicht nur.«
Nun erkannte Fedor eine Fenchelnote. »Sind Sie denn überhaupt aus Kroatien?«
»Nein. Ich fliege geschäftlich hin. Ich bin aus Novi Sad. Kennst du die Stadt?«
Eine herbe, erdige Note: Fedor hatte einst lange suchen müssen, bis er herausfand, zu welcher Pflanze dieser Duft gehörte. Es handelte sich um schwarzes Kardamom, einem in Nepal und Indien angebauten Ingwergewächs, dessen Samen zu einem Gewürz verarbeitet wurde, das deutlich nach Nadelholz roch und schmeckte. Die Parfümindustrie fand den Geruch männlich und setzte ihn dezent ein. Fedor erkannte den Geruch aber auch bei bestimmtem Gebäck wieder, zum Beispiel bei Pfefferkuchen und Spekulatius. – »Novi Sad. Ich glaube ja. Das liegt doch in Serbien? An …, an der Donau?«
»Korrekt. Woher weißt du das von meiner Geburtsstadt?«
Zuletzt war da ein Hauch von Muscon, dem künstlich hergestellten Duftstoff des Moschus’. »Aus der Schule«, antwortete Fedor und schien nun wieder die Rückenlehne des Sitzes vor sich anzustarren.
»Und was haben sie euch erzählt in der Schule? Was sagen sie über Novi Sad?«
»Ich weiß nicht mehr genau. Es spielte – glaube ich wenigstens – eine strategisch wichtige Rolle im Jugoslawienkrieg.«
Jemand aus dem Cockpit meldete sich, erzählte die standardmäßigen Dinge, wie vor jedem Flug üblich, und kündigte den Vortrag der Stewardessen und Stewards zu den Sicherheitseinrichtungen im Flugzeug an.
Stokan Vujasinović beugte sich jetzt herüber. Seine Lippen kamen näher an Fedors linkes Ohr. »Novi Sad ist eine Stadt im Herzen von Serbien. Sie liegt in einer wunderschönen Gegend an der Donau. Strategisch wichtig? Vielleicht dachten das die Leute von der NATO. Sie wurde von den NATO-Kampfmaschinen völlig zerbombt. Sinnlos zerbombt. Ob sie nun eine strategische Rolle spielte oder nicht, die Stadt wird sich nie wieder davon erholen. Hörst du? Sag das deinem Lehrer.« Er lehnte sich wieder zurück. »Es ist trotzdem eine schöne Stadt. Fast alles wurde wieder aufgebaut. Vor allem die Autobahnbrücken.« Dann schwieg er.
Der letzte Passagier betrat den Flieger. Fedor konnte es nicht sehen, doch schon bald fühlen, denn es handelte sich dabei um eine etwa siebzigjährige, ausgesprochen gut beleibte Dame, deren Ausdünstungen den Geruch des Bang Bang schon bald überdeckten. Sie bat Fedor sofort darum, dass die Armlehne zwischen dem zweiten und dritten Sitz nicht heruntergeklappt würde, worauf sich der Junge einließ. Alsdann verdrängte sie ihn schon bald in Richtung des Platzes von Stokan Vujasinović, der Fedors Problem erkannte und seinerseits die Armlehne nach oben klappte. Gemeinsam belegten Fedor und Vujasinović nun anderthalb Plätze.
»Soll ich dir was verraten? Ich habe schreckliche Angst vor dem Fliegen«, hauchte Vujasinović in Fedors Ohr. »Weil ich jedes Mal befürchte, dass so was Fettes neben mir sitzen könnte. Debela kučka!«
Der Flieger rollte eine lange Strecke zur Startbahn, überquerte dabei sogar eine Autobahn. Das konnte der Junge jedoch nicht sehen. Stattdessen fragte er: »Was ist debela kučka?«
Vujasinović betrachtete grinsend die Dame neben Fedor und sagte laut und deutlich: »Debela kučka ist zhira suka.«
Fedor versuchte sich das Lachen zu verkneifen, was ihm nicht gänzlich gelang. Doch die Triebwerke heulten in diesem Moment auf und das Flugzeug erhöhte rasch die Geschwindigkeit. Überall klapperte es, Fedors Lachen war nicht zu hören, der Druck in den Ohren stieg, die Maschine war kurz darauf in der Luft.
»Zhira suka« bedeutete in der russischen Sprache so viel wie »fette Schlampe« im Deutschen oder eben »debela kučka« in Serbien.
»Sprechen die Menschen in Serbien und Kroatien verschiedene Sprachen?«, fragte Fedor, als ein wenig Ruhe eingekehrt war, während das Flugzeug noch aufstieg und die Dame neben ihm merkwürdige Töne von sich gab.
»Sprechen Sachsen und Bayern verschiedene Sprachen?« Vujasinović antwortete mit einer Gegenfrage.
Jetzt grinste Fedor. »Im Grunde genommen sprechen sie schon sehr unterschiedlich.«
»Nein, nein, nein. Sachsen und Bayern sprechen die deutsche Sprache. Dialekte machen den Unterschied. Und alle, die früher in Jugoslawien zusammengepfercht waren, sprechen Serbisch, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Es gibt aber auch bei uns verschiedene Dialekte. Nur die Zeichen sind anders, kyrillische bei uns oder eben lateinische.«
»Also verstehen die in Kroatien mich, wenn ich ›debela kučka‹ sage?«
»Aber bestimmt verstehen die das. Du würdest es sofort merken, wenn man dir ein blaues Auge verpasst. Auch in Kroatien lässt sich niemand gern beschimpfen. Schon gar nicht die Frauen. Ich bilde mir ein, sie haben so einen – wie sagt man gleich – so einen Charme, den auch italienische Frauen haben.«
»Und wie sind italienische Frauen?«
Vujasinović grinste. »Na, du kannst Fragen stellen. Definitiv haben sie immer Recht. Und definitiv ist jede Frau die schönste Frau. Wenigstens behauptet das jede Frau von sich.«
»Auch die debela kučkas?«, fragte Fedor.
»Auch die debela kučkas«, antwortete der Serbe. »Ich vermute, gerade die debela kučkas.«