Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien

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»Dann werde ich debela kučka wahrscheinlich nicht so oft sagen können.« Fast klang es, als wäre Fedor ein wenig enttäuscht.
»Glaube mir, das ist auch besser so.«
»Wie ist es sonst so in Kroatien?«
»Sonst?« Jetzt bedachte Vujasinović die Fragen des Jungen mit einem Lächeln. »Sonst ist es ganz nett, aber nicht so sehr schön wie Serbien. Kroatien hat eben das Meer in der Nähe. Und damit gibt es dort mehr Urlauber, die Geld ins Land bringen. Deshalb ist es für die Europäische Union interessanter als Serbien.«
»Schade nur, dass ich das Meer nicht sehen kann.«
»Ja. Das ist sehr schade. Wir beide können es aber nicht ändern. Ein Sprichwort bei uns sagt: ›Kako je, tako je!‹«
»Kako je, tako je? Das klingt lustig. Und was heißt das?«
»So wie es ist, ist es.«
Ein Weilchen schwieg der Junge. »Trotzdem«, sagte er schließlich, »jetzt kann ich mir alles ganz gut vorstellen.« Zufrieden nickte er vor sich hin. »Somit beherrsche ich also schon zwei Wörter Serbisch oder eben auch Kroatisch und einen Spruch. Kako je, tako je.«
»Zwei weitere Wörter sind wichtig und ganz einfach: Da und Ne. Ja und Nein. Und noch die zwei: Molim und Hvala – Bitte und Danke. Oder du sagst ›Hvala Vam‹.«
Fedor sprach nach. »Hvala Vam.« Das Hvala wurde am Anfang so ausgesprochen, wie Anton jedes »H« am Wortanfang aussprach.
»Genau. Und das heißt ›Vielen Dank‹.«
»Hvala Vam«, wiederholte Fedor, »für den Crashkurs in Serbisch und Kroatisch.«
Ein Tonsignal erklang.
»Molim, molim. Jetzt kannst du jedenfalls dein iPad benutzen«, sagte Vujasinović.
»Ich weiß«, antwortete Fedor. »Die Anschnallzeichen sind aus. Das Bingbong hat es mir verraten.«
Leipzig
18. August
»Ist sie schon hier?« Rattner erschien frühzeitig im Büro. Meisner war jedoch vor ihm da.
»Wurde gerade aus der Untersuchungshaft rüber gebracht. Zimmer 107«, antwortete der Kriminalobermeister und warf einen Stapel Protokolle auf Rattners Schreibtisch. »Das Lesen kannst du dir sparen. Niemand hat irgendwas gehört oder gesehen.«
»Weißt du, was merkwürdig ist?«
»Was denn?«, fragte Meisner und sortierte Dokumente.
»Anatolij Sorokin … Er fliegt heute nach Kroatien. Mit der ganzen Familie.
»Und?« Der Kriminalobermeister versuchte, einen tieferen Sinn in Rattners Worten zu entdecken.
Sein Chef hielt die Wahrheit zurück und beschloss, etwas zu sagen, was er eigentlich nicht sagen wollte. »Na ja: Serbien, Kroatien … Ist doch schon ein merkwürdiger Zufall.«
»Deine Probleme möchte ich haben.«
Rattner betrachtete die Protokolle, ohne sie wirklich zu lesen. »Ist das Mädchen heute gesprächiger?«, fragte er schließlich. Am Vortag war aus der vermeintlichen Täterin kein Wort herauszuholen gewesen, so sehr Rattner auch all seinen Charme zu versprühen versucht hatte. »Ist der Dolmetscher da?«
»Die Dolmetscherin. Sie ist da. Vom Staatsanwalt bestellt.«
»Hat sie den Mann tatsächlich umgebracht?«, fragte Rattner.
»Ich bin zwar kein Gott, und gerade du sagst ständig, dass ich keine Ahnung hätte, aber ich glaube, dass sie es war. Zudem gibt es in etwa fünfzig handfeste Beweise dafür.«
Rattner nickte, dann erhob er sich. »Okay. Du bleibst draußen. Die Dolmetscherin soll in fünf Minuten dazustoßen. Und ab da soll mitgeschnitten werden.«
Meisner fiel noch etwas ein: »Der Sohn des Opfers kommt übrigens gegen vierzehn Uhr. Hat ein wenig gedauert, bis er einverstanden war. Er sagte auch erst zu, als seine Familie nicht mehr mithören konnte.«
Gemeinsam verließen die beiden Herren älteren Semesters das Büro. Meisner blieb im technischen Vorraum, wurde dort von einer jungen Zivilangestellten unterstützt, während Rattner den kargen Verhörraum betrat.
Wie ein Häufchen Elend saß Kristina Krajic am Tisch, die Hände in Handschellen lagen vor ihr auf der Tischplatte.
»Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte Rattner.
Zu seiner Überraschung nickte sie.
»Milch und Zucker?«
Nun schüttelte sie den Kopf ein wenig.
Rattner öffnete die Tür. »Bringt mir mal bitte zwei Kaffee, einen ohne alles, einen mit allem. Und gebt mir die Schlüssel für die Handschellen.«
Letztere warf ihm die Kollegin mit den Worten zu: »Das ist gegen die Vorschriften. Den Kaffee bring ich gleich.«
Dankbar nickte Rattner. Im Zimmer trat er seitlich an die Frau heran und nahm ihr die Handfesseln ab. Dann setzte sich der Hauptkommissar ihr genau gegenüber hin.
»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er nach einer Minute des Schweigens.
»Eine bisschen«, antwortete sie. »Nicht sehr gut, leider.« Die Stimme der jungen Frau klang angenehm und keineswegs unsicher.
Rattner kratzte sich unablässig am Kinn. »So, so. Ein bisschen. Nachher kommt eine vereidigte Übersetzerin. Sie wird uns unterstützen. Ist das okay?«
Erneut ein kurzes Nicken.
Der Kommissar sah den Schatten hinter dem Milchglas der Tür, ging hin, öffnete sie und nahm die beiden Kaffeebecher entgegen. Den dunklen stellte er der Frau vor die Nase. »Bitte.«
Ein Nicken. Sie blickte wie erstarrt den Kaffee an.
»Können wir reden?«, fragte Rattner.
Noch einmal bewegte sich der Kopf, dann erst musterte sie diesen uralten, deutschen Beamten ganz genau.
Der hatte sich wieder hingesetzt. Er sprach sehr langsam, damit sie seine Worte besser übersetzen konnte. »Weshalb haben Sie sich gestellt?«
Sie antwortete stets erst nach einer kurzen Denkpause, redete nach den Pausen jedoch sehr schnell. »Ich nicht will jagen mir lassen.«
»Wer jagt Sie denn?«
»So ich nicht zurückgehe, deutsche Polizei mich jagt. Dann serbische Polizei mich jagt. Und wer weiß noch.«
Es dauerte einen Moment, bis Rattner glaubte verstanden zu haben, was sie mit ihrer Antwort meinte.
»Sie müssen nicht auf meine nächste Frage antworten. Haben Sie Nebojša Suker mehrmals in den Hals gestochen, sodass er an seinen Verletzungen sterben musste?«
Das obligatorische Nicken folgte.
Rattner pulte zunächst im Ohr und trank dann von seinem Kaffee, der lediglich lauwarm war. »Und …, warum haben Sie das getan?«
»Vielleicht Sie hätten das auch gemacht, wenn Sie stecken müssen in meiner … Wie sagt man Deutsch zu prošlost?« Ihre warmen, braunen Augen schauten Rattner fragend an.
»Haut?«
»Ne.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Rattner, den Hauch eines Lächelns gesehen zu haben. »Was ist vorbei. Das Wort ich meinen.«
»Vergangenheit?«, riet der Kommissar.
Ein Nicken. Dann plötzlich: »Nebojša sollte totmachen mich. Ich nur war sehr, sehr schnell. Ich lang und viel lernen, was ich machen. Ich genau wissen, was Stokan Nebojša erledigen lassen!«
»Stokan? Wer bitte ist Stokan?«, fragte Rattner sofort.
Ihre Augen blitzten plötzlich auf, ihre Stimme war geladen. »Ich überall suchen nach Stokan und Todor. Osamnaest godina! Verstehen? Achtzehn Jahre ich suchen. Ja! Totmachen ich Stokan und den Todor – mit große Freude in Herzen ich das tun. Osamnaest dugih godina! Stokan merken, ich gefunden haben ihn. Stokan eine erbärmliche Feigling, aber schicken Nebojša Suker, mich machen sollen sehr kaputt.«
Es klopfte an der Tür. Rattner erhob sich, während er ihre letzten Worte zu verdauen versuchte, und öffnete die Tür. Eine ältere Dame erschien, schmuck, füllig und übertrieben geschminkt. Die Übersetzerin.
»Dobro jutro! Guten Morgen. Ich soll bei der Übersetzung behilflich sein.« Wegen ihrer kräftigen Stimme wirkte ihr Auftritt wie ein Überfall.
Bevor Rattner auch nur die Hand geben konnte, hatte Kristina Krajic bereits etwas gezischt und die Übersetzerin hatte darauf geantwortet.
Die vermeintliche Mörderin erhob sich ruckartig. »Bitte nicht diese Frau!« Sie sprach hasserfüllt und betonte jede Silbe: »Ona je srpski žena!«
Während Rattner über ›srpski‹ nachdachte und feststellte, dass dies offensichtlich etwas mit Serbien zu tun haben könnte, ging die Dolmetscherin zurück zur Tür.
»Entschuldigen Sie. Das habe ich nicht nötig. Bitte lassen Sie mich raus. Manchen Leuten ist nicht zu helfen.«
»Aber vierzehn Uhr brauche ich Sie ganz bestimmt.« Rattner ließ die Frau gehen, entschuldigte sich förmlich und gab seinen Kollegen im technischen Raum das Zeichen, von nun an das Gespräch mitzuschneiden.
Nachdem die Frau verschwunden und wieder Ruhe eingekehrt war, setzte sich Rattner auf seinen Stuhl, schob den kalten Kaffee weit weg und schaute Kristina Krajic an.
»Ich verstehe Sie nicht. Ich bin hier, um die Wahrheit herauszufinden. Und diese Frau hätte uns dabei helfen können, damit ich aus Ihren reichlich verwirrenden Worten klug werde. Warum musste sie gehen?«
»Sie eine serbische Frau. Ich nicht wissen kann, ob sie oder die Familie von Frau kooperiert mit Stokan- oder mit Nebojša-Familie.«
»Sind Sie nicht auch aus Serbien?«
»Ne!« Blitze schossen aus den Augen der Frau. »Ich sein Kroatin.«
»Was haben diese Leute Ihnen angetan, dass Ihr Hass so gewaltig ist?«
Sie sagte kein Wort und nickte auch nicht.
»Hat es mit dem Krieg in Ihrer Heimat zu tun?« Rattners Stimme hob sich ein wenig. »Sie müssen mir schon helfen, wenn ich Ihnen helfen soll.«
»Achtzehn Jahre …« Kristina Krajic beugte sich ein wenig nach vorn. »Ja, es kommen wegen Krieg«, flüsterte sie. »Aber Krieg machen … ich nicht wissen die deutsche Wort … od tih barbara!«
»Barbara? Meinen Sie, Krieg macht Barbaren?«
Sie nickte. »Sie sehr, sehr wenig kennen meine Krieg?«
Rattner zog nun den Kaffeebecher wieder zu sich heran und trank ihn aus. »Ich erinnere mich an die Nachrichten von damals. Mehr weiß ich leider nicht.«
»Sie können hören und sie dürfen lernen. Ich war eine ganz kleine Kind mit acht Jahre, als das stattfand, was Krieg ist. Serben eroberten mein Heimat in Kroatien. Dann mein Papa große Angst, flüchtet mit ganze Familie, mit Mama und großer Bruder, in petsto Kilometara, ist fünfhundert, weit, weit weg. Durch ganze bosnische Land. Familie von Mama dort. Sagt, alles okay. Ja. Sagt, alles okay dort und wunderbar. Ist ja Zone von United Nations dort, auch wenn nicht weit bis Serbien.« Sie lachte höhnisch. »Oh ja, alles okay dort! Meine Onkel ist Name Kemal Kabilowić, seine schön Haus und Feld in Likari, ganz in Südost von Bosnien, fast Serbien. Ja, ja. Erst alles okay und dann serbische Armee kommt. Viel schießen mit großen Waffen und kleinen, so peng, peng, immer wieder, wo nur sind Zivilisten. Plötzlich aber alle sagen United Nations macht nur noch Schutz für alle in Potočari. Und jetzt alle gehen nach Potočari, wieder alles gut dort, da ist die Blauhelm, machen Schutz für alle. Ist eine Lager von Holland. Ich genau wissen, ist 11. Juli 1995, alle Familie gehen von Hof von Onkel weg. Ist heiß. Und brennen überall serbisch Soldaten Feld und Haus an. Oder schießen mit Bomben. Verstehen?«
»Ja, ich verstehe.« Rattner beobachtete, dass die Frau weinte. Trotzdem sprach sie weiterhin sehr schnell, sodass er Mühe hatte, ihre Worte gedanklich zu sortieren.
»War da keine Luft zu leben. Und bei United Nations viele, viele Menschen, zwanzigtausend oder viele mehr. Und United Nations nehmen Bosniaken alle Waffen weg. Sagen, keine Waffen hier, ist alles gut. United Nations passen auf. Aber serbisch Armee alle Waffen. Nicht geben weg an United Nations. Verstehen? Alle Familie denken, hier alles okay, ist ja United Nations hier, ist ja Blauhelm hier und aufpassen. Zwanzigtausend! Sind alle Bosniaken und sind nur wir von Kroatien und paar mehr. Meine große Bruder immer sehr weinen, Mama immer sehr weinen und auch ich immer sehr weinen. Kommen dann überall serbisch Soldaten, schießen viel in Menschen, auch Kinder, schon viele tot und krank, und machen mit Bomben. Nicht Wasser, nicht Brot. Dann kommen serbisch Soldaten und nehmen weg alle Männer und alle Boys, die ein bisschen alt und können tragen Gewehr. Serbisch Soldat sagen, wollen sehen, wer war böse in Krieg. Aber niemand böse in Krieg war. Papa, Bruder und Onkel müssen gehen weg, ganz schnell mit serbisch Soldaten. Mama, Tante und ich weinen mehr und mehr. Dann kommen noch serbische Soldaten, drei oder vier. Mama schöne Frau, nehmen mit und Mama vergewaltigen sehr, sehr schlimm, andere Soldat wollen Tante nehmen mit, Frau von Onkel, verstehen? Tante aber sagen nein zu serbisch Soldat und Tante kratzt und macht so.« Sie schlug um sich und bekämpfte einen imaginären Feind. »Ich schlimme Angst. Papa weg, Bruder weg, Mama weg, Onkel weg und auch Tante weg. Soldaten nehmen Tante, mit großer Gewalt, und schlagen sehr und so nicht zurückkommen arme Tante, nie wieder. Tante ist vergewaltigt und totgemacht und weg. Mama mich suchen und finden. Mama ganz schlimm vergewaltigt. Viel weinen Mama, viele Tränen. Dann kommen viele, viele Soldaten, nicht Blauhelm, alles bosnisch-serbisch Männer, wie Vieh uns laden in Bus und auf große Auto, serbisch Soldaten jagen auch Blauhelm weg und schreien und schreien und machen Knall mit Gewehr. Ich klein und viel Angst. Nur Frauen, nur klein Kinder noch da. Und ganz kleine Junge, die nicht können halten Gewehr. Fahren uns alle weg, weit, erst Vlasenica und entlassen Frauen und Kinder, weit weg vor die Ort Kladanj. Bis dahin serbisch Armee alles Land weggenommen von Bosnien. Dann wir laufen alle sehr viele, lange Kilometer, bis wir sind in Kladanj. Dort Armee von Bosniaken und helfen und auch andere von Rot Kreuz. Aber hier sein alle Frauen ohne Mann und Junge. Frauen schauen und fragen: Wo sein Mann? Wo sein Junge? Immer wieder fragen und ganz viel weinen. Verstehen? Alle viel sehr weinen und denken, was nur passieren mit Mann und Junge. Ich weinen und denken, was nur passieren mit Papa und Bruder und Onkel.« Sie schwieg nur drei Sekunden lang, um sich Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Heute schauen an, was gemacht haben serbisch Soldaten mit Papa und Bruder und Onkel. Schauen an, überall Sie finden Information über Srebrenica und Potočari. Mama werden ganz krank und tot von viele Trauer. Ja. Mama sehr bald auch tot. Dann alle sprechen Krieg zu Ende. Ich überall suchen. Was nur passieren mit Papa und Bruder und Onkel. Keine Erfahrung machen. Viele Zeit keine. Viele Zeit ich immer wieder suchen. Brennt hier in Brust die Frage. Hier in Brust! Ich allein und suchen. Ich neun Jahr, ich zehn Jahr, ich elf Jahr, ich fragen: Was nur passiert in Krieg mit Papa und Bruder? Ich achtzehn Jahr. Ich dann wissen, was gemacht haben Stokan und Nebojša. Viele Zeit nach Krieg ich erst wissen. Und sehen Namen auf Zettel. Manche Serben große Angst vor Tribunal nach Krieg. Haben gesagt und gesagt und gesagt. Auch was gemacht haben mit Papa und Bruder. Und ich dann wissen auch, was gemacht hat Todor mit Bruder. Und Todor nur klein wie ich in Krieg, Todor nur ein Jahr mehr. Trotzdem hat gemacht mit meine Bruder tot.« Sie weinte jetzt entsetzlich, als würde sie die schrecklichen Dinge nochmals erleben. »Sie wissen. Ich totgemacht habe Nebojša Suker. Ich gemacht samoodbrana. Deutsche Wort sein Notwehr? Das ich gemacht. Ich wissen, Nebojša dort war, aber Nebojša nicht hat gemacht mit Papa und Bruder tot. Gemacht haben Stokan und Todor tot. Ich sehr tot machen bestimmt Stokan. Aber Stokan Angst. Hat sagen zu Nebojša: ›Du machen mit der Frau Krajic tot.‹« Sie blickte Rattner lange an. Ihre dunkelbraunen Augen glänzten, Tränen liefen über ihre Wangen, sammelten sich unten am Kinn und tropften zum Teil in ihren Kaffeebecher. »Das alles ich sagen.«
Sprachlos saß Rattner an der anderen Seite des Tisches. Ihm kam es vor, als würde dieser Tisch ganze Welten trennen. Er dachte lange darüber nach, was er antworten sollte, da er wusste, dass das Verhör mitgeschnitten wurde.
Rattner entschied sich schließlich für Folgendes: »So leid mir Ihre Vergangenheit auch tut, ich muss Ihnen eines sagen: Sie sollten sich dringend einen guten Anwalt nehmen. Aus unserer Sicht ist das, was Sie getan haben, vorsätzliche Tötung. Für ihre Version einer Notwehrhandlung gibt es momentan keine Beweise. Deutschland ist ein demokratisches Land und die Regeln mache nicht ich, die bestimmen unsere Gesetze. Im heutigen Kroatien und Serbien sollte es ähnlich sein. Ein Rachefeldzug auf eigene Faust ist ungesetzlich. Verstehen Sie das?«
Zu Rattners Erstaunen antwortete Kristina Krajic: »Ja. Ich das gut verstehen.«
Zadar
18. August
Todor fuhr mit seinem Kadett durch das große Holztor direkt in den Schuppen. Die Unterstellmöglichkeit passte so gar nicht zum feinen Aussehen des jungen Mannes. Er stieg aus, warf die Fahrzeugtür zu und verließ den Schuppen. Das Tor blieb offen, der Kadett fiel nicht sofort ins Auge, denn er parkte ganz hinten in dem geräumigen Holzhaus, das auf wenigen Reihen Mauerwerk gebaut worden war. Zunächst wischte er sich Schweiß vom Kehlkopf, blickte auf die Uhr und nickte sich selbst zu. Dann lief er auf einem schmalen Trampelpfad zwischen Kiefern, vernachlässigten Lorbeerbäumen und allerhand Gestrüpp hindurch, erreichte die Rückseite eines halbwegs modernisierten Gebäudes, stieg sieben Stufen einer ausgetretenen Treppe hinunter, öffnete mit einem Schlüssel das Sicherheitsschloss einer Tür und betrat die hinteren Kellerräume des zweistöckigen Hauses. Nachdem sich Todor des Jacketts entledigt und eine Lampe eingeschaltet hatte, lauschte er. Deutlich vernahm er helle Kinderstimmen, einige aus dem Haus über ihm, andere aus dem angrenzenden Spielgarten. Hier, am Rande der wahrscheinlich über dreitausend Jahre alten Stadt Zadar in Norddalmatien, unterhielt die Kirchgemeinde einen Kindergarten, in dem Vorschulkinder und am Nachmittag mitunter auch Schulkinder in die Obhut des kirchlichen Personals gegeben wurden.
Den Keller hatte Todor bereits vor sechs Jahren von der Kirchgemeinde als Zweitbüro und Notunterkunft angemietet. Dabei blieb es auch, als vor vier Jahren das Gebäude teilweise saniert wurde und der Kindergarten wieder einzog. Einige der Kinder kannten Todor längst, schließlich saß er hin und wieder draußen im Garten, las ein Buch oder schwatzte mit Marija, einem liebenswerten zweiundzwanzigjährigen Mädchen, das zu fast jeder Tages- und Nachtzeit im Kindergarten arbeitete und dem die meisten kleinen Kinder unablässig am Rockzipfel hingen. Mitunter überkam Todor das Gefühl, Marija hätte es auf ihn abgesehen. Dann zeigte er ihr plötzlich die kalte Schulter, sagte, er müsse auf seinen guten Ruf achten, ließ keinerlei Annäherung zu und tauchte wochenlang nicht im Garten auf. Irgendwann stand er dann plötzlich wieder neben ihr. In Todors Keller hatte Marija nichts verloren, das wusste das Mädchen nur zu gut. Zweifellos, Marija war eine sehr hübsche und nette Frau, schlank und trotzdem mit einer guten Oberweite ausgestattet, mit langen, dunklen, meist zu einem Zopf geflochtenen Haaren, an den Spitzen blond gefärbt, das Gesicht glatt und makellos mit dunkelbraunen, warmen Augen, im Ganzen nicht zu klein und nicht zu groß und niemals unfreundlich oder gar jähzornig. Außerdem war sie unglaublich kinderlieb. Trotz allem – in Todors derzeitigem Leben hatte sie nichts zu suchen, schon gar nicht in seinem Herz.
Den Keller hatte sich Todor halbwegs wohnlich eingerichtet, es war ordentlich und für alles gab es einen sinnvollen Platz. Und so merkwürdig es auch klang, die Kindereinrichtung über seinem Domizil verlieh Todor ein Gefühl der Sicherheit.
Der junge Mann nahm ein Notizbuch aus dem Regal über dem Holztisch und schlug es auf. Zuerst betrachtete er ein Foto, das er sich täglich anschaute. Auf dem Bild waren drei Personen zu sehen: Todor im weißen Gewand mit einem Blumengebinde auf dem Kopf, das ihn wie ein Mädchen erscheinen ließ, Mutter und Vater im besten Zwirn an seiner Seite. Das Foto entstand unmittelbar nach der Kommunion Todors. Es wurde von einem Mann aufgenommen, der im Krieg als Journalist unterwegs war und von Heckenschützen erschossen wurde.
Ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern, legte Todor das Foto zwischen den vorderen Deckel und die erste Papierseite des Notizbuches und suchte weiter hinten nach der gewünschten Seite. Die fand er schnell, denn dort hatte er ein Blatt eingeklebt, auf dem die technische Zeichnung und verschiedene Anweisungen zu einer RBS 70 vom Typ BOLIDE zu finden waren. Diese Version des Robotsystems 70 war ein schwedisches MANPADS, ein schultergestütztes Kurzstrecken-Boden-Luft-Lenkwaffensystem, das in dieser Form 2001 eingeführt worden war. Einige wenige davon erbeuteten die NATO-Gegner während des Krieges, mittlerweile galten sie in Bosnien und Serbien als ausverkauft. Sie waren gegenüber ihren RBS 70-Vorgängern mit einer verbesserten Elektronik und der neusten BOLIDE-Lenkwaffe ausgestattet. Ihre Bekämpfungsreichweite betrug stolze 8.000 Meter, die Einsatzhöhe bis 5.000 Meter. Die Lenkwaffe konnte eine höhere Fluggeschwindigkeit als Mach Zwei erreichen, das entspräche bei 20°C Lufttemperatur immerhin einer Spitzengeschwindigkeit von annähernd 2.500 Kilometer pro Stunde!
Todor las minutenlang die eigenen handschriftlichen Notizen auf den folgenden Seiten in seinem Notizbuch. Dann klappte er das Buch plötzlich zu und legte es zurück an seinen Platz im Regal über dem roh gezimmerten Holztisch. Nur drei Schritte, und er stand am rechten der beiden Kellerfenster, durch das er einen kleinen Sektor des Spielgartens einsehen konnte. Wie es schien, waren die Kinder jetzt zu Tisch, wenigstens waren draußen keine mehr zu sehen.
Der junge Mann nahm ein Schlüsselbund aus der Hosentasche, ging zur hinteren Wand des Kellers, schlug vorsichtig einen Wandteppich zur Seite, hinter dem sich eine Stahltür ohne Klinke verbarg, die mit einem Schloss gesichert war. Todor steckte den Schlüssel in den Zylinder, drehte ihn zweimal herum, worauf sich die Tür einen Spaltbreit öffnete. Er betrat den zweiten, wesentlich kleineren Kellerraum, klinkte die Tür von innen ein und betätigte einen alten Lichtschalter, der zwei LED-Lampen zum Leuchten brachte.
Er zog ein großes, mit roten Blüten bedrucktes Laken von einem Gestell und ließ es fallen.
Da stand das MANPADS, erschien majestätisch und unberührt, obwohl Todor die Waffe bereits einige hundert Male demontiert und wieder montiert hatte. Unter dem schultergestützten Lenkwaffensystem verbarg sich eine verschlossene Kiste, die Platz für zwei laserstrahlgelenkte Flugabwehrraketen bot, jedoch nur eine beinhaltete. Auf der Kiste war ein deutliches SBD zu lesen, die Kennung des schwedischen Herstellers Saab Bofors Dynamics.
*
»Leg dich hin!«, brüllte der VRS-Soldat Stokan Vujasinović, der in einer lumpigen Uniform steckte.
Der zehnjährige Todor ließ sich augenblicklich in den Dreck fallen, als wäre sein Körper ein Holzklotz, und schaute aufmerksam dem Soldaten zu, welcher acht Schritte von ihm entfernt das MANPADS geschultert hielt. »Nebojša sitzt auf einem Hügel, Kilometer von hier entfernt.« Der Soldat brüllte, als wäre Todor meilenweit entfernt und nicht unmittelbar neben ihm. »Er hat eine Mini-Radaranlage, die meinem Baby die Ziele zuweist. Ich glaube, er benutzt eins vom Typ PSTAR. Schnell, komm her!«
Todor sprang auf, als hätte ihn ein Affe gebissen, und stand augenblicklich dicht neben dem Soldaten.
»Siehst du das Display hier?«, schrie dieser.
»Ja!«, brüllte der Junge.
»Schau genau hin!«
Todor riss den Mund weit auf. »Ja!«
»Die Radardaten von Vodnik1 Nebojša werden hier auf dem Display des Lagedarstellungsgeräts an meiner Starteinheit abgebildet.«
Mindestens so laut, wie der Soldat sprach, brüllte Todor: »Aha!«
»Und das Ding hier ist eine Ein-Mann-Boden-Luft-Rakete. Ein schwedisches Robotsystem 70! Alles, bis auf das Rohr hier, ist die Starteinheit. Und das hier«, er zeigte auf das Rohr, »ist die Lenkwaffe! Die steckt direkt in einem Transport- und Startrohr und wird auch aus dem Rohr gestartet. Eigentlich tragen zwei Soldaten das ganze Teil, einer die Abschussvorrichtung mit dem Lenkgerät und dem Gestell, der andere trägt zwei Lenkwaffenbehälter. Eigentlich! Die Feuerbereitschaft dauert gerade mal dreißig Sekunden!«
Wieder brüllte Todor, dessen Gesicht voller Dreck war und der keinesfalls alles verstanden hatte: »Aha!«
Noch war der Soldat mit seinen Erklärungen nicht fertig. »Die Lenkwaffe wird mit einem Laser-Leitstrahl zum Ziel geführt. Ich muss nur das Ziel im Fadenkreuz verfolgen. Alles andere macht die Lenkwaffe von allein. Kommt das zu vernichtende Ziel in den Ansprechradius des Näherungszünders – hier vorn an meinem Baby, dann wird der Näherungszünder den Splittergefechtskopf explodieren lassen. Bei einem Direkttreffer dagegen sorgt der Aufschlagzünder für die Auslösung des Splittergefechtskopfes. Die RBS 70 kannst du getrost auch gegen Bodenziele einsetzen! Ich habe nur eine Lenkwaffe, also nur einen Versuch!«