Gestalten eucharistischer Anbetung

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Daran zeigt sich ebenfalls, dass Demut für Charles de Foucauld nicht einfachhin Demut ist: Demut muss eine liebende sein, ansonsten bleibt sie statisch und für sich. Der Beweggrund Jesu, den letzten Platz einzunehmen, war seine Liebe zur Welt und zu den Menschen. Auf diese Liebe aber will geantwortet werden: Was in der Anbetung für Foucauld geschieht, ist nicht bloß ein einfaches Sein vor Gott, sondern ein Ereignis zwischen Gott und dem Anbetenden. Es ist eine Bewegung der Liebe, ein stetes Empfangen und Schenken. Jene Gegenseitigkeit wiederum versetzt Charles de Foucauld selbst in die Lage, sich die Haltung der Demut anzueignen, basierend auf einem in der Anbetung erfahrenen unendlichen Vertrauen in Gott. Denn wen die Konsequenz der Liebe so sehr an den letzten Platz gestellt hat, der muss wahrhaftig sein78. Diesen letzten Platz hat Jesus nicht nur während seines Lebens unter den Menschen eingenommen: In der heiligen Eucharistie bleibt er für immer gegenwärtig als der Erniedrigte, der Kleine, Unscheinbare und Verborgene. Diese Verborgenheit, die den „letzten Platz“ des inkarnierten Gottessohnes kennzeichnet, ist dennoch alles andere als die Verhüllung des Verhältnisses des innertrinitarischen Sohnes zum Vater, sondern gerade dessen Offenbarung. In der Verborgenheit von Nazareth offenbart sich die ganze Fülle Gottes.
Das Dasein vor dem Tabernakel bringt Charles de Foucauld so sehr in die Gegenwart Jesu, in die ihn erfüllende Nähe Gottes, dass er nichts anderes mehr braucht, dass all sein Verlangen – bis auf jenes nach Jesus – gestillt ist. Dieses Verlangen befähigt ihn, sich selbst – angesichts der ungeheuren Nähe Jesu Christi – leer und demütig zu machen, keiner Dinge mehr zu bedürfen79. Die Nähe Christi im Tabernakel kann ihm genügen. Alle menschlichen Bedürfnisse – ja sogar die grundlegendsten – verlieren an Bedeutung. Obwohl Gott in der Eucharistie in der Verborgenheit des Brotes gegenwärtig ist80, nimmt er dennoch einen derart großen Raum ein, dass Foucauld ganz befreit wird von dem Bestreben, sich selbst einen Sinn geben zu müssen. Schon in der frühen Zeit seines Ordenslebens macht Foucauld diese tiefgreifende Erfahrung. Er schreibt in Briefen an seine Cousine Marie von einem tiefen Frieden, der ihm seit einiger Zeit zuteil wird und der ihn einen unerwarteten Trost erfahren lässt: „Mir hat er, meiner großen Schwäche wegen, nur Frieden geschenkt…einen ganz unerwarteten Frieden“81. In seiner Demut angesichts der Größe Gottes kann sich Foucauld nur klein und unscheinbar machen, gleichzeitig aber weiß er sich unendlich beschenkt und geliebt. Hier erfährt er sich so als immer schon wert- und sinnvoll, ohne sich als dies beweisen zu müssen. Demütig kann letztlich nur jemand sein, der schon von etwas anderem außerhalb seiner selbst erfüllt ist, sich also nicht selbst füllen muss, sich nicht selbst den Sinn des eigenen Daseins geben muss.
1.2.1.2 Gehorsam: Christusförmige Leibwerdung
In den Jahren seiner Zugehörigkeit zum Orden der Trappisten lässt sich der Aspekt des Gehorsams besonders gut veranschaulichen. Als Bruder Marie-Albéric steht Charles de Foucauld in einer Verbindlichkeit, wie sie der eigentlich so freiheitsliebende und selbstbestimmte Franzose bisher kaum erlebt hat. Selbst das Militär vermochte ihm nicht eine dauernde Fügsamkeit abzuverlangen, nun aber hat er sich freiwillig an eine Gemeinschaft gebunden, für die der Gehorsam eine tragende Rolle im ständigen Miteinander hat. Und mehr als nur einmal gesteht Foucauld, wie schwer es ihm oftmals fällt zu gehorchen. Exemplarisch zeigt sich dies vor allem an seinem Widerstreben, dem Wunsch seines Ordensoberen, er möge doch Theologie studieren und Priester werden, nachzukommen. Es widerstrebt ihm deshalb, weil er darin ein Leben in der Erfüllung des „Nazaret-Ideals“ gefährdet sieht, kommen doch dem Priester Gnadengaben zu, die ihn eben nicht in die Verborgenheit von Nazareth stellen, sondern in die Öffentlichkeit des geistlichen und weltlichen Lebens82. Dennoch weiß er um seine Gehorsamspflicht, welche noch dazu von seinem beständigen Seelenführer Huvelin bekräftigt wird, denn dieser rät ihm dazu, dem Wunsch seines Ordensoberen Folge zu leisten.
Daneben beginnt in Syrien Foucaulds Vorstellung von der Gründung eines eigenen Ordens, in welchem das verborgene Leben Jesu in Nazareth wahrhaftig gelebt werden kann bzw. immer konkreter werden kann. Immer stärker wird für ihn das Gefühl, seinen Platz – den letzten Platz – bei den Trappisten nicht finden zu können. Auch hier lautet Huvelins Rat, keine voreiligen Entschlüsse zu fassen und Geduld zu haben, bevor er seinem Schützling nach langer Zeit schließlich doch die Erlaubnis erteilt, den Orden der Trappisten im Einverständnis mit den Ordensoberen zu verlassen83. Auch wird von seiner Priesterweihe vorerst abgesehen. Zunächst wird Foucauld für zwei Jahre nach Rom zum Theologiestudium geschickt und damit sein Gehorsam auf eine lange Probe gestellt. Und als eine solche deutet er ihn auch: Im Gehorsam entscheidet sich die Liebe für Gott. Letztendlich ist Gehorsam nichts anderes als eine notwendige Konsequenz der vollkommenen Hingabe. Aufgrund der Liebe zu dem, der sich ganz hingegeben hat, schafft es Foucauld, sich selbst völlig zurückzunehmen, vorbehaltlos zu gehorchen. Der Gehorsam hat sich allein nach der je größeren Liebe zu richten; und in dem Wissen um das eigene Geliebtsein und um das Wohlwollen Gottes ist es nur selbstverständlich, sich seinem Willen, der sich besonders im Rat der Seelenführer kundtut, zu fügen: „Wer jederzeit vollkommenen Gehorsam leistet, hat auch jederzeit die vollkommene Liebe. Wer jeden Augenblick vollkommen gehorcht, tut jeden Augenblick das Vollkommenste, denn das Vollkommenste ist das, was aus der vollkommenen Liebe stammt“84. Schlussendlich ist der Gehorsam eine Antwort auf das Geschenk der allgegenwärtigen Nähe des menschgewordenen Jesus im eucharistischen Brot und wird dadurch zur äußeren, sichtbaren Form der inneren Haltung der Demut. In der Anbetung, dem in die Gegenwart Gottes gerufen Sein, erfährt sich Foucauld als unbedingt geliebt; geliebt werden heißt aber auch, dass es jemanden gibt, der es gut mit einem meint und so ist es für Charles de Foucauld nur natürlich, diesem Jemand zu gehorchen. Gehorsam kann demnach nur in der Symbiose mit der Demut funktionieren und gründet in ein und derselben Erfahrung innerhalb der eucharistischen Anbetung. Der inkarnatorisch in die Hostie hinabsteigende Sohn des trinitarischen Gottes erfüllt in vollkommenem Gehorsam den Willen des Vaters. Wie also die eucharistische Gestalt des Erlösers den Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater ausdrückt, so ist für Foucauld der Gehorsam die christusförmige Leibwerdung des Glaubens. Im Gehorsam gibt sich Foucauld dem hin, von dem er alles empfängt; ganz so wie der empfangende Sohn sich dem Vater schenkt. Foucauld kann in seiner nicht nur spirituellen, sondern zugleich leibhaften Hingabe an den Willen Gottes am Geheimnis der Inkarnation partizipieren. Letztendlich ist der Gehorsam ein weiterer Schritt Foucaulds hin zur Verähnlichung mit dem eucharistischen Christus.
1.2.2 Hausknecht bei den Klarissen in Nazareth (1897-1900)
Nachdem Charles de Foucauld am 25. Januar 1897 von Dom Wyart die Erlaubnis erteilt bekommt, die Trappisten verlassen zu dürfen, fällt seine Wahl auf das schon lange ersehnte verborgene Leben von Nazareth. Nazareth, das bedeutet das unscheinbare, einfache und arme Leben eines Zimmermanns. Unerkannt und geprägt von schlichter Handarbeit, fern von jeder Selbstdarstellung und den Würden eines geachteten Standes. Ein solches niedriges Dasein wird von nun an von Foucauld mit aller Kraft verfolgt. Und er verfolgt es nicht nur für sich selbst, sondern für eine Gemeinschaft von Brüdern, für deren Zusammenleben er konkrete Vorstellungen entwickelt, die er in selbstverfassten Regeln festhält. Er orientiert sich dabei zwar an der Regel des heiligen Benedikt, doch will er bewusst auf jedweden intellektuellen Anspruch verzichten und gestaltet daher das Leben der Brüder äußerst einfach, damit es sich in seinen geistlichen Formen als einladend für jedermann darstellt. Die „Einsiedler vom Heiligsten Herzen“ sollen in kleinen Gruppen das Los der Armen teilen, in ihrer Lebensgestalt wirklich arm, brüderlich und unterschiedslos offen für alle sein85.
Foucauld hat den Wunsch, Hausknecht in einem Kloster im Orient zu werden; und so reist er ins Heilige Land, um bei den Klarissen in Nazareth den Ort zu finden, der ihm zur Verwirklichung seines „Nazaret-Ideals“ angemessen erscheint. Dort nennt er sich von nun an Bruder Karl und verrichtet vor allem anstehende Haus- und Gärtnerarbeiten. Er weigert sich, ein geräumiges Gärtnerhaus der Klosteranlage in Anspruch zu nehmen und wohnt stattdessen im Geräteschuppen des Gartens der Schwestern. Seine Kleidung ist ärmlich, er geht fast immer barfüßig und schläft auf dem harten Steinboden seiner Behausung. Zugleich stammen aus dieser Zeit viele seiner handschriftlich verfassten Betrachtungen über die Heilige Schrift, die Aufschluss darüber geben, wie lebendig das Evangelium im täglichen Leben des Bruders war.
Als Charles de Foucauld kurz vor seiner Abreise ins Heilige Land von seinen einfachen Gelübden bei den Trappisten dispensiert wurde, hatte er noch am selben Tag zwei eigene Gelübde abgelegt: das der Keuschheit und das der Armut.
Sein Leben bei den Klarissen in Nazareth zeigt in besonderer Weise, wie sehr der ehemalige Lebemann zum Verzicht fähig wurde und wie radikal arm er sich zu machen vermochte. In Nazareth verwirklicht Foucauld zusehends die Kleinheit und Niedrigkeit Jesu gleichsam in und an sich selbst. Sogar seine Gestalt verkörpert nun vollends seine innere Haltung; denn sie zeigt einen schmächtigen und kleinen Charles de Foucauld. Mit Freuden und Dankbarkeit nimmt er alle Leiden und Erniedrigungen auf sich, um seinem Jesus immer ähnlicher zu werden. Der Satz „kleiner, immer kleiner“ wird zum Leitfaden seiner gelebten Nachfolge.
1.2.2.1 Armut: Vorbereitung auf die ewige Kommunion
Foucaulds Wunsch, zusammen mit Jesus den „letzten Platz“ einzunehmen, gewinnt in seiner Zeit bei den Klarissen eine fassbare und sichere Gestalt. Es ist in besonderer Weise die gewählte Armut, der Verzicht auf alle Annehmlichkeiten und Anerkennungen, die von seiner Liebe zum Herrn sprechen. Foucauld, der ehemals bis zu 4000 Francs monatlich ausgab86, versteht es mit einem Mal, sich völlig frei von allen materiellen Bedürfnissen zu machen. Das Begehren nach Genuss und luxuriösem Glanz ist ihm fremd geworden, sogar das Notwendige wird von ihm nach Möglichkeit abgewiesen.
Auch hier stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dieser gelebten Armut und der eucharistischen Anbetung gibt. Erhält Charles de Foucauld im Akt der Anbetung den Ruf zur radikalen Armut? Ist in der Anbetung des Mönches ein Erkennen zugrundegelegt, das ihm die äußerste Armut abverlangt? In einer Betrachtung über Lk 12,34 schreibt er: „Hüten wir uns, unser Herz an irgend etwas Geschaffenes, materielle oder geistige Güter, Leib oder Seele zu hängen…Machen wir unser Herz leer, leer von allem, was nicht das Eine ist…Nichts soll unser Schatz sein außer Gott!“87. Dieser Satz macht anschaulich, um was es Foucauld eigentlich geht: Die Armut muss eine ganzheitliche sein. Es genügt nicht, auf finanziellen Besitz zu verzichten oder dauerndes Fasten zu üben. Das Herz muss wirklich leer werden, leer von allem, das der Fülle Gottes im Wege stehen würde88. Diese Fülle aber – das „Eine“ – ist nicht bloß ein abstrakter philosophischer Begriff, sondern eine Wirklichkeit, der Foucauld im eucharistischen Brot wahrhaftig begegnet. Foucauld weiß nicht nur um die allen Raum umfassende Bedeutung des Begriffes Gott, sondern er erfährt dessen Fülle als real gegenwärtig in der heiligen Eucharistie: „Aber die beste, die wahre Unendlichkeit, der wahre Friede ist zu Füßen des göttlichen Tabernakels. Dort ist unser ganzes Gut, nicht nur bildlich, sondern in Wirklichkeit; unsere Liebe, unser Leben, unser Alles, unser Friede, unsere Seligkeit; dort ist unser ganzes Herz und unsre ganze Seele, unsre Zeit und unsre Ewigkeit, unser Alles“89.
Das Außergewöhnliche jedoch ist, dass Charles die in der Eucharistie anwesende Fülle Gottes aus der Erniedrigung des Gottessohnes heraus sieht. Das Allerheiligste offenbart den hinabgestiegenen Jesus, der in der Armut eines Zimmermannes aus Nazareth unter den Menschen gelebt hat und sich aus Liebe zu ihnen vollkommen hingegeben hat. In der Unscheinbarkeit des Brotes erkennt er auch dessen Armut, die die Gefahr birgt, dass man jenes Brot, das das Heil der Welt ist, zu schnell übersieht. Foucaulds gelebte Armut kann mitunter als ein – wenn nicht sogar als das – Zeichen seiner Erfahrung des hinabgestiegenen Sohnes angesehen werden. Vor dem Allerheiligsten erkennt er die reale Gegenwart Jesu Christi und – und das ist der Schlüssel seiner Wahl – er erfährt die ihm geschenkte Liebe des Gottessohnes. Diese Liebe aber will mit aller Kraft erwidert werden, und wieder ist es die Gleichgestaltung mit dem Geliebten, die notwendig aus der bejahenden Antwort auf die Liebe Jesu folgt: „Armut! Die Armut von ganzem Herzen umarmen. Der Reichtum ist nicht nur ein lästiges Gepäckstück, sondern auch eine Gefahr: er läßt sich schwer mit der vollkommenen Liebe zu Gott, zu Jesus vereinen, weil er der Nachahmung Jesu gerade entgegengesetzt ist“90. Foucauld bringt diesen Verzicht auf, weil er sich letztendlich nicht arm weiß. In der Entsagung des Reichtums der Welt steckt ein Ja zur Liebe Gottes, die allen endlichen Reichtum übertrifft. So kann Foucauld schon während seiner irdischen Geschichte in der eucharistischen Anbetung teilhaben an der ihn nach dem Tode erwartenden Fülle Gottes, die allein genügt. Die Anbetung bringt ihn schon jetzt antizipativ in die versprochene endgültige Nähe Gottes. Man könnte mit Heidegger sagen, es beginnt ein Vorlauf auf den Tod, den Foucauld äußerlich vorwegnimmt, indem er sich schon jetzt allen irdischen Gütern entzieht, sich vollkommen arm und leer macht, um wie im Tod mit nichts als leeren Händen vor Gott zu stehen. Der Tod kann so als die letzte, vollkommene und ewige Kommunion bezeichnet werden, in dem das Bei-Gott-Sein des Anbetenden seine unbedingte und äußerste Form annimmt. Stets bereit sein zu sterben und stets bereit sein zu kommunizieren – das Angebot Gottes zu bejahen –, ist ein und dasselbe. Dass diese vorläufige Teilnahme, der vollkommene Verzicht, immer nur rudimentär bleiben wird, ist Charles de Foucauld bewusst, ist er doch zum Beispiel nicht in der Lage, alle Geschenke der Nonnen abzulehnen. Daher ist die wirkliche Armut, auf die es ankommt, die Armut des Herzens. Diese verwirklicht sich zwar in der konkreten, materiellen und also äußerlich sichtbaren Armut, doch bleibt sie immer nur eine Folge der eigentlichen Armut des Herzens: „Armut. Im Geist auf alles verzichten, im Herzen von allem losgelöst sein, arm im Geist sein, leer von aller Anhänglichkeit, all das ist unerlässlich, wenn man Jünger Jesu sein will…Materiell auf alles verzichten, materiell arm sein, das ist der notwendige Ausgangspunkt sowohl für die Armut im Geiste als auch für die Nachfolge Christi“91.
Dieser Schwerpunkt auf der Armut des Herzens bewirkt ebenfalls, dass Foucauld nicht dahin geht, die Armut zu verherrlichen oder gar als Anspruch an alle Menschen zu universalisieren92. Im Gegenteil: Gerade in der eucharistischen Erfahrung des alle Menschen liebenden Jesus Christus wird Foucauld die Erkenntnis zuteil, dass aus diesem Geschenk nicht nur die Gottesliebe, sondern auch die Nächstenliebe folgen muss. Eine Nächstenliebe, die verwirklicht werden will, die die Liebe Gottes und seine Sorge um die Menschen auch mittels der Hilfe materieller Güter sichtbar macht. Diese Konsequenz der liebenden Sorge um die Mitmenschen wird Foucauld vor allem in seiner späteren Zeit bei den Tuareg zum Anspruch werden und dazu führen, dass er sich selbst auch in jeglicher Aktion, in allem Tun, leer machen wird; damit er fähig wird, sich selbst aufzuopfern für seinen Nächsten.
Charles de Foucauld genügt der Reichtum, den er im Tabernakel vorfindet93. Ihm gegenüber werden alle anderen Güter bedeutungslos und verzichtbar. In ihm findet er alles, was er braucht: die ungeheure Fülle Gottes, die Gnade seiner Nähe. Dieser Reichtum, mit dem er sich unendlich beschenkt weiß, befähigt ihn zur materiellen Armut: „Laßt uns nicht Sättigung in den Dingen dieser Welt suchen, weder in materiellen Gütern noch in sinnlich wahrnehmbaren, noch in geistigen Gütern: nicht in irgendeinem Geschöpf noch in irgend etwas, was nicht Gott ist. Je leerer wir sind von allem, was nicht Gott ist, um so mehr können wir von Gott erfüllt und gesättigt werden“94.
1.2.2.2 Erniedrigung: Befreiung vom Wahn der Autonomie
Ein Moment, an dem Foucaulds konsequente Nachahmung Jesu besonders deutlich wird, ist sein Bestreben nach beständiger Selbsterniedrigung. Die Selbsterniedrigung ist im Gegensatz zur Haltung der Demut ein Geschehen. Dennoch ist sie auf engste Weise mit ihr verknüpft: Sowie zur Demut die bewusste Zurücknahme des eigenen Ichs gehört, so ist es auch für ein Leben in Niedrigkeit unerlässlich, sich selbst ganz und gar zu befreien von dem Wunsch, durch große Taten, durch „ein großes Leben“ Selbstbestätigung zu finden. In der Selbsterniedrigung Foucaulds kommt ein weiteres Mal zum Ausdruck, wie wenig er sich für sich selbst engagiert und um wieviel mehr für denjenigen, von dem er alles empfängt. Foucaulds Selbsterniedrigung, die er durch schwere körperliche Arbeit und durch den bedingungslosen Verzicht auf Annehmlichkeiten, wie etwa gute Schuhe, robuste Kleidung, ein weiches Lager etc., erwirkt, darf nicht als masochistische Neigung verdächtigt werden. Foucauld versteht seine Erniedrigung nicht als Bestrafung seiner Sünden. Motivierendes Moment ist allein die radikale Nachahmung Jesu; dessen, der selbst so sehr gelitten hat und dennoch nicht aufgehört hat, die Menschen zu lieben: „Das alles hast Du aus Liebe erduldet, mein Gott, uns zuliebe, um uns zu heiligen, um uns durch den Anblick Deiner unerhörten Liebe zum Lieben zu bringen, uns durch Dein Beispiel zu bewegen, daß wir aus Liebe Leiden auf uns nehmen“95.
Charles de Foucauld versteht es, Widrigkeiten und Leiden derart hinzunehmen, dass er sie nicht nur geduldig ertragen kann, sondern auch als direkten Beweis seiner Liebe zu Christus aktiv (mit)vollziehen kann. So erzählt Kurt Benesch in seinem biographischen Roman über Charles de Foucauld, dass es sich nicht selten begab, dass Bruder Karl in den Straßen von Nazareth von einigen Halbwüchsigen ausgelacht und verspottet wurde. Obwohl Foucauld um diese Ungerechtigkeit weiß, ist er gleichzeitig voller Freude, dem Herrn in seiner Nachfolge so nahe zu kommen, dass er, wie er, öffentlich gedemütigt und erniedrigt wird96. Auszuhalten, was Jesus zu ertragen hatte, zu empfinden wie dieser, ist für ihn die angemessene Antwort auf die geschenkte Liebe Gottes. Zugleich schämt er sich jedoch auch schon für die empfundene Freude, weiß er doch, dass sie die Vollkommenheit des Kleinseins schmälert.
Man wird vorsichtig sagen können, Foucauld habe es regelrecht darauf angelegt, Demütigung und Erniedrigung von außen zu empfangen, spricht er doch davon, das Leid suchen zu müssen. Dieses Suchen geschieht jedoch einzig aus dem Motiv der liebenden Nachahmung heraus: „Nicht nur stets danach verlangen, sondern sie in dieser Welt stets suchen, denn sie bilden einen Teil der Ähnlichkeit mit Jesus, um die wir ständig bemüht sind (denn solche Ähnlichkeit ist ein natürliches Bedürfnis der Liebe und eine Bedingung der Vollkommenheit auf Erden)“97.
In keiner Weise sucht er nach Bestätigung seiner selbst oder dessen, was er tut. Alles, woran ihm gelegen ist, ist, wie der Herr in Nazareth unerkannt zu bleiben. Aus diesem Grund verrichtet er im Kloster der Klarissen bewusst und ausschließlich die niedrigsten Arbeiten. Darin lässt sich erneut der alles entscheidende Wille Foucaulds wiedererkennen: Diese gewöhnlichen Arbeiten nehmen ihm nämlich keinen Ruhm weg, sondern ermöglichen ihm die fortdauernde Betrachtung und das ununterbrochene Gebet, das ständige Bei-Gott-sein. Sie geben ihm letztendlich etwas, das in seinen Augen weitaus mehr Wert hat als jede bezahlte Leistung.
Auch hier ist es die Zeit vor dem Tabernakel, die ihn davon abhält, etwas Großes durch eigenes Machen für sich selbst herzustellen. Das Größte, was er je besitzen wird, befindet sich unmittelbar vor ihm: das eucharistische Brot. Die Größe des Lebens, den Wert eines jeden Lebens gibt man sich selbst so wenig wie das Leben selbst. Nichts vermag einem unbedeutenden Menschenleben Größe zu geben außer Gott. In der Wirklichkeit der Eucharistie, in welcher der Wille Gottes, den Menschen unwiderruflich anzunehmen, erfahrbar wird, zeigt sich für Foucauld zugleich die Nichtigkeit menschlicher Anstrengung. Das Einzige, was dem Menschen Zukunft geben kann, ist die geschenkte Liebe des hinabgestiegenen Sohnes. Und hier beginnt der aktive, initiative Teil des Menschen innerhalb der Beziehung mit Gott: „Wer absteigt, ahmt mich nach[…] wer absteigt, wandelt auf meinem Weg und deshalb in der Wahrheit, und er befindet sich am besten Platz, um das Leben zu gewinnen und es den andern zu geben“98. In der eucharistischen Anbetung nimmt Charles de Foucauld den Anspruch wahr, der mit diesem ungeheuren Geschenk einhergeht. Eine erwidernde Liebe, die logischerweise dazu führen muss, die Art Gottes, in der er sich dem Menschen offenbart hat, nachzuahmen. Dann nur kann die dargebotene Liebe Gottes wirklich an ihr Ziel kommen. Denn nur wer sich selbst ganz zurücknimmt, wer sich leer macht und erniedrigt, das heißt nichts für sich selbst, für das eigene Ego, den eigenen Stolz oder das eigene Lob zurückbehält, nur der kann sich von dieser Liebe selbst bestimmen lassen. Die Erniedrigung verliert somit ihren Schrecken und wird wünschenswert, weil sie frei macht, Christus in sich aufzunehmen. Charles de Foucauld kann sich klein und niedrig machen, weil ihm in der eucharistischen Anbetung der erniedrigte, verkannte Jesus Christus begegnet, er gleichzeitig aber darum weiß, dass gerade die unüberbietbare Erniedrigung am Kreuz das in der Liebe mitgegebene Heil zur Folge hat. Es ist die Größe des Leidens Jesu, die Foucauld eben auch zugleich die Größe seiner Liebe und ihres endgültigen Triumphes zeigt. Das Leiden Christi wird somit nicht von ihm angeprangert, sondern angenommen als Zeichen seiner Liebe und seines Gehorsams zum Vater, und im eigenen Leiden mitvollzogen. Die Erniedrigung und das Leiden Jesu stehen für ihn daher an der richtigen Stelle und haben ihren Grund: Die Liebe Jesu und sein Leiden bedingen sich insofern, als das Leiden Jesu zum direkten Ausdruck seiner Liebe wird. Aus diesem Verständnis heraus deutet Foucauld sein eigenes Leiden und das der Menschheit99. Das aktiv getragene Leid und die eigene Erniedrigung bieten eine Möglichkeit, die Liebe zu Gott auszudrücken, sie an sich wirklich werden zu lassen100. In diesem Kontext tritt dann ebenfalls Foucaulds Wunsch nach dem Opfer seines Lebens, dem Märtyrertod, in Erscheinung. Denn er weiß, dass diese letzte Form der Hingabe die größte ist, die er zu geben imstande ist.
Charles de Foucauld will sich sein Heil nicht verdienen. Das Heil, die Liebe Gottes ist von Anfang an ungeschuldet und vor aller Gegenliebe der Menschen. Das wird ihm in aller Deutlichkeit im Dasein Jesu Christi in der heiligen Eucharistie bewusst. Dort schenkt sich Gott dem Menschen immer schon, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Dies macht es aber nur um so notwendiger, dem daraus entstehenden Anspruch gerecht zu werden101.
1.2.3 Marabut in der saharischen Wüste (1901-1916)
Nachdem die Klarissen-Äbtissin von Jerusalem Charles de Foucauld davon überzeugt hatte, dass es seinen Ordensgründungsplänen förderlich sei, Priester zu werden, ist für ihn klar, dass er die Nachfolge Jesu nur vervollkommnen kann, wenn er das Messopfer darbringen und die Sakramente spenden kann. Foucauld kehrt 1900 nach Frankreich zurück, um die Priesterweihe zu empfangen. Während der Vorbereitungsmonate reift in ihm der Plan, das verborgene Leben Nazareths in Nordafrika zu führen, in der Absicht, Jesus all denen, die ihn nicht kennen, bekannt zu machen. Nach seiner Priesterweihe siedelt er über nach Beni-Abbès, einer kleinen Oasen- und Garnisonsstadt am Rande der Sahara nahe der marokkanischen Grenze; er errichtet dort eine weitläufige Eremitage in der festen Hoffnung, in Zukunft nicht mehr allein zu sein.
Hier entdeckt Foucauld nun die zweite Verwirklichungsform von Nazareth: Der Tag ist zwar noch geprägt von ausgedehnten Gebetszeiten, die er vor dem Allerheiligsten kniend verbringt, aber mehr und mehr öffnet sich Charles de Foucauld der saharischen Bevölkerung. Er kann angesichts vieler Missstände, für die er die französische Regierung in der Verantwortung sieht, nicht mehr schweigen und lässt sein Ideal der Nachfolge zunehmend in die Aktion münden. Leidenschaftlich richtet sich Foucauld gegen die geduldete Sklaverei und schreibt mehrere Briefe an das Parlament in Paris. „Man muß sagen, oder durch einen Zuständigen sagen lassen: «non licet», «vae vobis hypocritae», ihr setzt auf eure Briefmarken und überallhin die Worte «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte» und schmiedet die Ketten der Sklaven; ihr verurteilt Banknotenfälscher zur Galeere und erlaubt, dass Kinder ihren Eltern geraubt und öffentlich verkauft werden; ihr bestraft den Diebstahl eines Huhnes und gestattet den eines Menschen“102. Nach einiger Zeit kann er die ersten Erfolge verzeichnen, als die Kommandanten der Oasen erste Maßnahmen gegen die Sklaverei ergreifen. Doch er hat nicht nur die einheimische Bevölkerung im Blick: Auch die stationierten französischen Soldaten in Beni-Abbès können sich seiner Hilfe sicher sein und trotz seines Einsiedlerdaseins zeigt er sich häufig gesellig und gesprächsbereit. Der Andere, sein Mitmensch, begegnet Foucauld mehr und mehr als derjenige, in dem ihm Jesus konkret begegnet.








