Die neuesten Streiche der Schuldbürger

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Doch zurück zum Sauternes. Dieser Wein ist das Geschenk eines Schimmelpilzes, Botrytis cinerea, auch Edelfäule genannt. Mit seinen ultrafeinen Sporen – korrekt: Hyphen – durchlöchert der Pilz die Haut der Beeren, so dass sie schrumpfen, eindicken und zu Gefäßen reinsten Nektars werden können. Im berühmtesten aller Châteaux des Sauternes, dem Château d’Yquem, gewinnen die Winzer mitunter aus einem Rebstock pro Lese nur ein einziges Glas. »Aus dieser natürlichen Fäulnis, in der unter anderen Umständen schlicht und einfach das Entropiegesetz der Welt zum Ausdruck käme, machten die Bauern einen Wein, einen Alkohol, einen Göttertrank. Die Menschen haben die Fäulnis, die das Nichts bedeutet, zu einem Trank sublimiert, der die Quintessenz des Lebens erzählt. (…) Als Triumph der Eigenschaften sapiens und faber über Thanatos bringt der Wein aus Sauternes auf der Grundlage des Botrytis eine neue Gestalt der Zeit hervor.«
Irgendwo habe ich noch ein Fläschchen …
7. Januar
»Präsident Trump hat kürzlich erklärt: ›Sie wissen, was ich bin? Ich bin ein Nationalist!‹ Genau wie ich. Nationalisten können miteinander reden; seltsamerweise funktionieren Gespräche mit Internationalisten nicht so gut.« (Michel Houellebecq)

Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke meint, dass die AfD bald »in Gänze oder in größeren Teilen« vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Das sei gerechtfertigt, zitiert ihn der Tagesspiegel – und fährt fort: »Funke sieht Tendenzen zu Geschichtsrevisionismus, Relativierung des Holocausts und Antisemitismus, dazu die Entfesselung von ›Ressentiments gegen alle größeren ethnischen und religiösen Minderheiten in Deutschland – das Ganze in Verbindung mit dem Anstreben einer anderen Republik.‹«
Der Verfassungsschutz sollte also nach Ansicht dieses Experten gegen »Geschichtsrevisionismus« und die »Relativierung des Holocausts« vorgehen; man wüsste nur gern, aufgrund welches Verfassungsartikels. Außerhalb von totalitären Gesellschaften gehört der Revisionismus zur Historiographie wie der Wandel zum Klima, und die »Relativierung des Holocausts« – was auch immer damit gemeint sein mag; genügt schon der Hinweis auf die kommunistischen Lager? – ist nicht verboten.
»Ressentiments gegen alle größeren ethnischen und religiösen Minderheiten« hält Herr Funke ebenfalls für verfassungsschutzrelevant. Wenn die Schlapphüte sich auch noch mit den im Lande grassierenden Ressentiments befassen sollen, müsste die Behörde ihre Planstellen mindestens vertausendfachen. Und gegen welche »größeren religiösen Minderheiten« hegen und pflegen die rechtspopulistischen Schwefelbuben denn die ihren? Laut Funke gegen alle größeren. »Entfesselt« die AfD »Ressentiments« gegen Hindus? Gegen Buddhisten? Gegen die orthodoxe Kirche? Zeugen Jehovas? Shintoisten? Neuheiden? Die grüne Jugend? Und wie verhält es sich mit dem »Antisemitismus«, einem beliebten, aber nach dem regierungsoffiziellen Hereinwinken von Abertausenden darin geschulten religionspädagogischen Fachkräften inzwischen etwas kraftlosen Vorwurf, zumal er sich gegen die israelfreundlichste aller Bundestagsparteien, in deren Mitte sich die Gruppe »Juden in der AfD« konstituiert hat, durchaus bizarr ausnimmt?
Wahrscheinlich ist der Herr Funke bloß ein armer Huschel, der an Fascholalie leidet und sich in einer vor Publikum schreibenden Selbsthilfegruppe ähnlich Gehandicapter zu therapieren müht.
Was indes die »andere Republik« angeht: Die ist bekanntlich zwar nicht unbedingt Regierungsprogramm, aber sturheiles Regierungshandeln.
Nachschrift. Mehrere Leser weisen mich darauf hin, dass Herr Funke mitnichten ein Huscherl sei, sondern ein lupenreiner Gesinnungstäter mit extrem linker Agenda und der typischen Biographie, die unsere westdeutschen Progressisten so sympathisch macht: Vater Nazi, Sohnemann strammer 68er, SDS, AStA, Neue Linke, nie mit seinen Händen gearbeitet, Geschwätzwissenschaften studiert, zeitlebens dumpfdeutsch gegen »rechts« gekämpft. Glanzpunkt dieses couragierten Lebens dürfte Funkes Engagement für die Märchenerzähler-Familie Kantelberg-Abdullah aus Sebnitz gewesen sein, deren Kind von mehreren hundert sächsischen Skinheads im städtischen Freibad unter dem Absingen aller drei Strophen des Deutschlandliedes ertränkt wurde.

Die Spoekenkiekerei veröffentlicht einen entlarvenden Text über die »para-staatliche grüne Ideologie-Miliz« Deutsche Umwelthilfe (DUH), dem sich entnehmen lässt, dass ein gewisser Rainer Baake, der 2014 zum beamteten Staatssekretär ins Bundesministerium für Wirtschaft und Energie berufen wurde, zuvor von 2006 bis 2012 Bundesgeschäftsführer der DUH war. »Die deutsche Regierung hatte also von 2014 bis 2018 den langjährigen Chefideologen der DUH an entscheidender Stelle im Pelz sitzen – wo er fleißigst daran mitarbeiten konnte, absurde Grenzwerte und Horrorzahlen, fragwürdige Messpraktiken und in Folge dann auch bürgergängelnde Gesetze und Verordnungen auf den Weg zu bringen. Er kannte das Geschäft bestens: Denn bevor Baake 2006 DUH-Chef wurde, diente er von 1998 bis 2005 als beamteter Staatsekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – unter seinem Kumpel Jürgen Trittin.«

»(Roland) Barthes hatte lange geplant, einen Roman nach Proust’schem Vorbild zu schreiben. Stattdessen verbrachte er sein Leben damit, die Texte anderer zu analysieren. (…) Er, der unzählige Notizen für seinen ungeschriebenen Roman hinterließ und abends im Bett mit Genuss Chateaubriand las, verkündete den Tod des Autors, weil es ihm nicht gelang, selber einer zu werden. Barthes mochte keine Biographien. Aus gutem Grunde: Sie sind der Schlüssel zu jeder Theorie. Auch Foucault mochte keine Biographien. Und er hatte die gleichen guten Gründe wie Barthes.« (Michel Onfray, Niedergang, S. 576)
Das herausragende Individuum ist die Klippe für jede munter dahersegelnde Geschichtstheorie. Über ein Phänomen wie den Autor des Koran, der von sich behauptete, ein Erzengel habe ihm Gottes Wort diktiert, und dessen Gebote heute von fast anderthalb Milliarden »Lesern« (»Followern«) befolgt werden, haben Strukturalisten, Poststrukturalisten, Konstruktivisten e tutti quanti nichts zu sagen.
8. Januar
Der AfD-Bundestagsabgeordnete und Bremer Landesvorsitzende Frank Magnitz ist in Bremen von drei Männern angegriffen und bewusstlos geschlagen worden.
Dass eine Gesellschaft politisch verroht und intellektuell verkommt, bemerkt man daran, dass nach einer Gewalttat mehr über die Gesinnung des Opfers als über jene der Täter gesprochen wird (komme mir keiner mit: Man weiß doch gar nicht, wer’s war; wenn’s die Mafia gewesen sein sollte, fällt automatisch auch die Gesinnung des Opfers weg). Unsere Leitmedien bzw. -fossile werden dafür sorgen, dass rasch der Kaftan des Schweigens über den Vorfall gebreitet wird, der, wie wir seit dem Anschlag in Döbeln wissen, am Ende nur der AfD nützt.

Nach der Relotiade über Fergus Falls machte ein amerikanisches Magazin einen Gegenbesuch beim Spiegel, um seine Leser zu informieren, unter welchen Umständen in Deutschland kritischer Qualitätsjournalismus entsteht. Ein Auszug:
»Die Büros befinden sich hoch in den Alpen, in einem Schloss. (…) Die Empfangsdame, Ilsa Shewolff, 32, eine ehemalige Gefängniswärterin, musterte mich mit einem furchteinflößenden Blick, entfernte einen Tabakkrümel von ihren blutroten Lippen und führte mich durch eine Halle mit Büsten der ehemaligen Chefredakteure (…) Adolph B. Beethoven saß hinter einem massiven Schreibtisch, auf dem eine Europakarte ausgebreitet lag, und unterhielt sich mit einem Mann in brauner Uniform. Ich dachte zuerst, sie planten eine Invasion, aber wie sich herausstellte, handelte es sich um einen UPS-Boten.
Der Chefredakteur war ein beleibter Mann in den Fünfzigern. Er trug Lederhosen und auf dem Kopf eine spitze grüne Filzmütze mit einer Feder. In seinem Gürtel steckte eine Luger. ›Schnaps?‹ fragte er. ›Schnitzel?‹«

Das war eine Relotiade im engsten Sinne. Relotiade im weiteren Sinne bedeutet, dass ein Journalist mit seinem Text nicht ausschließlich versucht, die Wirklichkeit abzubilden, sondern sie färbt, wie er sie gern hätte, dass er die Wirklichkeit also tendenziell seiner Gesinnung anschmiegt (wobei das besitzanzeigende Fürwort eine gewaltige Übertreibung ist; die journalistische Meinung ist ungefähr so individuell wie die Schwimmrichtung einer Sardine). Im weiteren Sinne besteht der deutsche Journalismus also mindestens zur Hälfte aus Relotiaden. Alexander Wendt hat das anhand der unterschiedlichen Bewertung einiger Gewalttaten der letzten Tage untersucht, mit einer plausiblen Pointe und dem erwartbaren Resultat: Sie wollen ihre doppelte Optik einfach nicht »hinterfragen«, wie ein Qualitätsjournalist schreiben könnte, und zwar nicht aus Routine und Gewohnheit, sondern aus Opportunismus und Treue zum Zeitgeist – ob stramm zum derzeitigen oder bloß flexibel zum jeweiligen, wird zu beobachten sein.
Ein Beispiel. Im Zeit-Interview äußert sich die Gießener Kriminologie-Professorin Britta Bannenberg zu der Amokfahrt von Bottrop. Nachdem sich herausgestellt hat, dass der Täter wegen einer Schizophrenie in Behandlung war, versucht das Hamburger Humanistenblatt, vom Terroranschlag eines Rechtsextremen zu retten, was zu retten ist. Freilich perlt das Insistieren der Interviewerin an nahezu jeder Antwort der Kriminologin ab, die – für meine Begriffe allzusehr – auf psychische Störungen solcher Täter insistiert. Nun gut, es ist ihr Job, ihre Klientel, und für die tut man was. Die Journalistin hat aber auch ihre Klientel, den Zeit-Leser, der meistens Pädagoge, Sozialwissenschaftler oder dergleichen und »linksliberal« ist, und folglich versucht sie, die passende, in im Tenor längst feststehende Schlagzeile aus ihrer Gesprächspartnerin zu locken:
»Ist es denkbar, dass der mutmaßliche Täter von Bottrop und Essen ähnliche irrationale Ängste vor Ausländern entwickelt hatte und sich in seiner Wahnvorstellung wehren musste? Bannenberg: Wenn der Täter tatsächlich schizophren ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass sein Wahn ihn zur Tat getrieben hat.«
Mist, das ging schief. (Wir lassen hier den von der Fragerin ausgeblendeten Unterschied zwischen irrationalen und rationalen Ängsten von »Ausländern« ebenfalls ausgeblendet.) Nächster Versuch:
»Wie viele solcher Taten entfallen denn auf psychisch Erkrankte? Bannenberg: Was Amoktaten angeht, sind psychische Erkrankungen eine relevante Ursache. Und was ist mit dem Rest? Bannenberg: Die restlichen Täter wiesen in den meisten Fällen eine Persönlichkeitsstörung auf. Und wie hoch ist der Anteil derer, die keine Diagnose haben und so eine Tat begehen? Bannenberg: In der Regel ist kein Amoktäter psychisch gesund.«
Spätestens hier hat die Maid begriffen, dass sie es auf dem Weg über Fakten nicht mal bis ins Tiebreak schafft. Also feuert sie die jedes Experten-Teflon durchbrechende Frage ab:
»Liefert die Stimmung in der Gesellschaft Inhalte für die Wahnvorstellung solcher Menschen? Bannenberg: Das tut sie immer. Generell sind Mehrfachtötungen, auch versuchte, sehr seltene Taten. Diese Täter nehmen gesellschaftliche Einflüsse, aber auch ihre ganz persönliche Wahrnehmung als Futter für ihre Hassfantasien.«
Bingo. Damit ist die Überschrift im Sack. Sie lautet: »Die Gesellschaft liefert Futter für Hassphantasien«. Das ist zwar allenfalls die Hälfte der erteilten Antwort, außerdem eine für den gesamten Gesprächsverlauf eher abseitige Auskunft und eine Binse sowieso, die immer und überall gilt – Robinsons Insel natürlich ausgenommen –, aber auf diese Weise hat die Zeit-Schreiberin endlich die rechten Hetzer in ihrer Story. Und dass die Gesellschaft am Ende immer an allem die Schuld trägt, ist ohnehin ein linkes Mantra, denn unsere Linken leben ja davon, die Unvollkommenheiten der Gesellschaft anzuprangern und dann ihre Therapien anzubieten, die zwar nie funktionieren, aber trotzdem ein Perpetuum mobile am Laufen halten, das angeblich auch nicht funktioniert, in diesem Falle aber verblüffenderweise doch.
Sela, Psalmenende.
9. Januar
Aus der Reihe Propheten im eigenen Land: »Wenn die Bundesrepublik Deutschland einen fundamentalen Richtungswandel in Richtung Rot-Grün vollziehen würde, dann wäre unsere Arbeit der letzten 40 Jahre umsonst gewesen. Das Schicksal der Lebenden wäre ungewiss, und das Leben der zukünftigen Generationen würde auf dem Spiele stehen. (…) Wir stehen vor der Entscheidung: Bleiben wir auf dem Boden trockener, spröder, notfalls langweiliger bürgerlicher Vernunft und ihrer Tugenden, oder steigen wir in das buntgeschmückte Narrenschiff ›Utopia‹ ein, in dem dann ein Grüner und zwei Rote die Rolle der Faschingskommandanten übernehmen würden?«
Also sprach Franz Josef Strauß am 7. Oktober 1986, nicht ahnend, dass seine CSU den Ersten Offizier auf der von einer CDU-Kanzlerin geführten und erstmals als FDJ-Sekretärin angeheuerten, über die Toppen rot-grün geflaggten ›Utopia‹ stellen werde.

»Antifa bleibt Handarbeit«, ermannt sich und ihre Leserinnen die Spiegel online-Autorin Margarete Stokowski in einer Kolumne namens »Linksfaschismus muss Alltag werden« – sie schrieb »Antifaschismus«, meinte aber den anderen –, womit sie couragiert in den Spuren meiner trotzdem unangefochtenen Spiegel-Lieblingstörin Sibylle Berg wandelte, die ebenfalls allwöchentlich ihre filigrane Faust gegen rechts schüttelt und in einer besonders schweren Stunde aus der Sicherheit des Schweizer Exils ins Vierte Reich drohte: »Vielleicht ist der Schwarze Block, die jungen Menschen der Antifa, die Faschisten mit dem einzigen Argument begegnen, das Rechte verstehen, die einzige Bewegung neben einem digital organisierten Widerstand, die eine Wirkung hat. Es wird nichts mehr von alleine gut. Die Regierung wird uns nicht retten. (…) Die Zeit des Redens ist vorbei.«
In der taz sekundierte nach dem Überfall auf den Bremer AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz, der übrigens sechs Kinder und eine türkischstämmige Ehefrau hat, eine Schild- und Schwertmaid namens Veronika Kracher: »Dass #Magnitz zusammengelatzt wurde ist übrigens die konsequente Durchführung von #NazisRaus. Abhauen werden die nicht. Die werden sich bei der größten möglichen Bedrohungssituation aber zweimal überlegen, ob sie offen faschistische Politik machen. Deshalb: mit ALLEN Mitteln.« Aber wehe, die wehren sich!
Es fällt auf, dass es oft Mädels sind, die solche Gewaltphantasien entwickeln. Wie sicher sich unsere Linken dabei fühlen, ist ein verlässlicher Indikator für die Friedfertigkeit der angeblich so gefährlichen Opposition, gegen die sie sich gemeinsam mit der Regierung, allen etablierten Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten, Theatern, NGOs, Redaktionen, Schulen und Bordellen stemmen. Von den meisten Kämpfer*innen gegen »rechts« würde man nicht einmal die Nasenspitze sehen, wenn sie Nachteile davon hätten.

Aus Izmir, dem ehemaligen Smyrna (also einer Stadt, die den Namen einer Amazone trug), schreibt Hüseyin *** eine »kurze Anmerkung zu Bremen. Von linker Seite hört man jetzt Argumente wie: Gewalt gegen ›Nazis‹ die Hass schüren sei legitim oder wer Hass sät, wird Hass ernten oder ähnliches wie, eine andere Sprache verstünden diese Leute nicht usw. Jetzt also, wenn es in ihrem Sinn passt, dann ist Gewalt ok, richtig und legitim.
Aber, gehen wir mal davon aus, dass die Angreifer höchstwahrscheinlich männlich waren. Ist das dann am Ende nicht ein Eingeständnis, für das Grobe, für die Drecksarbeit auf Männer angewiesen zu sein? Ohne Männer kann also Kampf gegen ›rechts‹ in ihrem Sinne nicht stattfinden. Grüne, Feministen und Buntisten sind auf Männer, hinlangende, Brutalität anwendende Männer angewiesen. Wenn es ihren Zwecken dient, dann ist Gewalt von Männern wieder gut und nützlich.«
12. Januar
»Sieh da! Sieh da, Relotius,
Die Kraniche des Ibykus!« –
PS: »Sieh da! Sieh da, Timoteus,
Die Enten des Relotius!«
(Leser ***)

Apropos: Der allzeit lesenswerte Wolfgang Röhl erklärt auf so luzide wie deftige Weise, warum die Affäre um den Verbreiter erwünschter Märchen bzw. Lügen folgenlos bleiben wird: »Kurz bevor der Skandal durch eine amerikanische Internetseite ins Rollen gebracht zu werden drohte, schaltete Klusmann (Spiegel-Chefredakteur – M.K.) in den Modus Vorneverteidigung. Gab vor, man sei dem hauseigenen Fälscher sozusagen hauseigen auf die Schliche gekommen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass es ein misstrauischer Kollege war, der Relotius entlarvt hatte. Und zwar gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten, die zu Relotius hielten und den Fotografen wegen seines Verdachts monatelang gemobbt und implizit mit Kündigung bedroht hatten.
Der Dreistigkeit, die erzwungene Enttarnung eines jahrelang vom Spiegel hofierten Gauners so zu verkaufen, als zeige sich gerade darin die Größe und Ehrenhaftigkeit des Hamburger Magazins, dieser abgekochten Rotzfrechheit gebührt allerhöchste Anerkennung. Die Nummer sollte rhetorischer Baustein künftiger Seminare über die Kunst der Krisenkommunikation werden.«

Wenn die Welt draußen vorm Balkonfenster so weiß aussieht wie der Park um die Ecke, dann war früher Winter. Heute ist Klimakatastrophe. Die Bewertung der Auswirkungen muss sich freilich erst noch einpendeln. »Schon jetzt gibt es messbar weniger Schnee. Werden unsere Winter grün? Und was bedeutet das für die Skigebiete?«, bangte vor zehn Tagen der Bayrische Rundfunk. Merke: Egal ob viel Schnee oder keiner, Schuld trägt der Mensch, also praktisch Sie, und wer Zweifel anmeldet, denkt im günstigsten Falle unterkomplex, ansonsten schlicht bösartig. Ich war im sogenannten Extremwinter 1978/79 in einem mecklenburgischen Kaff eingeschneit (die Armee suchte damals mit Stangen nach komplett vom Schnee zugedeckten Eisenbahnzügen), in meine Amtszeit bei Focus fiel die Lawinenkatastrophe von Galtür, und im sogenannten Jahrhundertsommer 2003 war sogar Lance Armstrong dehydriert, aber damals wussten wir noch nicht, dass die Natur zurückschlägt. Heute kann keiner mehr sagen, Claudia Kipping-Eckardt hätte ihn nicht gewarnt. Aber einige wollen ja nicht hören …

»Woher kommt es, dass ein Hinkender uns nicht erzürnt und ein hinkender Geist uns erzürnt? Das kommt, weil ein Hinkender erkennt, dass wir gerade gehen, und ein hinkender Geist sagt, wir seien die Hinkenden«, notierte Pascal (dem die Affirmative Action noch nicht geläufig sein konnte).

Und nochmals Pascal: Das »ganze Unglück der Menschen«, so schrieb er bekanntlich, rühre daher, »dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können«. »Doch da ich es genauer bedachte und nachdem ich den Grund für all unser Unglück gefunden hatte, wollte ich dessen Ursache(n) entdecken, und ich habe gefunden, dass es eine ganz sichere gibt, die im natürlichen Unglück unserer schwachen und sterblichen Beschaffenheit besteht, die so elend ist, dass uns nichts trösten kann, wenn wir sie recht bedenken.«
Also, schließt Pascal, bestehe das wirkliche Glück – er sagt wörtlich »das einzige Gut« – der Menschen darin, »dass sie von den Gedanken an ihre Lage abgelenkt werden«. Der Franzose stellt sich praktisch gegen die gesamte Zunft der Philosophen, indem er nicht Sammlung, Kontemplation und ein maßvolles Leben preist, sondern die Zerstreuung, weil ausschließlich Zerstreuungen – nicht Ruhm und Besitz, nicht Königtum, ja nicht einmal die Wonnen der Transzendenz – den Menschen sein Elend komplett vergessen lassen, wenn auch nur für kurze Zeit. Stimmt, notierte ich mir an den Rand des Buches, niemand denkt während eines großen Fußballspiels an den Tod. Außerhalb von Kriegs- und Krisenzeiten vermag nichts die Zeitspanne von anderthalb Stunden vollständiger und fesselnder zu füllen, nicht einmal ein erradelter Alpenpass oder eine erotische Feier. Vor die Wahl gestellt zwischen entweder Bayern gegen Dortmund oder, sagen wir: Megan Fox, wäre meine Entscheidung klar. (Und das hat nichts mit meinem relativen Angegammeltsein zu tun; vor vielen Jahren, damals befand ich mich noch in jenem Alter, wo sich im Grunde alles um die Balz dreht, saß ich in Erwartung eines wichtigen Fußballspiels, das gleich angepfiffen werden würde, mit zwei Freunden in meiner Schwabinger Wohnung vor dem Fernseher, als es klingelte. Nicht aufmachen, lautete der spontane Entschluss. – »Und wenn es eine Frau ist?« – »Dann erst recht nicht.« – »Und wenn Pamela Anderson vor der Tür stünde?« – »Dann würde ich ihr sagen: Sind Sie wahnsinnig, jetzt hier zu klingeln?!«)
Nun lese ich in Michel Houellebecqs soeben erschienenem Roman Serotonin den Satz: »Das Verlangen nach einem Sozialleben lässt mit zunehmender Reife nach, irgendwann sagt man sich, dass man sich ausreichend mit der Sache beschäftigt hat, und außerdem hatte ich in meinem Zimmer einen SFR-Decoder installiert, ich hatte Zugang zu mehreren Sportkanälen und verfolgte die französischen, deutschen, spanischen und italienischen Fußballmeisterschaften, das waren einige Stunden erklecklicher Unterhaltung, hätte Blaise Pascal einen SFR-Decoder gehabt, dann hätte er vielleicht ein anderes Liedchen angestimmt.« Nein, im Gegenteil, es hätte ihn beim Absingen seines Liedchens bestärkt, aber ansonsten d’accord, Monsieur H.

Das führt zu der Frage, ob ich auch Houellebecqs neuen Roman empfehlen kann. Im Grunde schreibt der Franzose ja immer wieder denselben Roman in immer neuen Variationen fort, aber ich musste jedes dieser Bücher sofort lesen; insofern ist die Empfehlung ausgesprochen. Als Brennpunkt sämtlicher Zeitströmungen, als Symptombeschreiber (und -verkörperer!), als unabhängiger, freier und zuweilen prophetischer Kopf – diesmal scheint er mit den blutigen Bauernprotesten, die der Roman thematisiert, die »Gelbwesten« vorweggenommen zu haben – ist Houellebecq der bedeutendste Literat unserer Zeit, also einer der wenigen, die bleiben werden. Als Stilist, Personenschilderer, Handlungskonstrukteur, im engsten Sinne Romancier ist er obere Mittelklasse. Mit diesem Zwiespalt muss der Leser leben. Seine Frauenfiguren unterscheiden sich kaum voneinander – es gilt der alte Spruch: Woman is a life support system for a cunt –, und der Ich-Erzähler ist stets derselbe. Seine notorischen Sex-Szenen überfliege ich, in Serotonin erspart er uns nicht einmal eine Version mit drei verschiedenen Hunden, und doch schafft dieser Kerl es immer wieder, in wenigen Sätzen eine Trostlosigkeit und Verzweiflung zu erzeugen, wie es eben nur große Literatur vermag. Außerdem ist Houellebecq auf verlässlich schamlose Weise zynisch, er erteilt dem intellektuellen Gesellschaftsklimaschädling das Wort, der heutzutage oft ein situiertes Dasein auf Kosten anderer mit linksgrünen Anschauungen und der unnachsichtigen Verfolgung von Falschmeinern verknüpft (und meistens kinderlos ist):



