... meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann

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»Bald kommen Befehle aus Konstantinopel«, hörte ich ihn sagen, »ihr Christenhunde werdet weggeschickt. Ob Mann, Frau oder Kind, keiner, der Mohammed verleugnet, darf bleiben. Wenn es so weit ist, kann niemand außer mir euch retten. Gib mir das Mädchen Arshaluys, und ich nehme eure ganze Familie unter meinen Schutz, bis die Krise vorbei ist. Weigerst du dich, so weißt du, was euch erwartet!«
Mein Vater brachte vor Furcht und Entsetzen kein Wort heraus. Meine Mutter schrie auf. Ich bat sie, mich hinuntereilen zu lassen, um mich selbst dem Pascha anheimzugeben. Alles wollte ich tun, um sie, Vater und meine Geschwister zu retten. Da bekam Vater seine Stimme wieder in den Griff, und ich hörte ihn zum Pascha sagen: »Gottes Wille geschehe – niemals würde Er wollen, dass mein Kind sich für uns opfert, um uns zu retten.«
Meine Mutter drückte mich noch fester in ihre Arme. »Dein Vater hat gesprochen, für dich und für uns.«
Hüseyin Pascha verließ wütend das Haus, steif marschierte seine Leibgarde hinter ihm her. Kaum war er verschwunden, entstand auf den Straßen ein großes Durcheinander.
An allen Ecken kamen die Menschen in Scharen zusammen. Männer kamen eilig zu uns ins Haus mit Nachrichten, die gerade ein Reiter in wilder Hast aus Kharput überbracht hatte: »Massenmorde in Van! Männer und Frauen werden in Stücke gehackt! Kurden stehlen die Mädchen!«
Van ist die größte Stadt Armeniens. Einst war sie die Hauptstadt des Königreichs Vannic der Königin Semiramis. König Aram – so lehrte man es uns – hatte Van erbaut, die auch die Heimatstadt von Xerxes war. Sie liegt mitten in der Landschaft, die nach der Sintflut zuerst vom Wasser befreit war, nicht weit von dem heiligen Ort, an dem die Arche Noah zum Stillstand kam. Uns Armeniern ist diese Stadt lieb und teuer, sie war eines der Zentren unserer Kirche und des kulturellen Lebens unseres Volkes. Sie liegt 200 Meilen von Tschemschkadsag entfernt und war die Heimatstadt von mehr als 50 000 Armeniern. Der Vali von Van, Generalgouverneur Djevdet Bey8 war der wichtigste türkische Herrscher in Armenien – und der grausamste. Ein Massaker in Van, das bedeutete, dass es bald auf ganz Armenien übergreifen würde!
Sie brachten den Reiter aus Kharput zu uns nach Hause, und mein Vater versuchte, ihn genauer zu befragen, aber er konnte nur ständig hervorbringen:
»Ermenleri hep kesdiler – hep gitdi bitdi!«
»Alle Armenier ermordet – alle dahin! Alle tot!«
So klagte er wieder und wieder. Die Nachricht war per Telegraf nach Kharput gekommen, und der Reiter – er kam ursprünglich aus unserer Stadt – war sofort losgeritten, um uns zu warnen.
Ich bat meine Eltern, mich zum Palast des Hüseyin Pascha eilen zu lassen, um ihm zu sagen, ich würde tun, was er wolle, falls er meine Familie noch rechtzeitig vor den Befehlen zu den Übergriffen retten würde. Aber Mutter hielt mich fest, während Vater schlicht sagte: »Gottes Wille geschehe, und das wäre nicht sein Wille.«
Lusanne weinte. Die kleine Arusyag und Sara, meine jüngeren Schwestern, weinten auch. Vater war sehr bleich, und ihm zitterten die Hände, als er sie mir auf die Schultern legte und versuchte, mich zu trösten. Ich schloss die Augen und sah meinen Vater, meine Mutter und meine Geschwister vor mir, wie sie während des Massakers, das ich kommen sah, früher oder später tot dalagen. Doch ich könne sie retten, hatte Hüseyin Pascha gesagt. Aber wie konnte ich meinem Vater nicht gehorchen? Da kam mir Pater Rhoupen in den Sinn.
Sofort löste ich mich von meiner Mutter und rannte durch den Hinterausgang aus dem Haus in die Kirchenstraße, wo Pater Rhoupen gerade vergeblich auf seine Gemeinde wartete. Niemand hatte den Mut gehabt, dem ehrwürdigen Mann die Nachricht aus Van zu übermitteln. Als ich in die Sakristei, den kleinen Raum hinter dem Altar, gelaufen kam, wunderte er sich, dass seine Gläubigen noch nicht da waren.
Ich fiel ihm zu Füßen, und es dauerte lange, bis ich aufhören konnte zu weinen, um ihm zu berichten, warum ich hier war. Aber er wusste sofort, dass etwas passiert war. Er strich mir übers Haar und wartete ab. Als ich in der Lage war zu sprechen, erzählte ich ihm vom Besuch und vom Ansinnen Hüseyin Paschas und auch von der Botschaft des Reiters. Ich flehte ihn an, mir das Recht zuzusprechen, den Pascha zu benachrichtigen, dass ich mich ihm als Konkubine zur Verfügung stellen wolle, vorausgesetzt, er werde meine Eltern und Geschwister retten.
Pater Rhoupen ließ mich alles ein zweites Mal erzählen. Dann legte er mir seine Hand auf den Kopf und sagte: »Lass uns Gott fragen, mein Kind!«
Dann betete Pater Rhoupen.
Er bat Gott, mich auf den Weg zu führen, den ich gehen sollte. Ich kann mich nicht mehr an das ganze Gebet erinnern, denn ich weinte zu bitterlich und hatte zu viel Angst, aber ich weiß, dass der Priester für mich und die Meinen betete und dass er Gottvater daran erinnerte, dass wir Armenier seine ersten Glaubensanhänger waren und ihm durch viele Jahrhunderte voller Verfolgungen treu geblieben waren. Während des Gebetes beruhigte ich mich und begann zu lauschen, in der Hoffnung, mit eigenen Ohren die Antwort hören zu können, die nach Pater Rhoupens flehentlichen Worten von da oben kommen musste.
Als er Amen sagte, kniete sich der Priester mit mir nieder, und wir warteten beide ab. Plötzlich presste mich Pater Rhoupen an seine Brust und begann zu sprechen:
»Der Weg ist klar, mein Kind. Die Antwort ist gekommen. Vertraue auf Jesus Christus, und er wird dich retten, so wie es ihm am besten erscheint. Es wäre besser für dich, notfalls zu sterben, als durch dein Vorbild andere dazu zu verführen, ihrem Glauben an den Erlöser abzuschwören. Geh zurück zu deinem Vater und zu deiner Mutter und tröste sie, aber gehorche ihnen.«
An diesem und dem nächsten Tag ritten Boten zwischen Kharput und unserer Stadt hin und her und brachten die letzten spärlichen Nachrichten aus Van. Wir hörten mit Freude, dass sich dort Armenier verbarrikadiert hatten und zurückfeuerten, aber wir fürchteten die Folgen. Niemand in unserer Stadt schlief in dieser Nacht. Den Tag und die Nacht über gingen Pater Rhoupen, seine Diakone und auch die Lehrer des christlichen Gymnasiums von Haus zu Haus, um gemeinsam mit den Familien zu beten.
Die einflussreichsten Männer der Stadt warteten auf Hüseyin Pascha, um von ihm zu erfahren, ob wir in Gefahr seien. Er sagte ihnen, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, und bei den Unruhen in Van handele es sich um eine Revolte. Mein Vater und meine Mutter klammerten sich begierig an dieses vage Sicherheitsversprechen. Aber am Dienstag wussten wir, dass man uns getäuscht hatte, denn an diesem Morgen ordnete Hüseyin Pascha an, die Tore des Bezirksgefängnisses zu öffnen und die Kriminellen, die dort in Haft saßen, freizulassen und zu seinem Palast zu bringen.
Eine Stunde später wurde jeder dieser Gesetzesbrecher in eine Gendarmenuniform gesteckt, bekam ein Gewehr, ein Bajonett und einen langen Dolch, und alle stellten sich auf dem Stadtplatz in einer Reihe auf, um auf Befehle zu warten. So gehen die Türken in der Regel vor, wenn schmutzige Arbeit ansteht.
Am Mittag ritten Offiziere der Militärpolizei, Zaptiye genannt, durch die Stadt und befestigten an jeder Straßenecke, an Hauswänden und Zäunen Zettel mit einem Aufruf an die Bevölkerung.
Vater war früh am Morgen nach Kharput geritten, um sich dort mit einflussreichen armenischen Bankiers zu beraten und sich direkt an Ismail Bey9, den Vali, zu wenden. Mutter war vor lauter Kummer zu schwach, um zur Straßenecke zu gehen und den Aufruf zu lesen. Also ging ich zusammen mit Lusanne hin. Der Aufruf lautete:
Armenier
Ihr seid hiermit von seiner Exzellenz Hüseyin Pascha dazu aufgerufen, sofort in eure Häuser zu gehen und euch so lange darin aufzuhalten, bis es seiner Exzellenz gefällt, euch wieder euren Geschäften nachgehen zu lassen. Alle Armenier, die ab heute eine Stunde nach zwölf Uhr mittags noch auf den Straßen, an ihrem Arbeitsplatz oder anderswo außerhalb ihrer Wohnräume angetroffen werden, werden festgenommen und schwer bestraft.
(unterzeichnet) Ali Aghazade der Bürgermeister
Als wir das unserer Mutter berichteten, war sie wegen Vaters Abwesenheit in Kharput sehr besorgt. Er konnte am Nachmittag jederzeit in die Stadt zurückkommen, ohne die Anordnungen zu kennen und auf der Straße festgenommen werden. Unser Bruder Paul, fünfzehn Jahre alt, war gerade bei den Nachbarn zu Besuch. Wir schickten ihn durch enge Hintergassen aus der Stadt hinaus auf eine Ebene, von der aus er die Straße gut übersehen konnte, die unser Vater entlangkommen musste. Sollte er noch vor Sonnenuntergang auftauchen, konnte Paul ihn rechtzeitig warnen.
Später bekamen wir noch allen Grund, dankbar zu sein, dass Vater nicht anwesend war.
Wir konnten uns nicht vorstellen, was dieser Befehl zu bedeuten hatte. Nie hätten wir geglaubt, dass vorsätzlich ein Massenmord geplant war und dass der Trick, uns in unseren Häusern festzuhalten, dazu diente, den Zaptiye das Spiel zu erleichtern.
Um vier Uhr nachmittags marschierten Gendarmen – unter ihnen die entlassenen Kriminellen – vor den Häusern der wohlhabendsten Männer auf und übergaben ihnen den Befehl, einer Audienz bei Hüseyin Pascha beizuwohnen.
Als Mutter dem Gendarmerieoffizier an unserer Haustür erklärte, dass mein Vater nicht da sei, durchsuchten die Zaptiye unser Haus und stießen meine Mutter grob beiseite, wenn sie ihnen in den Weg trat. Dann verlangten sie die Schlüssel zu Vaters Arbeitsplatz. Als Lusanne hinauflief, sie zu holen, bestand der Gendarmerieoffizier darauf, sie zu begleiten. Während sie die Schlüssel aus Vaters Arbeitsraum holte, umarmte er sie und riss ihr das Kleid auf. Als sie aufschrie, schlug er ihr so fest ins Gesicht, dass sie hinfiel. Er ließ sie liegen und ging mit seinen Männern hinaus.
Von unseren Fenstern aus konnten wir den Stadtplatz gut überblicken. Dort versammelten die Zaptiye fünfzig der führenden Persönlichkeiten der Stadt. Unter ihnen befanden sich Pater Rhoupen, der Direktor des christlichen Gymnasiums, das von amerikanischen Missionaren gegründet worden war, mehrere Professoren und Ärzte, Bankiers, die wichtigsten Händler und andere Geschäftsleute.
Die Aufseher führten die Festgenommenen jedoch nicht zum Palast des Paschas, sondern lenkten sie in einen anderen Stadtteil um. Bald erfuhren wir, dass sie nicht zu einer Audienz mit dem Machthaber, sondern ins Gefängnis gebracht wurden, das am Morgen ja wohlweislich vom Mutessarif geleert worden war.
Viele Frauen ignorierten den Hausarrestbefehl, sobald sie begriffen, wohin man ihre Männer schickte. Sie rannten auf die Straße und versuchten, zu der Gruppe ihrer Männer vorzudringen. Die Gendarmen schlugen sie mit ihren Gewehrkolben beiseite. Einer Frau, der Gattin eines Professors, gelang es, bis zu ihrem Mann durchzubrechen. Ein Gendarm versuchte, sie wegzuzerren, aber sie klammerte sich fest an ihren Mann. Der Polizist drehte sein Gewehr um und erstach sie mit dem Bajonett. Ihr Gatte sprang dem Soldaten an die Kehle und wurde von einem anderen Gendarmen getötet.
Die Festgenommenen wurden gezwungen, über die Leichen des Professors und seiner Frau hinweg weiterzumarschieren, während deren Kinder, die auch aus dem Haus gelaufen waren, daneben standen und weinend die Hände rangen, bis die Gruppe weg war und man ihnen erlaubte, ihre toten Eltern in ihr Haus zu schleppen. Keiner von uns allen, die das beobachteten, wagte es, diesen Kleinen zu helfen.
Das Gefängnis, ein weitläufiges Gebäude aus Stein, ursprünglich ein Kloster, wurde vor mehr als 700 Jahren erbaut. Im Jahre 1580 übernahmen es die Türken und nutzten es seither als Gefängnis. Es war von einer hohen Mauer umgeben und hatte einen geräumigen Innenhof, zu dem hin sich die großen vergitterten Gefängnisräume öffnen ließen.
Den ganzen Nachmittag warteten Mutter, Lusanne und ich voller Angst auf Vaters Rückkehr aus Kharput. Gegen Abend kam ein Gendarm und fragte, ob Vater zurück sei; man vermisse ihn bei der Audienz mit dem Mutessarif. Mutter fragte, warum man die Männer alle ins Gefängnis gebracht habe, wenn der Mutessarif sie doch im Palast sprechen wolle. Der Gouverneur habe es so für bequemer gehalten, denn der Palast sei so weit weg, erklärte der Gendarm, und wir waren ein wenig erleichtert. Als aber der Abend kam und die Männer immer noch nicht nach Hause entlassen worden waren, gerieten wir wieder in große Sorge. Wir bekamen Angst, dass man auch Vater und Paul festgenommen hätte.
Als es schon dunkel geworden war, konnten die Frauen und Töchter der Gefangenen die Verzögerung der Haft nicht mehr ertragen. Den Anordnungen zuwider, begannen sie, sich auf den Straßen zu versammeln, Frauen, Kinder und sogar besonders mutige Männer machten sich in kleinen Gruppen auf zum Gefängnis. Fast bis Mitternacht warteten sie da draußen, um wenigstens einen Blick ihrer Angehörigen aufzufangen oder um zu lauschen, was sich drinnen abspielte. Um elf Uhr öffneten sich die Tore und Hüseyin Pascha kam in seiner Kutsche heraus, von einer schwer bewaffneten Garde berittener Soldaten eskortiert.
Die Frauen umringten ihn, aber die Soldaten trieben sie auseinander. Kaum war die Kutsche mit dem Pascha außer Sicht, setzte im Gefängnis ein Rufen und Schreien ein. Lusanne und ich – auch wir hatten uns heimlich an die Gefängnismauer geschlichen – rannten erschrocken nach Hause. Vater und Paul waren da, sie waren spät am Abend eingetroffen.
Vater sah sehr bedrückt aus. Er nahm mich in den Arm und küsste mich auf seltsame Art. Große Tränen standen ihm in den Augen, als ich ihn ansah. Ohne Fragen zu stellen, wusste ich, dass sein Schutzgesuch in Kharput erfolglos gewesen war. Wir blieben die ganze Nacht auf, und vom Gefängnis her drangen die Schreie bis zu uns.
Am nächsten Tag erfuhren wir, was geschehen war, als der einzige Mann, der ihnen entwischen konnte, sich heimlich nach Hause schlich, um sich zu verstecken.
Als Hüseyin Pascha im Gefängnis eingetroffen war, hatte er den dort Versammelten gesagt, es sei ein neuer Befehl aus Konstantinopel gekommen. Die Armenier seien der Türkei gegenüber nicht loyal und sie planten, die Alliierten zu unterstützen. Er hatte die Festgenommenen gefragt, was sie über solche Pläne wüssten. Jeder Einzelne hatte ihm versichert, es gebe keine derartigen Pläne und dass die Armenier einfach nur in Frieden mit ihren türkischen Nachbarn lebten, dem Sultan gehorchten und alle Dienste, die er von ihnen verlangte, ausführen wollten. Hüseyin hatte sich schließlich überzeugt gegeben und den Männern, bevor er ging, zugesichert, sie könnten am nächsten Morgen alle nach Hause zurückkehren.
Während sich die Festgenommenen gegenseitig zu ihrer baldigen Freilassung beglückwünscht und gehofft hatten, einen Weg zu finden, in der Zwischenzeit schon ihre Angehörigen zu informieren, waren die Soldaten erschienen und hatten alle Männer in eine Ecke im Hof getrieben. Dann hatten sie jeweils einen von ihnen ergriffen, ihn umringt und ihm befohlen zu bekennen, dass er an einer Verschwörung gegen den Sultan beteiligt sei.
Jeder Einzelne hatte entschieden widersprochen und erklärt, er habe nichts zu bekennen. Dennoch hatte man ihn nackt ausgezogen, und die Gendarmen hatten mit einer Peitsche mit Lederriemen auf seinen Rücken eingeschlagen, bis er ohnmächtig geworden war. Dann hatte man einen nach dem anderen beiseitegeworfen, um sie erneut auszupeitschen, sobald sie wieder zu sich gekommen waren. Schließlich war jeder Soldat mit den Peitschenriemen zu Werke gewesen, und alle waren müde. Acht der älteren Festgenommenen waren unter den Peitschenhieben gestorben. Ihre Leichen wurden in eine Ecke des Gefängnisses geworfen.
Als sie gerade dabei gewesen waren, Pater Rhoupen auszupeitschen, hatte sie ein Offizier unterbrochen und gemeint, es sei doch nur Zeitverschwendung, einem Priester noch die Peitsche zu geben, die Priester würden doch sowieso alle getötet werden. Er hatte sich an Pater Rhoupen gewandt und ihm gesagt, er könne überleben, falls er seinem Glauben an Christus abschwöre und Mohammedaner werde. Wenn er sich weigere, werde er totgeschlagen.
Der arme Pater Rhoupen war fast zu schwach gewesen, um zu antworten. In dem Moment, als die Soldaten ihn auf Befehl des Offiziers losgelassen hatten, war er zusammengebrochen. Er hatte versucht zu sprechen, und sein Kopf hatte sich dabei hin und her bewegt. Der Türke hatte gedacht, er wolle so seine Bekehrung andeuten.
»Stellt ihn auf die Füße!«, hatte der Offizier angewiesen. Zwei Soldaten hatten ihn aufgerichtet, und der Offizier hatte ihm befohlen, das islamische Glaubensbekenntnis nachzusprechen: »Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet.«
»Es gibt nur einen Gott«, hatte Pater Rhoupen begonnen, so deutlich er konnte, den Blick fest auf den grausamen Offizier gerichtet. Er hatte den Satz unterbrochen, tief eingeatmet und war dann fortgefahren: »… und Jesus Christus, sein Sohn, ist mein Erlöser!«
Der Offizier hatte sein Schwert gezogen und Pater Rhoupen den Kopf abgeschlagen.
Professor Poladian war der Nächste gewesen, dem man das Angebot gemacht hatte, mit der Bekehrung zum Islam sein Leben zu retten. Professor Poladian war einer der beliebtesten Menschen in Armenien gewesen. Er hatte an der Yale-University studiert, in den Vereinigten Staaten, und von England und Frankreich hohe Auszeichnungen für seine edlen Taten erhalten. Er war schon sehr alt gewesen. Ich hatte ihn mehr als jeden anderen Mann außer meinem Vater gemocht, denn einmal – ich war noch klein –, als ich krank war und zu Hause weinte, weil ich nicht zu dem Weihnachtsbaum in der Schule konnte, an den Professor Poladian für jedes kleine Mädchen von Tschemschkadsag einen Bonbonbeutel gehängt hatte, hatte er meine Schwester Lusanne, als alle Kinder den Baum umringten, gefragt, warum ich nicht dabei wäre. Als er gehört hatte, dass ich krank war und weinte, war er den ganzen Weg bis zu uns nach Hause gefahren, etwa zwei Meilen, hatte mir den Bonbonbeutel gebracht und mir die Weihnachtsgeschichte über Christi Geburt erzählt. Ich erinnere mich, dass ich in der Zeit danach immer nach meinem Gebet zu Gott noch zu Professor Poladian beten wollte, bis meine Mutter mir verständlich machen konnte, warum ich das nicht tun solle.
Professor Poladian war nicht ausgepeitscht worden, aber der Offizier hatte gesagt, man hätte ihn nur verschont, damit er dem Islam die Treue schwöre. Der Professor war fast am Ende seiner Kräfte gewesen, zutiefst betrübt und voller Mitleid mit seinen Freunden, deren Qualen er hatte mitansehen müssen, doch er hatte dem Offizier versichert, lieber gebe er sein Leben hin, als seinen Glauben zu verleugnen. Da hatten ihm die Soldaten die Fingernägel herausgezogen, einen nach dem anderen, dann auch die Fußnägel, sie hatten ihm die Kopf- und die Barthaare ausgerissen und dann mit Messern auf ihn eingestochen, bis er starb.
Die ganze Nacht hörte man die Schreie aus dem Gefängnis. Die Frauen, die vor dem Gefängnis warteten, waren außer sich vor Entsetzen. Im Morgengrauen trieben Soldaten die Frauen auseinander und sagten, bald wären ihre Männer wieder zu Hause.
Sobald die Frauen außer Sicht waren, ergriffen die Soldaten die Männer, die die Torturen überlebt hatten, banden sie mit einem langen Strick zusammen, trieben sie hinter dem Gefängnis längs und aus der Stadt hinaus, etwa zehn Meilen weit, bis zum Fluss Murat10. Als sie das Ufer des Flusses erreichten, stürzten sich die Soldaten mit ihren Bajonetten auf die Armenier und erstachen sie. Nur einer entkam. Er hatte sich einen Toten über den Körper gezogen und sich tot gestellt.
Am Tag danach, einem Donnerstag, also dem Tag vor dem mohammedanischen Sonntag, marschierten die Soldaten um neun Uhr morgens durch die Straßen und riefen alle armenischen Männer über achtzehn Jahre auf, sich auf dem Stadtplatz zu versammeln.
In jeder Straße machte vor jeder Haustür ein Offizier Halt und kündigte an, jeder Mann über achtzehn, der in einer Stunde nicht auf dem Platz erschienen sei, werde getötet.
Mutter, Lusanne und ich flogen in Vaters Arme. Jede versuchte, ihm die Arme um den Nacken zu schlingen. Er war sehr betrübt und ruhig. »Alle nacheinander, meine Lieben«, sagte er, und wir blieben stehen, als er sich der Reihe nach von jedem von uns verabschiedete und jeden küsste. Die kleine Sara, sieben Jahre alt, und Hovnan, sechs, hielt er lange in seinen Armen. Dann küsste er mich auf die Lippen, was er vorher nie getan hatte. Zu Mutter sagte er, sie dürfe nicht weinen, sondern müsse ganz stark sein.
Dann ging er hinaus.