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„Du ziehst dich sicher noch um?“
„Wenn es unbedingt sein muss. Es ist doch so heiß!“, maulte sie widerwillig.
Butch war auf dem Weg zu Radek. Er drückte die alte Eisenklinke des schweren Holztors herunter. Seinen Freund entdeckte er zwischen der Scheune und dem ehemaligen Stall im Innenhof des malerischen Vierseitgehöfts. Radek war dabei, drei frisch geschlachtete, bereits entblutete, nackte Kaninchen von den Schlachthaken zu nehmen. Diese hingen an einem leidlich gespannten, krummen Draht zwischen zwei eingerammten Holzstangen.
„Ah, Butch! Ich muss nur eben die Kaninchen kühl lagern.“ Mit diesen Worten verschwand Radek hinter der Steinmauer des alten Stalls.
Im Hof staute sich bereits die Julihitze. Von allen Vorsprüngen der abblätternden Sprossenfenster zum Hof rankten Petunien – lila, weiß und rosa leuchtend. Das war Marias Werk. Geschickt kaschierte sie mit der blühenden Pracht das brüchige Mauerwerk der alten Funktionsgebäude. Kurz zuvor hatte sie wohl gegossen, denn die Steine unter den Blumen glänzten feucht.
„Hast du was verkauft?“, erkundigte sich Butch, als Radek wieder auftauchte.
Butch kannte keinen Menschen, der mit größerer Leidenschaft Hasen züchtete. Den Grund hierfür hatte er im Lauf der Zeit erfahren. Als Radeks Familie auf Geheiß der Kommunisten sämtliches Vieh zugunsten einer Kolchose genommen worden war, hatte er mit der Hasenzucht begonnen. So hatten sie wenigstens Fleisch und Radek seine geliebten Tiere um sich. Inzwischen päppelte er seine mickrige Rente damit auf.
Radek grinste übers pausbäckige Gesicht und wischte sich die derben Hände an der ausgebeulten Arbeitshose ab. „Man tut, was man kann“, antwortete er verschmitzt und zog seine Hosenträger zu einer prahlerischen Pose nach vorn. „Darauf ein Bier?“, fragte er, während er zu der Kastanie auf der kleinen Rasenfläche im hinteren Teil des Hofs vorausging.
„Lieber nicht“, winkte Butch ab und setzte sich zu Radek an den wackligen Biertisch, „wir werden gleich nach Prag fahren. Geschäftlich.“
Radek lächelte vielsagend: „Ihr habt wieder ein anderes Auto?“
„Stimmt, aber nur einen Leihwagen. Dana hat in den Golf eine ziemliche Delle gefahren. Jetzt lassen wir das reparieren, damit nichts rostet“, gab sich Butch besorgt.
„Dann war das vorhin wohl wieder eine Probefahrt von Dana?“
Butch rieb sich die Kopfhaut und ging nicht weiter darauf ein. Seine Armbewegung hatte einen großflächigen Schweißfleck auf dem langärmligen Baumwollshirt bloßgelegt.
„Morgen spielt Prag gegen die Letten, die WM kann man ja abhaken“, wechselte er schnell das Thema.
„Ach Butch, du weißt doch, dass ich davon nicht viel verstehe. Konnten unsere bei der Weltmeisterschaft denn wenigstens was reißen?“, fragte Radek unsicher.
„Ach was! Wir haben nicht mal die Quali für die WM geschafft“, höhnte Butch.
Radek, der Bauer, der seit ein paar Jahren aus Altersgründen keine Landwirtschaft mehr betrieb, bewunderte den Buchmacher für seine Fußballkenntnisse, der selbst die Namen ausländischer Clubs und Ranglisten aus dem Effeff kannte. Nur fragte Radek ihn viel zu selten danach.
Beide Männer horchten auf. Über die geschlossene Vorderfront des Bauernhofs war ein Auto zu hören. In unmittelbarer Nähe verstummte der Motor.
„Wahrscheinlich ist Lenka gekommen. Sie wird sich ums Haus und die Tiere kümmern, bis wir wieder zurück sind.“ Butch schaute dabei zum Hoftor, als ob er hindurchschauen könnte. „Tut mir leid, dass ich so ungemütlich bin“, entschuldigte er sich und streckte Radek die rechte Hand entgegen. „In ein paar Tagen sind wir wieder da. Und dann gibt’s einen Cognac“, kündigte er augenzwinkernd an.
Radek wischte sich schnell die Hand an der Hose ab, bevor er den Händedruck erwiderte.
Mit einem: „Wir seh’n uns, und grüß mir Maria“ klopfte Butch auf den verwitterten Tisch und eilte über das bucklige Kopfsteinpflaster zum Ausgang.
Eine halbe Stunde später reisten die Svobodas ab.
Kurz hinter Krumlau hatten sie sich an einer Würstchenbude gestärkt. Jetzt fuhren sie entlang der Moldau, die im Hochsommer rudernde Kanu- und Kajakfahrer bevölkerten. Orange und gelbe Schwimmwesten tanzten wie Leuchtpunkte übers unruhige Wasser. Dana beobachtete vom Beifahrersitz aus das bunte Treiben auf dem sich quirlig schlängelnden Fluss. Die Klimaanlage des Wagens blies leise auf Hochtouren.
„Wir fahren aber nicht nach Mannheim?“, durchbrach Dana die schweigsame Fahrt.
Butch sah sie überrascht an. „Was wäre so schlimm daran?“
„Du hast Nerven“, entgegnete Dana verärgert.
„Genau betrachtet, wäre es nicht einmal die schlechteste Idee. Kein Mensch würde damit rechnen“, amüsierte sich Butch.
„Wie kannst du so reden? Es war eine einzige Katastrophe!“ Danas Stimme wurde lauter.
„Schätzchen – keine Katastrophe, sondern Berufsrisiko“, neckte er sie.
„Weißt du eigentlich, dass ich deshalb immer noch schlechte Träume habe?“
„Was gibt es da zu träumen?“, fragte Butch ungerührt.
„Was gibt es da zu träumen?“, äffte Dana ihn nach.
„Du dramatisierst“, versuchte Butch das Thema zu beenden. Er hatte den Vorfall längst abgehakt. Weder beschäftigte noch interessierte es ihn mehr, dass er bei ihrem letzten Ding kurzfristig geglaubt hatte, im Kellertresor eingeschlossen zu sein, und sämtliche Bankangestellten die Gunst des Augenblicks zur Flucht genutzt hatten. Dass sie Dana dabei umgeschubst hatten – ja und? „Ist doch Schnee von gestern.“
Dana ließ nicht locker. „Sei ehrlich: Würdest du es nochmal tun?“
„Was?“
„Na, einem Passanten auf offener Straße die Pistole vor die Nase halten und ihm das Auto klauen?“
Butch wollte darauf nicht eingehen. Nach seinem Dafürhalten hatte es die Situation erfordert.
Dana beugte sich nach vorn, um Butch in die Augen zu
sehen. „Ist dir eigentlich klar, wie gefährlich das war, du
Gentleman?“ In ihrer Stimme lag ein bedrohlicher Unterton.
„Schätzchen, beruhig dich“, beschwichtigte Butch, ohne seinen Blick von der Fahrbahn abzuwenden, „ist doch alles gutgegangen.“ Besänftigend strich er ihr über den linken Oberschenkel. Der leichte Stoff ihrer Sommerhose fühlte sich heiß an.
Butch drückte sich in seinen Sitz und umklammerte nun mit beiden Händen das Lenkrad. Mit diesem Nachspiel hatte er nicht gerechnet, denn nach den Vorkommnissen hatten sie nie wieder darüber geredet. Nicht einmal, nachdem sie das gekaperte Auto abgestellt und die Fahrt in ihrem eigenen Pkw fortgesetzt hatten. Vielleicht hatte sich dazu keine Gelegenheit geboten, als sie entlang der B 38 bis Neustadt konzentriert den krächzenden Ansagen der Polizeifunkzentrale auf dem kompakten Handgerät gelauscht hatten. Doch spätestens ab Speyer Richtung Heilbronn, auf der A 6 gen Osten, wäre Zeit zur Reflektion gewesen. Aber auch da hatten sie kein Wort mehr über das Fiasko gewechselt.
„Dana, sieh es doch mal so: Hunderttausend sind damals rausgesprungen. War doch richtig cool“, versuchte Butch einzulenken. „Und keine Sorge, meine Kleine, diesmal ist es ein Heimspiel. Wir werden alte Bekannte in Karlsruhe besuchen.“
„Wieso? Hast du Heimweh?“ Dana schien irritiert. Butch lachte auf. „So war das nicht gemeint! Ich rede von einer lukrativen Adresse. Ist noch nicht allzu lange her, dass wir dort einen Besuch abgestattet haben.“
„Wenn du meinst.“ Es klang ergeben.
„Ja, ich meine“, betonte er. „Und wenn’s dich beruhigt: Es gibt dort kein Kellergeschoss. Alles ebenerdig. Wir müssen uns also auch nicht trennen.“ Butch wandte sich zu Dana. „Ist das ein Angebot?“
Dana drehte am Strasssteinchen ihres rechten Ohrsteckers und schaute versonnen auf den Moldau-Stausee, den sie das Meer nannte und in dessen stahlblauer Unendlichkeit sich heute unzählige Segelboote verloren.
Sie näherten sich einem dunklen Fichtenwald, der fast bis ans Ufer reichte. Butch bog in einen Waldweg ab. Bald würden sie den versteckten Grenzübergang erreicht haben. Aber war das überhaupt noch von Relevanz? Die Grenze war schließlich offen.
„Welche Uhrzeit hast du geplant?“ Dana versuchte, den Faden wiederzufinden.
„High Noon.“
Auch kein schlechter Western, dachte Butch, aber nicht annähernd so gut wie Butch Cassidy und Sundance Kid.
Karlsruhe, 13. Juli 2010
Vielleicht ist es ja einfacher, eine Bank zu überfallen, als in meinem Alter noch einmal eine Existenz aufbauen zu wollen.
Nur in Momenten größter Selbstzweifel war Wiebke imstande, derlei Gedanken zu entwickeln. Für gewöhnlich neigte sie nicht zu Sarkasmus. Trotzdem entdeckte sie diese unangenehme Eigenschaft zunehmend an sich. Sie schrieb es ihrer Ungeduld zu. Warum auch, zum Teufel, wollte dieses Telefon einfach nicht klingeln? Unablässig trug sie es bei sich, als wäre es angewachsen. Seit zwei Wochen richteten ihre Ohren sich permanent auf das schwarze, rechteckige Ding, aber es schwieg. Am liebsten hätte sie es gegen die Wand gepfeffert. Würde es auch nur ein einziges Mal ertönen, wüsste sie, dass sie irgendjemand wahrgenommen hatte, da draußen in der ihr fremd gewordenen Welt der Redakteure.
Nervös blies sie den Rauch ihrer Zigarette über die betonierte Balkonbrüstung. Unter ihr lag die Stadt im sommerlichen Morgendunst, am Horizont zeichnete sich die Schwarzwaldsilhouette blass ab. Am Abend zuvor hatte sie das Panorama noch in bestechender Klarheit bewundert und erst danach ihr neues Ein-Zimmer-Appartement mit separater Küche, Tageslichtbad und kleiner Diele im zwölften Stock detailliert in Augenschein genommen. Bis dahin hatte sie es nur von Ablichtungen und einer ausführlichen Beschreibung des Vermieters in einem Internetportal gekannt. Die Anmietung war ihr mit erstaunlich wenig Aufwand gelungen, andererseits fand sie ihre Vorgehensweise äußerst gewagt. Nach der Besichtigung hatte sie deshalb erst einmal erleichtert aufgeatmet. An die Höhe allerdings musste sie sich trotz des gigantischen Ausblicks noch gewöhnen.
Sie musterte die Umgebung zu ihren Füßen. Vom hübsch bepflanzten Innenhof des Häuserquartiers unter ihr schweifte ihr Blick über die weitläufige Stadt. Irgendwo da unten, mutmaßte sie, hielten sich all diese Personalleiter versteckt, von denen sie einen Anruf, wenn möglich eine Zusage, ersehnte. Dabei hatte sie bis gestern noch von einer Punktlandung in Karlsruhe geträumt. Ankommen und losarbeiten, so hatte sie es sich in ihrem grenzenlosen Vertrauen auf ihre Heimatstadt ausgemalt, als sie ihre Bewerbungen vor drei Wochen von Hamburg aus losgeschickt hatte. Karlsruhe schien ihr der sichere Hafen, in den zu retten es sich lohnte. Die Stadt war ihr in allen Facetten vertraut und als Residenz des Rechts der optimale Wirkungskreis für eine Polizei- und Gerichtsreporterin. Nach 20 Jahren wieder hier zu leben, gliche einem Déjà-vu, stellte sie sich vor. Jetzt, im Morgenlicht, sah sie ihre Felle davonschwimmen. Vermutlich traf zu, was sie allen Adressaten inzwischen insgeheim unterstellte: Sie war ihnen zu alt.
Wiebkes Fantasie spielte verrückt. Immer tiefer verstrickte sie sich in ihren Argwohn. Was, wenn sie ihr überhaupt nicht antworten durften, überzeichnete sie, wenn in den Büros der Ressortchefs Piktogramme, Verbots- oder Tabuschilder aufgestellt waren, auf denen ein silberhaariges Strichmännchen oder -weibchen mit einem dicken roten Querbalken abgebildet war? Neue Mitarbeiter ab 55 nicht erlaubt!
Sie schalt sich selbst, weiße Mäuse zu sehen. Wie kam sie dazu, ihren potentiellen Arbeitgebern eine derartige Albernheit anzudichten? Altersdiskriminierung bei Medien, deren vordringlichste Aufgabe es war, kritische Aufklärer zu sein? Würde dadurch nicht jeder Artikel, der gegen die Altersproblematik auf dem Arbeitsmarkt anschrieb, ad absurdum geführt, journalistischer Berufsethos nicht sogar in den Grundfesten erschüttert? Andererseits, so führte sie entschuldigend ins Feld, hatte sie das Leben gelehrt, dass es nichts gab, was es nicht gab.
Sie drückte die heruntergebrannte Zigarette in ihren runden, aufklappbaren Taschenaschenbecher, wischte eine Ascheflocke vom Emaildeckel, den ein Bar-Motiv aus den Fünfzigerjahren zierte, und ging durch den hellen Wohn- und Schlafraum zurück in die Küche. Die provisorische Schlafstätte auf dem Fußboden und den Wust unausgepackter Kartons übersah sie geflissentlich.
Auf der kurzen Esstheke, die in den schmalen Schlauch ihrer hochglänzenden, weißen Einbauküche hineinragte, lag ein Stapel Zeitungen, den sie in Allerherrgottsfrühe an einem
Kiosk in der Nähe des Rathauses besorgt hatte. Den Weg dorthin schaffte sie zu Fuß in weniger als fünf Minuten. Sie wohnte zentral an der vierspurig ausgebauten Kriegsstraße, der wichtigsten Ost-West-Achse der Stadt. Über eine Fußgängerbrücke konnte sie diese problemlos überqueren.
Wiebke rutschte auf das lederne Polster des Barhockers. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der rechten Hand unters T-Shirt, um den Hosenknopf unterhalb ihres eingeschnürten Bauchs zu öffnen. Gelöst nippte sie an ihrem Kaffee und griff nach der Zeitung, die obenauf lag. Ihre Augen huschten über die Schlagzeilen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Versonnen sah sie aus dem Fenster, das über die gesamte Breite der Küchenzeile reichte, und verweilte an den prächtigen, alten Bäumen im gepflegten Park des Bundesgerichtshofs. Intuitiv suchte sie das Fenster im Erbgroßherzoglichen Palais, hinter dem bis in die Nacht hinein Licht gebrannt hatte. Ihr kam der Pförtner in den Sinn, der ihr damals stets die neuesten Urteile in dicken Kuverts ausgehändigt hatte. Immer einen lustigen Spruch auf den Lippen, dieser Charmeur. Damals, dachte sie. Damals war ihr die Arbeit zugeflogen.
Vielleicht zermarterte sie ihr Hirn völlig umsonst, versuchte sie sich zu beruhigen. Es gab banalere Gründe für die Nichtbeantwortung von Bewerbungen. Formfehler, Zeitdruck, Krankheit, weiß der Teufel was. Wieder waren da die nagenden Zweifel. Hatte sie sich womöglich zu uninteressant oder ungeschickt beworben? Verwunderlich wäre es nicht, zog sie selbstkritisch in Erwägung, denn während sie ihre Bewerbungsmappen zusammengestellt hatte, befand sie sich in miserabler Verfassung. Es war in der Endphase ihrer Hamburger Ära, da lebten Martin und sie bereits getrennt von Tisch und Bett in der gemeinsamen Wohnung. Betrachtete sie diese Zeit rückblickend, stellte sie sich vor, dass sich so das schleichende Siechtum eines Sterbenden anfühlen musste. Wiebke fand den Vergleich angemessen, denn in all den Wochen war sie vollkommen abgestumpft. Sie fühlte nichts mehr. Nicht den Sonnenschein, nicht den kühlen Wind, nicht die pulsierende Lebendigkeit der Weltstadt, nicht sich selbst. Ihr Leben war nichts mehr als eine leere Hülse.
„Ich habe mich verliebt.“ Wie pubertär dieses Geständnis aus Martins Mund im ersten Moment geklungen hatte! Und doch steckte es am Ende wie eine Klinge in ihrem Herzen, zerstörend, zutiefst verletzend.
Konzentrier dich auf deine Bewerbungen!, ermahnte sie sich und richtete sich mit einem Ruck auf. Gewiss hatte sie eine der vielen Warnungen in den Jobratgebern nicht ernst genug genommen und etwas formuliert, das sie besser nicht so formuliert hätte. So manche Empfehlung war ihr zugegebenermaßen gegen den Strich gegangen, auch einige dieser neunmalklugen Binsenweisheiten. Durfte sie dem Ganzen Glauben schenken, müsste es gerade ihr besonders leicht fallen, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und Ablenkendes zu ignorieren. Diese Fähigkeit, so wurde an einer Stelle allen Ernstes versichert, nehme im Alter zu. Wie lachhaft. Dennoch führte Wiebke den unbefriedigenden Stand der Dinge auf ihr Unvermögen zurück. Ihre Hoffnung auf einen Ehemaligenbonus, gewissermaßen der Strohhalm, an den sie sich klammerte, konnte sie vermutlich auch knicken. War sie wirklich so naiv zu glauben, dass sich in den heutigen Führungsriegen noch irgendjemand an die Polizei- und Gerichtsreporterin Wiebke Wolant von vor 20 Jahren erinnerte? Sachlich betrachtet lag eine ganze Generation dazwischen.
Eine Stunde später hatte sie den Zeitungsstapel durchgearbeitet. Alle Blätter titelten an diesem Morgen mit der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Entlassung eines Straftäters aus der Sicherungsverwahrung erneut abgelehnt und damit einmal mehr die Sicherheit der Allgemeinheit über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestellt hatte. Wiebke verfolgte das juristische Tauziehen mit beruflicher Neugier, es tangierte ihren Themenkreis um Kriminalistik und Strafjustiz.
In diesem Zusammenhang war sie auch auf einen Banküberfall gestoßen, der am Vortag in Karlsruhe verübt worden war. Am ausführlichsten berichtete die Oberrheinische Tageszeitung als auflagenstärkste Regionalzeitung darüber. Neuer Coup der Gentlemen-Räuber bei alter Bank / Phantome wieder aktiv, titelte sie. Nach der Lektüre aller Berichte in verschiedenen Ressorts war Wiebke klar, dass es sich um Wiederholungstäter handeln musste. Einem Mann und einer Frau. Betroffen war eine kleine Bankfiliale, Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, die Beute belief sich auf einige tausend Euro. Bemerkenswert fand sie, dass es sie noch gab: Bankräuber des alten Schlags, die sich zeigten und Barkasse bevorzugten. Sich obendrein wie Bonnie und Clyde gerierten, aber allem Anschein nach unblutig. Trotzdem riskant. Soweit sie wusste, lag die Aufklärungsquote bei diesen Raubdelikten doch recht hoch. Waren ein paar Tausender das wert? Im Cyberspace ließ sich das Geschäft doch längst eleganter über die Bühne bringen. Moderne Bankräuber operierten geräuschlos im World Wide Web, bei weitaus geringerem Risiko und potentiell höherer Beute. Offenbar lebten diese Gentlemen-Räuber außerhalb der modernen Computerwelt. Wie alt wurden sie geschätzt? Wiebke fand dazu keine Angaben.
Am späten Vormittag rang sie sich endgültig durch. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, entschied sie, muss der Berg eben zum Propheten. Die Redaktionsliste steckte zusammengefaltet und griffbereit in ihrer Brieftasche neben Personalausweis und Führerschein. Sie behandelte das Papier wie eine Eintrittskarte in eine geschlossene Gesellschaft. Jeden dieser Ignoranten würde sie jetzt behelligen. Schuldeten sie ihr nicht schon aus Höflichkeit eine Antwort?
Wiebke hielt inne. Da war er wieder, dieser schleichende Anfall von innerer Hitze, der ihr vom Oberkörper bis unter die Haarwurzeln kroch, ihr den Schweiß ins Gesicht trieb. Die Unberechenbarkeit dieses lästigen Altersphänomens nervte sie am meisten. Eine ihrer silbern durchwirkten, brünetten Locken fiel ihr schlaff ins Gesicht. Wiebke setzte sich auf die Couch und wartete darauf, dass ihr Körper wieder auf Normaltemperatur herunterkühlte. Sie strich über die Armlehne ihres rindsledernen Erbstücks mit den unvollzähligen Nietenbeschlägen, das sie bei nächster Gelegenheit wie einen Kinosessel vors Panoramafenster rücken würde. Kritisch betrachtete sie ihre Handoberfläche. Waren es noch Sommersprossen oder schon Altersflecken, die sie übersäten? Sei’s drum.
Nachdem sie sich im Bad erfrischt und ein Glas Leitungswasser getrunken hatte, fühlte sie sich insoweit gestärkt, als dass sie ihren Rundruf von Neuem starten konnte. Sie wählte Nummer um Nummer und erreichte keinen der gewünschten Ressortleiter. Beim sechsten Versuch bestätigte ihr unerwartet eine hektische Männerstimme, dass sie richtig verbunden und er ihr Ansprechpartner sei. Bedauerlicherweise suchten sie derzeit keine Redakteurin, teilte er ihr emotionslos mit. Alternativ böte sich eventuell eine freie Mitarbeit an.
„Liegen uns Arbeitsproben vor?“, wollte er wissen.
„Das ist etwas schwierig“, wich sie aus.
„Wieso das?“, hakte er argwöhnisch nach.
Sie zögerte kurz. Dann erklärte sie ihm mit ruhiger, dunkler Stimme, dass sie zehn Jahre beruflich pausiert habe. Den Bruchteil einer Sekunde hatte sie noch die Formulierung etliche Jahre in Erwägung gezogen – tatsächlich waren es 20 – doch es wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen.
„Gute Frau“, prustete er los, „ stehlen Sie mir bitte nicht die Zeit. Wie soll das funktionieren? In diesem Beruf muss man dranbleiben, anders geht das gar nicht. Ich kann Ihnen bei Ihrer Suche nur Glück wünschen.“
Dann war die Leitung tot.
Wiebke rang um Fassung. Eine Absage hatte sie ins Kalkül gezogen, nicht jedoch eine derartige Abfuhr. Schamvoll malte sie sich aus, wie er nun lauthals im Kreis seiner Kollegen über sie herzog: Stellt euch mal vor, da wollte sich eine Hausfrau bewerben!
Gute Frau. Wie war das zu verstehen? Despektierlich oder typisch badisch? Sie war sich nicht sicher. Trotz allem war sein alternativer Vorschlag, frei mitzuarbeiten, durchaus zu ihr vorgedrungen. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht, ärgerte sie sich. Vor lauter Sicherheitsbestreben hatte sie diese Form der Berufsausübung völlig ignoriert. Dabei hatte sie vor 20 Jahren nichts anderes gemacht, und zwar erfolgreich.
Sie änderte ihre Gesprächsstrategie nun dahingehend, dass sie bei jedem Telefonat auch ihr Interesse an einer freien Redak-
tionstätigkeit bekundete. Wie sich nach einer Stunde herausstellte, mit kläglichem Erfolg. Der Markt an freien Mitarbeitern war offensichtlich gesättigt. Jedenfalls im Dunstkreis jener Regionalzeitungen und Agenturen, für die sie einst geschrieben hatte, war nichts zu holen. Vielleicht lag es ja tatsächlich an der Insolvenz eines privaten Landessenders, auf die sie von einem Ressortleiter hingewiesen worden war.
„Viele Redakteure von dort tummeln sich jetzt auf dem freien Markt“, hatte er sie wohlmeinend gewarnt.
Dies bestätigte sich denn auch in einer ersten Bilanz ihrer Bemühungen. Die meisten Adressen waren durchgestrichen, wenige mit WW gekennzeichnet, was für Wahlwiederholung stand. RR hatte sie sich hinter die Kontaktdaten des zuständigen Ressortleiters bei der Oberrheinischen Zeitung notiert.
Der Rückruf kam abends gegen 19 Uhr.
„Wiebke Wolant!“
„Ansgar Schroeder, Oberrheinische Tageszeitung“, meldete sich eine ältere, sonore Stimme mit unverkennbar norddeutschem Akzent. Sie erinnerte Wiebke an einen Tagesschausprecher. „Ich sollte zurückrufen.“
„Ja, das ist sehr freundlich!“ Ihre dunkle, warme Stimme war nicht weniger markant. „Lassen Sie mich gleich mit der Tür ins Haus fallen: Ich bin an einer Mitarbeit in ihrer Redaktion interessiert.“
„Das sind derzeit ziemlich viele. Kommt darauf an“, antwortete Schroeder gedehnt. „Worüber schreiben Sie bevorzugt?“
„Ich war ... ich meine, ich bin Polizei- und Gerichtsreporterin.“
„Ist selten, dass das eine Frau macht.“ Wiebke hörte feine Atemzüge. Ob er rauchte? „Kommen Sie morgen um zehn zu mir in den Verlag“, sagte er knapp und legte auf.
Ein freundlicher Pförtner wies ihr am nächsten Morgen zur verabredeten Zeit den Weg durch das Verlagsgebäude in der Innenstadt. „Herrn Schroeder finden Sie im zweiten Obergeschoss, links auf der Stirnseite. Da drüben ist ein Fahrstuhl.“
Sie nahm die Stufen durchs enge Treppenhaus des schmucklosen, verlebten Baus aus der Nachkriegsmoderne – ein sicheres Zeichen ihrer Nervosität, denn normalerweise vermied sie unnütze Fußwege. Auf dem letzten Treppenabsatz hielt sie inne. Unverwechselbar schallte Schroeders Stimme über das Stockwerk. „Herrgott, Ulli! Einen schlechteren Zeitpunkt konntest du dir für deine Krankmeldung nicht aussuchen. Du krank, unser Chefreporter auf Fortbildung. Mir bricht die halbe Redaktion weg. Ist dir das klar? ... Mach, dass du auf die Beine kommst. Tschüss.“ Lautstark knallte er den Hörer auf.
Die Bürotür stand offen. Wiebke spannte ihren Körper unter dem dunkelblauen Hängerkleid, nestelte am Stoff unterhalb ihres Gesäßes. Sie tat es zur Kontrolle. Das Missgeschick mit dem verfangenen Saumzipfel in ihrem Slip nach einem Toilettenbesuch hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. Alles war in Ordnung. Aus besonderem Anlass hatte sie sich sogar dezent geschminkt, ein wenig Rouge aufgelegt.
Als sie das Verlagsgebäude zum letzten Mal betreten hatte, war sie Anfang 30 und im landläufigen Sinne wohl auch attraktiv. Hochgewachsen, schlank, ein brünetter Lockenkopf mit dunklen, ausdrucksvollen Augen. Jetzt verdichtete sich die Farbe Silbergrau auf ihrem Kopf. Wiebke betrachtete das Alter als einen natürlichen Prozess der Reife und hatte dafür in ihrem eitlen Hamburger Umfeld häufig genug Befremden ausgelöst. Es focht sie nicht an.
Mit leichtem Schwung klopfte sie an die offene, weiß lackierte Tür und schaute nach links in den Raum.