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Die Freiheit aller wird als konstitutive Freiheit im Licht der Dogmatik der Freiheitsrechte im demokratischen Verfassungsstaat gedeutet. Denn Geltung, Ausprägungen und Verwirklichung der Freiheitsrechte sind nicht nur massgeblich von liberalen Ideen entwickelt und genährt worden; sie vermögen in einer umgekehrten Sichtweise auch die Diskussion in der politischen Theorie über die liberale Freiheit zu befruchten. Ist es nicht erstaunlich, wie wenig sich philosophische Auseinandersetzungen über den Liberalismus in den letzten Jahrzehnten von den verfassungsrechtlichen Freiheitsverwirklichungen und Freiheitsdebatten befruchten liessen?
Von der liberalen Geisteshaltung
Der menschenwürdige Liberalismus wird nicht nur durch die substanzielle Freiheit im Sinn der Selbstbestimmung aller definiert, sondern auch durch eine liberale Geisteshaltung. Liberale Grundwerte wie Mitmenschlichkeit, Demut, Respekt, Toleranz und Fairness verstehe ich im Sinn eines Kompasses, der die Richtung angibt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Liberale Verantwortung äussert sich nicht nur im Was, in der Sorge um die Freiheit, sondern auch im Wie, im Umgang und in der Methode, wie Freiheit zu bestimmen und Freiheitsbedürfnisse aller aufeinander abzustimmen und bestmöglich zu realisieren sind. Hier manifestiert sich besonders deutlich die tugendethische Fundierung des Liberalismus, seine Wertegebundenheit. Ein besonderes Gewicht lege ich auf die liberale Offenheit und ihre Abgrenzung zum Konservatismus, wobei sich die Grenzen je nach Definition als fliessend erweisen können. Liberale bauen Brücken – auf der Basis von Empathie und als Voraussetzung zur wechselseitigen Verständigung.
Selbstverantwortung und Mitverantwortung
Dass Selbstverantwortung im Fokus jeder liberalen Verantwortungsdiskussion steht, erscheint unbestritten. Eine realitätsbezogene Sicht verkennt aber nicht, dass das unabdingbare Postulat der Selbstverantwortung seine Grenzen kennt. Einmal kann es an der individuellen Bereitschaft fehlen, Verantwortung zu übernehmen. Welche Folgerungen zieht der Liberalismus daraus? Eine der drängenden Fragen besteht zudem darin, zu fragen, welcher Voraussetzungen es bedarf, dass Menschen in der Lage sind oder in die Lage versetzt werden können, Verantwortung effektiv wahrzunehmen.
Mitfühlender, sozialer und nachhaltiger Liberalismus
Dies führt mich zur Mitverantwortung, die zur Selbstverantwortung hinzutreten muss – entgegen dem geläufigen Sprachgebrauch, der meistens nur die Selbstverantwortung anspricht. Die liberale Mitverantwortung wird anhand von drei Dimensionen näher beleuchtet. Der mitfühlende Liberalismus gründet auf der Empathie zu Anderen, während der Einbezug der sozialen Voraussetzungen und Bedingungen autonomer Freiheitsausübung zum sozialen Liberalismus führt. Entsprechend ist von der klassischen Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit abzurücken – zugunsten einer sozialen Freiheit, die sich vom Verständnis einer konstitutiven Freiheit, wie sie dem Verfassungsstaat zugrunde liegt, befruchten lässt. Die Sorge für Mit- und Nachwelt, die Bewahrung von Freiheit und Natur in der Zukunft schliesslich wird mit dem nachhaltigen Liberalismus zum Ausdruck gebracht. Ich erblicke in der Nachhaltigkeit der Freiheit ein grosses Desideratum des Liberalismusdiskurses.
Einer menschenwürdigen Freiheit entspricht – neben der Garantie des Eigentums mit seinen verschiedenen Funktionen – die Idee der sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft, wo der Wettbewerb zur Förderung von Freiheit und Wohlstand aller heute und morgen genutzt werden kann. Der Wettbewerb steht nicht über der Freiheit aller, sondern in deren Dienst. Er findet dort seine Grenzen, wo Freiheitsbedürfnisse nicht mit dem Instrument des Wettbewerbs befriedigt werden können.
Freiheit und Konkordanz
Freiheit ist immer lebenswirkliche Freiheit im Kontext. Freiheit aller führt regelmässig zu Güterabwägungen von Freiheitsbedürfnissen und Freiheitsoptionen; ich nenne sie liberale Binnenkonflikte. Der Liberalismus ist durch das Mass geprägt, weil Freiheitsoptionen auszumessen und gegeneinander abzuwägen sind. Die Güterabwägung erfolgt auf dem Weg einer verhältnismässigen Herstellung von Konkordanz durch demokratisch legitimierte Instanzen in legalen Verfahren, um auf dem weiten Feld der Freiheiten (im Plural) ein Optimum an Freiheit für alle zu gewährleisten. Diese Abwägungsprozesse können komplex sein und grosse Gestaltungsspielräume eröffnen. Oft geht es nur vordergründig um eine Gegenüberstellung von Freiheit und Staat, von privaten und öffentlichen Interessen, denn öffentliche Interessen können auch Schutzinteressen von Privaten mit einschliessen, deren Wahrung dem Gemeinwesen aufgetragen ist. Der Schutz von Autonomie selbst liegt auch im öffentlichen Interesse. Das Konzept der Konkordanz, wie es in der Verfassungslehre entwickelt worden ist, und das Prinzip der Verhältnismässigkeit können die Diskussion um Freiheitsabwägungen befruchten.
Chancengleichheit und Fähigkeitsansatz
Es kann dem Liberalismus nicht um eine Angleichung der Lebensumstände gehen, sondern um die Annäherung an eine Gleichheit der Startbedingungen, um eine Chancengleichheit. Auch deshalb sorgen sich Liberale um eine entsprechende Bildung und Ausbildung aller. Den Fähigkeitsansatz amerikanischer Philosophen erachte ich als weiterführend, um die Lebenschancen aller mit Inhalt zu füllen. Chancengleichheit ist in einem Annäherungsprozess kontextbezogen zu bestimmen. Sie ist mehr Idee und Ziel als feste Grösse.
Keine Freiheit ohne rechtsstaatliche Demokratie
Zur Freiheit gehört essenziell die politische Freiheit. Sie stellt die Kehrseite der persönlichen Freiheit dar. Der Verfassungsstaat wird in erster Linie durch den Schutz der Freiheit aller legitimiert. Dieser Freiheit steht heute nicht der autoritäre Staat gegenüber, der die Liberalismusdiskussion (zu) lange beherrscht hat, sondern der Staat der rechtsstaatlichen Demokratie, der Verfassungsstaat. Die rechtsstaatliche Demokratie wird im internationalen Sprachgebrauch oft als liberale Demokratie bezeichnet. Damit wird das unabdingbare liberale Gedankengut angesprochen, das der Demokratie mit der Geltung von rechtsstaatlichen Essentialen wie den Menschenrechten, dem allgemeinen Wahlrecht, dem Repräsentationsprinzip, der Gewaltenteilung und dem Gesetzmässigkeitsprinzip zugrunde liegt. Doch das Verhältnis der Liberalen zur Demokratie war und ist nicht spannungsfrei. Zwar war die liberale Bewegung des 19. Jahrhunderts vom Glauben getragen, Demokratie sei ein Mittel, ja die Grundlage zur Verwirklichung von Freiheit. Doch viele Liberale taten sich schwer mit dem allgemeinen Wahlrecht und erst recht mit der direkten Demokratie; sie fürchteten Unruhen und den Verlust bürgerlicher Werte. Eine massgebliche Herausforderung für die liberale Idee liegt im Mehrheitsprinzip, das der Demokratie zugrunde liegt. Dieses muss rechtsstaatlich eingegrenzt werden, um Individuen wie Minderheiten zu schützen. Auch wenn Liberale um die konstituierende Funktion von Mehrheitsprinzip und Parlamentarismus sowie – in der Schweiz – um die integrierende Bedeutung von Volksrechten wissen, anerkennen sie deren Schranken im Interesse von Freiheitsrechten und Minderheitenschutz.25 Auch eine Mehrheit kann irren. Vor allem vermag eine Tyrannei der Mehrheit individuelle Freiheit im Kern zu bedrohen. Umso wichtiger erscheint ein unabhängiger Rechtsschutz, der Freiheiten auch gegenüber politischen Entscheidungen des Gesetzgebers und des Volkes abzuschirmen vermag. Deshalb kann ich nicht verstehen, dass sich liberale Politikerinnen und Politiker unter Berufung auf die Volksrechte oder auf das Primat des Parlaments gegen die Einführung einer integralen Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene sträuben.26
Die Fixierung auf das Potenzial einer freiheitsbedrohenden Staatsmacht blendet oft aus, dass Freiheitsgefährdungen auch von privater Macht oder von Naturereignissen ausgehen können. Stehen Schutzpflichten des Staates im Blickwinkel, so ist zu fragen, «welcher» Staat zum Freiheitsschutz Anderer in der Lage ist: Staat ist nicht gleich Staat. Deshalb wende ich mich auch gegen eine illiberale Staatsverteufelung. Der gesellschaftliche Liberalismus wendet sich unter anderem gegen veraltete, diffuse Vorstellungen einer Bürgerlichkeit, die oft mit dem Liberalismus in eins gesetzt werden.
Krisenerscheinungen in der Demokratie
Im dritten Teil «Von den Säulen der Demokratie» geht es um den Versuch, angesichts einer weltweit diagnostizierten Demokratiemüdigkeit, ja einer Krise der liberalen Demokratie bis hin zu deren Verfremdung zu einer «illiberalen Demokratie»,27 Grundelemente der Demokratie in den Fokus zu rücken. Die Globalisierung hat in westlichen Gesellschaften ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorgerufen, das zu Ressentiments und Schuldzuweisungen führt. Die Schuld an dieser Entwicklung wird wahlweise den Immigrierten, den Musliminnen und Muslimen, anderen Ethnien oder den kulturellen Eliten zugewiesen. Negative Auswirkungen der Globalisierung werden als essenzielle Bedrohung wahrgenommen. Dazu zählen neben der Migration auch die Suche nach einer verlorenen Identität sowie das Spannungsverhältnis zwischen einem Verlust an nationalstaatlicher Souveränität und einer parallel dazu schwindenden nationalstaatlichen Problemlösungsfähigkeit. Darauf gehe ich in meiner Studie über den Nationalstaat im vierten Teil dieses Bands näher ein.
Carlo Strenger verdanken wir eine schonungslose Analyse der liberalen Demokratie und deren Krise. Er geht vom dominanten Konflikt zwischen Liberalismus und Autoritarismus und damit zusammenhängend zwischen Universalismus und Nationalismus aus.28 Ängste29 und Verunsicherungen aufgrund von Globalisierung, Zukunftsunsicherheit, Identitätsverlust und Migration werden von rechtspopulistischen Demagogen instrumentalisiert. Ein Kennzeichen rechtspopulistischer Führer ist ihre Schamlosigkeit, sind Lügen und die Verletzung von Regeln des Anstands.30 Die grösste Gefahr für die Demokratie geht nach Strenger vom «Sturmangriff» auf die Wahrheit aus.31
Das Feindbild der populistischen Führer sind die «abgehobenen» liberalen kosmopolitischen Eliten, welche die «historische Einheit» von Volk, Sprache und Staatsgebiet auflösen wollen. Eliten werden für den Verlust der Arbeitsplätze verantwortlich gemacht. Doch es ist nicht die Migration, sondern der wirtschaftliche Umbruch (wie Outsourcing oder Automatisierung), der zum Verlust der Arbeitsplätze führt. Diese an sich unentbehrlichen Eliten bringen den Anderen wenig Achtung entgegen, ja sie stempeln diese oft als rückständig und provinziell ab. Kultur- und Identitätsfragen spielen nach dieser Auffassung eine bedeutend grössere Rolle als die «Vernachlässigung» wirtschaftlich benachteiligter Klassen. Der populistische Nationalismus hat vielen Angehörigen sozioökonomisch schwächerer Schichten eine Stimme und ihren Stolz zurückgebracht. Diese hassen nun die Elite (Upward Contempt). Die kosmopolitischen Eliten sind in die Pflicht zu nehmen, weil kein Nationalstaat in der Lage ist, globale Herausforderungen wie Migration, Klima oder Terrorismus zu bewältigen.
Strenger plädiert für einen «klassischen» Liberalismus im Sinn der offenen Gesellschaft von Karl Popper, in der die Bürgerinnen und Bürger in Freiheit und Würde die öffentlichen Angelegenheiten «halbwegs rational» verwalten, mit Pressefreiheit, Forschungsfreiheit und unabhängiger Justiz, und in der es gilt, eine Tyrannei der Mehrheit zu verhindern.
Anne Applebaum geht der Frage nach, warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Eine wichtige Rolle spielt nach ihrer Auffassung der von rechtsextremen nostalgischen Visionen eingefangene Wunsch, eine vermeintlich verlorene Heimat wiederaufzubauen. Sozialen Medien und Verschwörungstheorien kommt dabei eine grosse Bedeutung zu.32
Zum Wandel der demokratischen Öffentlichkeit
Eine der grossen Herausforderungen der liberalen Demokratie stellt der Strukturwandel der Öffentlichkeit dar. Im Essay über die Freiheit (im zweiten Teil) versuche ich, Erscheinungen dieses Wandels, welche die Freiheit in der kommunikativen Öffentlichkeit bedrängen und gefährden, zu beleuchten. Die moderne Kommunikationstechnologie weist neben ihren unbestreitbaren Vorteilen mit dem Effekt der Echokammern auch gravierende Gefahren für die Demokratie auf, denn viele Individuen nutzen nur noch jene Sender, Kanäle und Websites, auf deren politischen Linie sie ohnehin bereits sind. Andersdenkende werden dämonisiert. Die Aufmerksamkeitsökonomie prämiert jene Stimmen, die mit provokanten Zitaten und Tweets aufwarten und die Gegenseite besonders aggressiv kritisieren, was zu einem eigentlichen Kulturkrieg führen kann. Das politische Klima wird von einer prekären Debattenkultur geprägt, was ich anhand von Cancel Culture und der politischen Korrektheit sowie der umstrittenen Identitätspolitik zu vertiefen suche. Liberale lassen sich in diesen Debatten nicht vereinnahmen, sondern setzen sich für eine grösstmögliche freie und offene Dialogkultur ein.
Repräsentationskrise
In einzelnen Demokratien ist der Respekt vor Andersdenkenden erodiert. Es ist ein Vertrauensverlust in grundlegende demokratische Mechanismen festzustellen, etwa in das Ergebnis von Wahlen und in repräsentative Entscheidungen, in eine für jede Demokratie essenzielle Kompromissbereitschaft sowie in demokratietypische langwierige Verfahren im Interesse einer deliberativen Rationalität. So fühlt sich ein beträchtlicher, aber schwer bezifferbarer Teil des Volkes von den gewählten Behörden nicht mehr vertreten. Diese heterogenen Bevölkerungsgruppen finden sich in ihrer generellen Ablehnung einer erweiterten Staatsmacht zusammen; sie sprengen die politische Links-rechts-Typologie. Denn sowohl «rechte» Querdenker und Ultraliberale sind hier anzusiedeln wie auch Linke, die jeglicher «Überwachung» durch den Staat abhold sind. Und Gleichgültige, die sich ihre «Alltagsfreiheit» (etwa die Durchführung von Partys oder den Verzicht des Maskentragens) nicht nehmen wollen. Die fortschreitende Dominanz elektronischer Kommunikation im Alltag hat den kollektiven Eindruck weiter intensiviert, nicht vertreten zu sein. Statt mehr Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit ist mit den elektronischen Medien und ihren Echokammern mehr Absonderung und Einsamkeit eingetreten, was wiederum dem Populismus dienlich ist.33 Für die repräsentative Demokratie stellt es eine grosse Herausforderung dar, wie es gelingen kann, dass alle Schichten in der Politik repräsentiert werden. Direktdemokratische Elemente können, je nach Kultur und Entwicklungsstand, diesen Prozess unterstützen. Vor allem aber stellt sich – nicht nur, aber vor allem – in parlamentarischen Demokratien die Frage, ob institutionelle Veränderungen die Krise der Repräsentation zu beheben oder zu mildern vermögen. Müssten sich Liberale nicht an vorderster Front für solche Anliegen engagieren?
Der Aufsatz «Von den Säulen der Demokratie» geht auf die Repräsentationsproblematik sowie auf weitere Kernelemente der Demokratie ein. Das Volk der Demokratie ist nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Es bedarf auch in der Schweiz mit ihren Volksrechten der Repräsentation, einer doppelten sogar. Denn die jeweils entscheidende Volksmehrheit bei einer Abstimmung über Sachvorlagen stellt bloss eine Minderheit des Volkes dar. Diese «repräsentiert» somit das ganze Volk. Zudem und vor allem sind repräsentative Institutionen und eine unabhängige Justiz für jede Demokratie essenziell, was im Politalltag einer aktiven und von Bewegungen aller Art geprägten Zivilgesellschaft – jedenfalls in der Schweiz – oft ausgeblendet wird. Das Mehrheitsprinzip muss seine Grenzen an freiheitlichen Grundwerten finden. Minderheiten sind zu respektieren. Ein Blick auf den gegenwärtigen Initiativenbetrieb zeigt problematische Tendenzen für die rechtsstaatliche Demokratie auf.
Zur integrativen Funktion des Verfassungsstaats
Der Nationalstaat als Verfassungsstaat steht im Fokus des vierten Teils. Menschenwürdige Freiheit und Demokratie gründen im Verfassungsstaat. In historischer Sicht ist bemerkenswert, dass der Siegeszug der Freiheitsidee im Gefolge der Französischen Revolution durch die Nationalstaatenbildung ermöglicht, begleitet und gestärkt wurde. Es waren die neu entstandenen Staaten, welche einheitliche bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnungen, liberale Strafrechtsideen sowie einen Parlamentsvorbehalt für «Freiheit und Eigentum» schrittweise, oft auch annäherungsweise eingeführt und teilweise durchgesetzt haben. Dieser Staat steht angesichts von Globalisierung und Internationalisierung grossen Herausforderungen wie Migration, Sicherheit und Klimawandel gegenüber. In neuster Zeit, nach den Erfahrungen in der Coronapandemie und angesichts zunehmender Naturkatastrophen, gewinnt der Nationalstaat wieder an Attraktivität, oft gepaart mit einem wieder erwachten Souveränitätsmythos. Doch vermögen Schwarz-Weiss-Bilder – auch hier – nichts zur Diskussion über die Funktion moderner Staaten beizutragen. Der moderne Staat stellt weder ein Auslaufmodell dar noch bedarf er einer Re-Nationalisierung. Die Grundwerte des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats bleiben auf den Staat angewiesen. Freilich ist dieser heute einem epochalen Strukturwandel unterworfen, indem seine autonome Handlungsfähigkeit verringert und der Lösungsbedarf für globale oder grenzüberschreitende Probleme gesteigert wird. Der einheitsgeprägte Nationalstaat muss deshalb das «Nationale» in den Hintergrund und seine Verfassung in den Vordergrund rücken, so meine These. Als Verfassungsstaat basiert er auf einer multiplen gesellschaftlichen und politischen Vielfalt; er hat die Integration «seiner» unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sowie deren Partizipation zu fördern sowie dem Bedürfnis der Menschen nach einer sich wandelnden Heimat positiv gegenüberzustehen. Das Ziel müssen entwicklungsfähige, binnendifferenzierte und integrative Verfassungsstaaten bilden, die auch zum Hort von Freiheit, Kultur und Frieden werden. Die Leistungen der Kultur für den Grundkonsens einer offenen, liberalen und vielfältigen Gesellschaft können kaum überschätzt werden. Gerade das Kreative und oft auch Anstössige in Kunst und Kultur bilden Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.34 Dieses Bekenntnis zum Verfassungsstaat stellt keine Absage an Prozesse einer höherstufigen Integration dar, im Gegenteil. Ich meine aber, dass nur stabile Verfassungsstaaten das Fundament dauerhafter und erfolgreicher supranationaler Gemeinschaften zu bilden vermögen.
Freiheit und Menschenwürde
«Dass so wenige rot werden, wenn sie von der Freiheit reden, ist kein gutes Zeichen.»35 Friedrich Dürrenmatt
«Wenn einem die Frage gestellt wird, ob der Freiheit die Zukunft gehöre, dann muss man erwidern: etwas viel Besseres – die Ewigkeit.»36 Benedetto Croce
Im Zentrum des Liberalismus steht der Mensch und dessen Freiheit. Doch was ist Freiheit?37 Abraham Lincoln stellte lakonisch fest, die Welt habe noch nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden.38 So unterschiedlich «Freiheit» von verschiedenen Strömungen des Liberalismus verstanden wird,39 so unbestritten erscheint das alle Liberalen verbindende Ziel einer grösstmöglichen persönlichen Freiheit eines jeden Menschen in der Führung seines Lebens, die vereinbar ist mit der gleichen Freiheit jeder anderen erwachsenen Person. «Freiheit ist eine Frage der Lebenschancen des Einzelnen und eine Frage der Offenheit der politischen Ordnung» (Ralf Dahrendorf). Freiheit kann als Fähigkeit verstanden werden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und entscheiden zu können. Freiheit, in der abendländischen Tradition vor allem als Handlungsfreiheit verstanden, kann verschiedene Bedeutungsgehalte aufweisen. Im Alltag wird Freiheit als Abwesenheit von jeglichen Einschränkungen oder von allen Zwängen verstanden. Es handelt sich um eine Freiheit der Beliebigkeit. Dem steht die «grosse Freiheit» gegenüber, die sich dem totalitären Unrechtsstaat entgegenstellt, als individuelles und kollektives Vermögen, elementare Lebensfreiheiten gegen staatliche Bevormundung oder Gewaltanwendung abzuschirmen. Diese äussert sich vor allem im Schutz vor Verhaftungen, in der Bewegungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Religionsfreiheit. In der Zivilgesellschaft einer rechtsstaatlichen Demokratie wird Freiheit vor allem als Freiheit der persönlichen Lebensführung im Sinn möglichst grosser Selbstbestimmung,40 als Freiheit im Rahmen persönlicher Lebensverhältnisse sowie der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen wahrgenommen und zunehmend auch als kommunikative Freiheit in der scheinbar grenzenlosen elektronischen Welt erlebt.41 Freiheit in diesem Sinn ist nicht in eins zu setzen mit Beliebigkeit, sondern Ausdruck der individuellen Persönlichkeit mit ihren existenziellen Bedürfnissen und Interessen – so wie auch die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte die zentralen Voraussetzungen des individuellen Daseins schützen und Raum gewähren, welcher für die Entwicklung der Persönlichkeit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft essenziell erscheint.
In der Schweiz kommt der Redewendung von der «Freiheit des Volkes» oder «der Freiheit des Landes» eine grosse Bedeutung zu. Diese Freiheit verlangt unter anderem die Wahrung von (relativer) Unabhängigkeit eines Gemeinwesens sowie den Schutz von Vielfalt, unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen. Obwohl diese kollektive Freiheit nicht im Fokus des Liberalismus steht, ergeben sich Berührungspunkte und Schnittmengen mit der individuellen Freiheit.
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung
Selbstbestimmung in Freiheit ist das Kernanliegen des Liberalismus. Sie kann als Ausprägung eines Individualismus verstanden werden, der als Legitimationsgrundlage der eigenen, unabhängigen und verantwortungsgeprägten Lebensführung dient. Freilich wird Freiheit oft eher durch Negation als durch innere Überzeugung und sinnerfülltes, identitätserfüllendes Handeln begründet, etwa durch die Abwehr von unerwünschten oder lästigen Eingriffen in die eigene Lebenswelt sowie durch Konfrontation und Ablehnung, die sich vor allem gegen das Gemeinwesen und dessen Organe richtet. Wie zu zeigen sein wird, blendet das vorherrschende individualistische Anspruchsdenken aus, dass wir alle in einem Kontext leben und Freiheit nur im Plural und verantwortungsbezogen denkbar erscheint. Sie bedarf der Zuwendung zu Anderen, zu Mitmenschen und deren Anerkennung. Wie bereits mit Carsten Brosda zitiert, bilden gerade das Kreative und oft Anstössige in Kunst und Kultur Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.42
In jüngerer Zeit wird oft im gleichen Atemzug mit der Selbstbestimmung auch die Selbstverwirklichung genannt: Der freie Mensch, so der Anspruch, soll sich nach seinen Wünschen «verwirklichen» können. Gegenüber dieser Vorstellung sind Fragezeichen zu setzen, denn unter Selbstverwirklichung wird Unterschiedliches verstanden.43 Selbstverwirklichung kann sich letztlich als unerfüllbare Verheissung erweisen. In der Multioptionsgesellschaft (Peter Gross) wächst die «Tyrannei der Möglichkeiten» (Hannah Arendt), sodass der Anteil an realisierbaren Optionen abnimmt und Frustrationen entstehen können. Immanuel Kant versteht Autonomie als die Möglichkeit und Aufgabe des Menschen, sich selbst als freiheits- und vernunftfähiges Wesen zu bestimmen und entsprechend aus Freiheit dem kategorischen Imperativ nach moralisch zu handeln. Davon unterscheidet sich eine Vorstellung von Freiheit, die im Sinn einer unbeschränkten Machbarkeit zur Erfüllung aller Lebenswünsche verstanden wird.44 Eine menschenwürdige und nachhaltige Idee der Freiheit ist in einer sich wandelnden Welt immer wieder neuen Herausforderungen und damit Veränderungen ausgesetzt.






