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Die Basler Philosophin Annemarie Pieper weist darauf hin, dass die Vorstellung eines unbeschränkten Rechts auf Selbstverwirklichung nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen einander diskriminieren und die Natur ausbeuten.45 Möglicherweise lässt sich die Wut von frustrierten, und (echt oder vermeintlich) vernachlässigten Menschen in dieser unerfüllten Erwartung auf schrankenlose Selbstverwirklichung verorten. Diese Erwartung richtet sich oft gegen Eliten und eine konstruierte politische Klasse, aufgeputscht von Populisten.46 Hat der «Pursuit of happiness» unermessliche Tore zu liberalistischen Extravaganzen und deren Torheiten geöffnet?47
Die Autonomie der oder des Einzelnen stellt ein unverzichtbares Ideal dar, das freilich oft nur unvollständig eingelöst werden kann. Selbstbestimmung ist auch von Faktoren abhängig, die individuell nicht beeinflussbar sind. Das Streben nach Autonomie trifft auch unzählige Hindernisse faktischer und rechtlicher Art. Doch das Ideal der Autonomie ist unverzichtbar und essenzieller Bestandteil der Selbstverantwortung. Fähigkeit und Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns müssen gelebt und erkämpft werden. Dem demokratischen Gemeinwesen obliegt es, die Chancen autonomer Lebensführung aller zu fördern und zu garantieren.
Schliesslich: Menschen verwirklichen sich nicht alleine, sondern in einem bestimmten Umfeld und in unterschiedlichen Beziehungen. Dem «Sich-umeinander-Kümmern» kommt ein grosser Stellenwert zu. Empathie und Mitgefühl stehen einer isolierten Selbsterfüllung entgegen, was näher darzulegen sein wird. Es kommt im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt auch auf Vertrauen an, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung sowie auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein.48
Freiheitsinteressen
Die Interessen, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung wahrnehmen zu können, reichen von der «Trivialität der Lebenszwecke» (Hermann Lübbe) bis hin zum «anarchischen Grundimpuls» (Ralf Dahrendorf in Anlehnung an Isaiah Berlin). Aufgrund geschichtlicher Erfahrung und angesichts autoritärer politischer Systeme der Gegenwart kann ein grundlegendes Freiheitsinteresse im Schutz vor staatlichem Machtmissbrauch und gegenüber Formen der Willkür erblickt werden. Das Tor der Freiheitsinteressen steht weit offen, doch wird mit der Anerkennung einer Vielfalt von Freiheitsinteressen noch nichts ausgesagt über die Gewichtung der Freiheitsinteressen, über deren Qualität. In den Freiheitsrechten kommen elementare Freiheitsanliegen und Schutzbedürfnisse zum Ausdruck – es geht um eine Unverletzlichkeit von Lebensbereichen, die gegen Machtausübung, gegen staatliche Eingriffe und andere Mächte und Einwirkungen in autonome Handlungsfelder abschirmen soll.49 Es darf heute als unbestritten gelten, dass den Freiheitsrechten der modernen rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungen eine konstitutive, den demokratischen Staat legitimierende Tragweite zukommt. Sie wirken nicht nur staatsbegrenzend; aus ihnen kann auch eine Verpflichtung des Staates fliessen, positiv zur Verwirklichung der Grundrechte beizutragen. Gemäss Art. 35 Abs. 1 der Bundesverfassung müssen die Grundrechte in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. Darauf ist später näher einzugehen. Den Grundrechten kommt eine legitimierende Funktion für die Verfassung einer rechtsstaatlichen Demokratie und für die ganze Rechtsordnung zu.50
Freiheitsrechte können zum Schutz der Grundrechte Anderer oder durch ein das Freiheitsinteresse überwiegendes öffentliches Interesse beschränkt werden.51 Die Kategorie des öffentlichen Interesses ist schwer zu definieren, weil diese nicht nur von der Bundesverfassung bestimmt wird und keinen Numerus clausus kennt.52 Einziges Kriterium bildet die Differenz zu einem rein privaten Interesse. Doch Anliegen von Privaten und solche der Allgemeinheit können sich decken. In den öffentlichen Interessen verbergen sich oft auch private Interessen.53 Bei diesen muss es sich allerdings um Interessen einer nicht abschliessend fassbaren Gruppe handeln, wie etwa von einer unbestimmten Vielzahl von Individuen, Verbänden oder Unternehmen.54 So liegt die Wahrung der individuellen Autonomie auch im öffentlichen Interesse, denn die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ist auf schöpferische Individuen und ihre Kooperationen angewiesen.
Willensfreiheit?
Selbstbestimmung setzt Willensfreiheit voraus. Aber gibt es überhaupt eine Willensfreiheit? Wie frei ist unser Wille wirklich? Die neuere Hirnforschung kommt zu unterschiedlichen Folgerungen. Die Thematik ist auch für den Liberalismus brisant, denn Verantwortung und Schuldfähigkeit hängen von einem freien Willen ab. Genügt unser subjektives Freiheitsbewusstsein, um Verantwortung zu begründen?55
Prominente Hirnforscher und Kognitionspsychologen bestreiten, dass es eine innere Willensfreiheit geben kann, etwa einen «freien» oder einen kausalbestimmten Handlungswillen. Freiheit sei eine Täuschung, ja ein Aberglaube. Die mentalen Zustände des Menschen, insbesondere seine Willensfreiheit, seien durch neuronale Zustände vollständig festgelegt. Diese – insbesondere von Wolf Singer, Richard Thaler und Daniel Kahneman vertretene – These eines Neurodeterminismus ist oft widerlegt worden.56 Doch können Ergebnisse der Hirnforschung überhaupt eine Definitionshoheit über Willensfreiheit, Schuld und Verantwortung erlangen? Nach dem Schweizer Philosophen Peter Bieri ist jeder freie Wille durch unser Denken und Urteilen «bedingt»; er folgt unserem Urteil und Entschluss. Der freie Wille sei eine Freiheit durch Nachdenken.57 Allerdings ist die menschliche Wahrnehmung fehleranfällig und vorurteilsbeladen. Offenbar nehmen wir zuerst wahr, was uns emotional entgegenkommt, wir orientieren uns zudem an bereits vorhandenen Vorurteilen und gemachten Erfahrungen – dies als Folge einer aufwendigen Verarbeitung der vielen auf uns einstürzenden Informationen. Und wir vertrauen jenen, die nach eigenem Empfinden eine höhere Wahrnehmungskompetenz besitzen. Andere Sichtweisen und Einsichten haben es demzufolge schwer.58 Die Verhaltensökonomik macht auch die Schwächen des Modells der rationalen Entscheidung deutlich. Menschen verhalten sich oft nicht rational, sondern ziehen zum Beispiel Standardverhalten vor oder ahmen die Aktivitäten Anderer in ihrer Umgebung nach.59 Das menschliche Handlungswissen ist begrenzt und bruchstückhaft, es unterliegt dem Paradoxon, dass mehr Wissen oft gepaart ist mit mehr Unwissen. Nassim Nicholas Taleb prägte den Begriff der «narrativen Verzerrung», mit dem er zum Ausdruck bringen will, wie falsche Geschichten über die Vergangenheit unsere Weltanschauungen und Zukunftserwartungen formen.60
Informationen werden für wahr gehalten, wenn sie häufig gehört oder gelesen werden. Falschinformationen bleiben umso mehr haften, als sie hohe emotionale Komponenten aufweisen und mit entsprechenden Schlagzeilen bewusst auf Erregung oder Empörung abzielen. Entscheidungen erfolgen unter begrenzter Rationalität. Routine, Erfahrungen in ähnlichen Situationen und vor allem Gefühle wie Gier, Angst, Lust oder Panik beeinflussen den Verstand, sodass sich dieser nicht von den Emotionen abkoppeln lässt. Es gibt offenbar keine Entscheidungen ohne Emotionen. Der Trumpismus darf als Beleg für diese Thesen angeführt werden.61 Der Neurobiologe Joachim Bauer plädiert für eine «Wiederentdeckung» des freien Willens zur «Selbststeuerung», wie er es nennt. Darunter versteht er eine «ganzheitliche Selbstfürsorge» als Kunst, zwei menschliche Eigenheiten miteinander zu verbinden: Affekte oder Impulse einerseits und die notwendigen Selbstkontrollen andererseits. Die Behauptung, die Existenz eines freien Willens sei experimentell widerlegt, erachtet er als unhaltbar. Dank den evolutionär entstandenen Konstruktionsmerkmalen des Gehirns, insbesondere dank dem präfrontalen Cortex, sind gesunde Menschen in der Lage, in einer gegebenen Situation Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen und sich zu entscheiden, auch wenn alle sozialen Verständigungsprozesse unausweichlich mit Beeinflussungen verbunden sind. Das Ziel muss es sein, diese mithilfe der Vernunft aufzudecken, zu erkennen und sich ihnen zu stellen. Ausserhalb dieser beeinflussten Verständigungsprozesse gibt es keine Wahrheit, denn diese ist immer nur das, auf was wir uns gemeinsam verständigen können.62 Der Empathie kommt eine grosse Bedeutung für das Überleben von Menschheit und Natur zu. Sie ist der Kern unseres Wesens und einer Kultur der komplexen Gemeinschaft.63 Zudem: Wer die Freiheit des Willens bestreitet, nimmt selbst diese Freiheit in Anspruch, was in der Philosophie einen «pragmatischen Widerspruch» genannt wird. Ihrer Skepsis zum Trotz führen die Neurodeterministen ein Leben in Freiheit und Verantwortung.64
Gelebte Freiheit
Freiheit muss nicht nur garantiert, sondern auch gelebt, geübt und praktiziert werden, wie Friedrich Schiller in seinem Schauspiel «Wilhelm Tell» anschaulich vor Augen führt.65 Die schweizerische Bundesverfassung proklamiert – in Anlehnung an eine Formulierung des Schriftstellers Adolf Muschg – in ihrer Präambel, «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht». Die Verfassung geht davon aus, dass Freiheit nur insoweit sinnvoll ist, als eine tatsächliche Freiheit offensteht und praktiziert wird. Erfüllte Freiheit ist immer auch tätige Freiheit, nicht nur Chance des Handelns. Apathie kann Freiheit zerstören. Freiheit ist laut Carl Friedrich von Weizsäcker «ein Gut, das durch Gebrauch wächst, durch Nichtgebrauch dahinschwindet».
Menschenwürde als Basis der Freiheit
Die Freiheit des Liberalismus bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern ist in der Menschenwürde verankert, die allen gleichermassen zukommt. Das ist die Ausgangsthese meines Freiheitsverständnisses. Nach Immanuel Kant ist Freiheit das «einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht». «Allein der Mensch als Person […] ist als Zweck an sich selbst zu schützen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt.»66 Die realen Möglichkeiten solcher Freiheit hängen nach Kant von der Überwindung gegebener Formen der Abhängigkeit und Fremdbestimmung ab, auch wenn diese eine gewisse Sicherheit zu bieten scheinen. Deshalb fordert Kant von jedem Menschen den Mut, sich seines eigenen Verstands zu bedienen.67 Nicht der Begriff der Menschenwürde ist entscheidend, sondern die Autonomie jedes Menschen, die sich in der rechtlichen und politischen Ordnung verwirklichen will. Sie stellt nicht etwas per se Feststehendes dar, sondern eine «Qualität der Zwischenmenschlichkeit», die immer wieder neu zu konkretisieren ist.68 Die Forderung nach Achtung und Schutz der Menschenwürde lässt sich nach Werner Maihofer «als Freiheitsraum der Selbstbestimmung zur Erhaltung und Entfaltung menschlicher Persönlichkeit verstehen, der für Liberale unantastbar bleiben muss gegenüber jeder Fremdbestimmung und allem Anpassungsdruck nicht nur eines übermächtigen Staates, sondern auch einer übermächtigen Gesellschaft».69
Es war der israelische Philosoph Avishai Margalit, der 1998 ein Plädoyer für eine Politik des Anstands («Decency») veröffentlicht hat. In einer anständigen Gesellschaft wird niemand von staatlichen Institutionen gedemütigt. Denn allen Menschen kommt Würde zu – als Ausdruck der Achtung, die Menschen aufgrund ihres Menschseins sich selbst entgegenbringen.70
Es darf heute als unbestritten gelten, dass die allen Menschen zukommende Würde zu achten und zu schützen ist. Darin sehen moderne Verfassungen – so auch die schweizerische Bundesverfassung in Artikel 7 – das Fundament aller Menschenrechte. Menschenwürde ist sowohl ein Kerngehalt aller Grundrechte als auch ein essenzielles Kriterium für ihre Konkretisierung. Als Grundnorm gerechter politischer Ordnung bildet sie die grundlegende Legitimationsbasis der rechtsstaatlichen Demokratie.71
Freilich erscheint es nicht einfach, die Menschenwürde inhaltlich zu definieren; es fällt leichter, sie negativ zu bestimmen, im Sinn eines Verbots entwürdigender Behandlungen wie etwa Sklaverei, Folter, Verletzung der persönlichen Integrität oder Erniedrigungen aller Art. Es geht um das nicht fassbare Eigentliche des Menschseins. Menschenwürde nährt sich aus vielen kulturellen Quellen und muss auch für Zukunftsmöglichkeiten und zukünftige Gefährdungen relevant sein.72 Für unseren liberalen Ansatz von besonderer Bedeutung erscheint die soziale Dimension der Menschenwürde, die von Jörg Paul Müller hervorgehobene «Qualität der Zwischenmenschlichkeit», die im Gedanken der Menschenwürde zum Ausdruck gelangt, auch beispielsweise gegenüber Fremden, Schwächeren oder Kranken. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO verlangt in Artikel 22, dass jeder, gestützt auf seine Würde, Anspruch darauf besitzt, in den Genuss der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.
Auf die Versuche verschiedener Autorinnen und Autoren, einzelne Aspekte und Ausprägungen der Menschenwürde näher zu umschreiben, ist hier nicht einzugehen.73 Nach Jürgen Habermas stellt die Idee der Menschenwürde das begriffliche Scharnier dar, welches die Moral der gleichen Achtung für jeden Menschen mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtsetzung zusammenfügt.74 Peter Bieri hat eindrücklich die Vielfalt menschlicher Würde ausgebreitet, ohne der Gefahr eines Definitionsversuchs derjenigen zu erliegen.75 Er stützt sich auf drei Dimensionen der Würde ab: Wie behandeln mich die anderen? Wie stehe ich zu den anderen? Wie stehe ich zu mir selbst? Doch scheint Bieri die Würde nicht als Gut des Menschen zu verstehen, das ihm von niemandem und unter keinen Umständen genommen werden kann, sondern als eine bestimmte Art der Lebensführung, die auch misslingen kann.
Freiheit wurzelt in dieser, jedem Menschen unabhängig von seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner sozialen Stellung zukommenden, unverlierbaren Würde. Würde ist zudem nicht allein ein ethisch-philosophisch begründetes Menschenrecht, sondern kann auch als innerer Kompass verstanden werden, der uns in die Lage versetzt, uns in der Vielfalt der äusseren Anforderungen und Zwänge in der hochkomplexen Welt nicht zu verlieren. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken.76
Die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum postuliert schliesslich, dass Menschen nicht nur ihre Würde haben, sondern dass ihnen reelle Möglichkeiten offenstehen müssen, ein lebenswertes Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht. Damit spricht sie die Kernaufgabe des Liberalismus an, auf die später näher einzugehen sein wird.77
Die ausgewählten Stimmen zur Menschenwürde belegen, dass deren Grenzen in der Praxis immer wieder umstritten und auszuhandeln sind, etwa in der modernen Biomedizin oder in den digitalen Einflussnahmen und Kontrollen. Was Menschenwürde im konkreten Fall bedeutet, was sie gebietet oder verbietet, ist in den Grenzbereichen der demokratischen Ausmarchung oder der justiziellen Entscheidung anheimgestellt.78 Ein bedeutungsvolles Beispiel für die Verwirklichung der Menschenwürde kann in der Rotkreuzbewegung erblickt werden. Sie setzt sich dafür ein, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen.
In der Menschenwürde fundierte Freiheit lässt sich nicht reduzieren auf eine Garantie des Existenzminimums, dass alle Liberalen jedem Menschen zubilligen. Das blosse «Dach über dem Kopf» und eine überlebensnotwendige Nahrungsversorgung allein gewährleisten in aller Regel und auf Dauer keine menschenwürdige Selbstbestimmung und autonomen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie bedeutet aber auch nicht nivellierende Wohlstandsangleichung an eine gesellschaftliche Mehrheit. Die in Artikel 41 der Bundesverfassung formulierten Sozialziele nehmen wesentliche Voraussetzungen einer würdigen Freiheitsentfaltung auf, namentlich in den Bereichen der sozialen Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Wohnung, Bildung und Weiterbildung.
Die Anerkennung und Anrufung der Menschenwürde darf nicht zur Glaubensangelegenheit werden. Die Ausmarchung über den Bedeutungsgehalt der Menschenwürde im politischen Prozess soll nicht zu deren Sakralisierung führen.79 Glaubenskämpfe widerstreiten einer vernunftgeleiteten und auf Dialog basierenden Auseinandersetzung. Einem Rekurs auf die Menschenwürde kann auch Appellcharakter zukommen. Dieser soll die menschliche Dimension der Freiheit in lebensweltlichen Umständen hervorheben, zur Reflexion führen, was Anerkennung von Freiheit in Würde bedeuten kann und muss. Die Vorstellung einer menschenwürdigen Freiheit nimmt auch Ideen auf, wie sie Vertreter der sogenannten ökonomischen Sicht der Menschenwürde sowie auch Werner Maihofer in Deutschland betont haben: die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein als ökonomische Würdebedingung. Diese verlangt die Verwirklichung materieller Voraussetzungen der Menschenwürde.80
Was menschenwürdige Freiheit in der lebensweltlichen Praxis bedeuten kann, zeigt illustrativ das abschreckende Beispiel der USA mit ihrer kulturell gespaltenen Gesellschaft. Grossen Bevölkerungsschichten fehlt eine elementare Ausstattung für ein menschenwürdiges Leben, wie etwa ausreichende Bildungseinrichtungen und eine Krankenversicherung. Hinzu kommt das Gefühl der Ausgrenzung und der Erniedrigung durch eine finanzkräftige Elite. Wäre es nicht primäre Aufgabe von Liberalen, sich zu fragen, welchen Beitrag sie für die Überwindung von Gräben zwischen Gesellschaftsschichten und für die Auflösung sozialer Segregation zu leisten vermögen? Müssen sich nicht Liberale an vorderster Front für die Anerkennung der Würde aller Menschen einsetzen?
Die Freiheit jedes Menschen
Die Menschenwürde bestimmt das Menschenbild, das dem Liberalismus zugrunde liegt und zugrunde liegen muss. Die Freiheit als Kristallisationspunkt des Liberalismus ist die Freiheit jedes Menschen. In normativer Hinsicht sind alle Menschen vernunftfähig, zur Autonomie bestimmt und darum mit Würde und gleichen Rechten ausgestattet: «All men are created equal» steht in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Darauf basieren die Menschenrechtserklärungen und die Vorstellungen der modernen Demokratie. Doch klaffen Idee und Realität auseinander. Ein menschenwürdiger Liberalismus muss der Frage nachgehen, wie erreicht werden kann, dass jeder eine realistische Chance besitzt, sein Leben in grösstmöglicher Freiheit zu führen. Liberale haben oft nur den tätigen und vernunftgeleiteten Menschen vor Augen, der in der Lage ist, sein Leben zu gestalten und Selbstverantwortung wahrzunehmen – den Homo oeconomicus oder den Homo Faber. Auch unser Rechtssystem wird von einem optimistischen Menschenbild bestimmt.81
Doch sind Menschen durch dreifache Begrenzungen gekennzeichnet: einmal durch mangelnde Kognition und fehlende Willensstärke, durch Eigennützigkeit und durch ihre Eigenschaft, inkonsistente Entscheidungen zu treffen, auch ohne Orientierung an langfristigen Folgen. Menschen sind Patchworkwesen; sie verbinden Gefühl und Verstand, Instinkt und Einsicht, Egoismus und Altruismus, Über-Ich und Unbewusstes. Menschliches Verhalten ist nicht nur auf Maximierung des eigenen Nutzens ausgerichtet, sondern ebenso auf Vertrauen, Fairness und Kooperation, wie etwa der Schweizer Ökonom Ernst Fehr nachgewiesen hat. Im Menschen sind verschiedene Motivationen veranlagt, wie etwa Ehrgeiz, das Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören, Angst oder der Kampf um einen Status. Die menschliche Realität liegt in unterschiedlichen Abstufungen zwischen diesen Polen. Entsprechend ist ein realistisches Menschenbild gefordert.82
Der Liberalismus hat diese menschliche Komplexität zugrunde zu legen, wenn er für Freiheit und Verantwortung plädiert, und sich auch um die Freiheit der Schwachen, Bedürftigen und Scheiternden83 sowie der Menschen mit einer Veranlagung zur Unvernunft zu kümmern. Welches ist ihr Platz in der liberalen Ideenwelt? Wenn im Fokus des Liberalismus Würde, Freiheit und Lebenschancen aller Menschen stehen – unabhängig von ihrem Lebensentwurf und Lebensschicksal, ihrem rechtlichen oder sozialen Status –, so haben sich gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen an dieser Komplexität des Menschlichen auszurichten.
Am Beispiel des Bettelns lässt sich die Tragweite der Freiheit von Schwächeren exemplifizieren. Das Recht auf Betteln ist Teil des verfassungsmässigen Rechts auf persönliche Freiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dazu gehört das Recht, andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes und unbeschränktes Bettelverbot verletzt die Bundesverfassung und die EMRK, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat.84 Bettelverbote unterliegen einer Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Grundrechtsbeschränkung erfüllt sind, etwa weil die öffentliche Ordnung nachhaltig gestört wird. Diese bedingt eine Abwägung der in concreto relevanten Interessen, etwa der betroffenen Personen und ihrer Verletzlichkeit, ihrer allfälligen Zugehörigkeit zu einem kriminellen Netzwerk sowie der Art und dem Zweck des Bettelns. Nicht ausreichend für ein generelles Verbot ist der Umstand, dass das Betteln auf Passantinnen und Passanten störend wirkt. Freiheit gehört allen, auch den Randständigen, den Anderen.
Von der Identität des Menschen
Was macht den Menschen aus, welches ist seine Identität?85 Bei der Identität handelt es sich um einen schillernden und mehrdeutigen Begriff. Die Identität ist angesichts der Pluralisierung erodiert.86 Im Zusammenhang mit der menschlichen Autonomie steht die Selbstdefinition des Individuums im Vordergrund, sein «Narrativ» über die ihn kennzeichnenden Eigenschaften. Daneben wird der Begriff auch für die Fremdbeschreibung einer anderen Person sowie für eine Gruppenzugehörigkeit verwendet. Oft bleibt unklar, welche Bedeutung in der praktischen Begriffsverwendung gemeint ist. Vor allem Selbst- und Fremdbeschreibung können ineinanderfliessen. Eine liberale Sichtweise stellt sich gegen die Vorstellung eines «Besitzes» der Identität, gegen jegliche Beschwörung tradierter Rollenbilder, die oft eine Vergangenheit festhalten wollen, die es gar nie gegeben hat, und die vor allem angerufen wird, um sich gegen Veränderungen zur Wehr zu setzen.87 Liberale sind auch skeptisch gegenüber Gruppenidentitäten, die ebenfalls oft konstruierte Gemeinsamkeiten stärker gewichten als die personale Autonomie, was später im Abschnitt über die Identitätspolitik (siehe S. 145) näher zu beleuchten ist.
Der indisch-amerikanische Philosoph, Nobelpreisträger im Jahr 1988 und Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2020, Amartya Sen, propagiert eine Unteilbarkeit des Menschen als Basis des Liberalismus.88 Sen beschäftigt sich mit den Gefahren, die mit der Festschreibung von Identitäten und einem reduktionistischen Konzept von Identität einhergehen. Er kritisiert die Vorstellung, Individuen seien vor allem über das Merkmal ihrer Gruppenzugehörigkeit definiert, und die Identitäten von Individuen und Kollektiven könnten über die Zugehörigkeit zu einer einzigen Kultur bestimmt werden. Im Gegenteil gehören Individuen einer Vielzahl von Kulturen an.
Menschen haben nach Sen nicht eine feste Identität; Identität ist im Plural zu denken und im steten Wandel begriffen. Kein Mensch ist nur Muslim oder Hindu, er ist auch Frau oder Mann, hat Kinder oder nicht, politische Überzeugungen, eine eigene Biografie – oder auch eine bestimmte Schuhgrösse, die ihn mit anderen Menschen verbindet oder nicht. Er sieht in diesem Missverständnis einer festen Identität ein Hauptübel der Gegenwart und plädiert für die Freiheit des Individuums, die eigene Gruppenzugehörigkeit zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.
Nach Jörg Paul Müller geht auch im öffentlichen Wirken als Politikerin, Beamter oder Magistratin die Identität eines Menschen mit seinen religiösen Wurzeln, seinen weltanschaulichen Zweifeln oder mit seiner Angst vor allem Autoritär-Herrschaftlichen, aber auch mit seinen physischen und psychischen Bedürfnissen nicht einfach verloren.89






