»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland

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Bernd Auerbach hatte sich das Angebot von Thomas Keller nicht lange überlegen müssen. Er wollte schon lange raus aus der Plattenbausiedlung in der Dr. Wilhelm-Külz-Straße, Ecke Südstraße, ein sechsstöckiges Monster in Großblockbauweise. Eine gigantische Häuserreihe, hässlich wie die Nacht finster. Hoyerswerda war auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Bevölkerung war stark geschrumpft. Hohe Arbeitslosigkeit kam hinzu. Vorbei die alten Zeiten, als in den fünfziger Jahren das Braunkohleveredelungswerk Gaskombinat Schwarze Pumpe gebaut wurde. Da war er zwar noch nicht geboren, aber sein Vater schwärmte immer noch von damals. An die Wende konnte er sich deshalb noch erinnern – da war er gerade sieben Jahre alt –, weil er miterleben musste, wie sein Vater seinen Arbeitsplatz verlor. Ein Türke, der aus der Oberpfalz nach Sachsen kam, bekam den Job – zu einem viel niedrigeren Stundenlohn. Heute fragte er sich des Öfteren, ob es schon in den Anfängen der DDR Leute gab, die ähnlich dachten wie er heute, die von Anbeginn gegen das politische System der SED eingestellt und eher dem Nationalsozialismus zugeneigt waren. Er konnte das damals, in den Zeiten der Wende, nicht selbst beurteilen, er war ja noch ein Kind, aber er konnte sich gut daran erinnern, dass er auf dem Friedhof Grabsteine gesehen hatte, die mit Hakenkreuzen beschmiert waren. Seine Eltern unterhielten sich unter vorgehaltener Hand auch manchmal über diese Dinge. Er erinnerte sich, wie sein Vater einmal sagte: »Wir haben eine Legitimationskrise in der DDR, die sich wirtschaftlich, sozial und politisch kontinuierlich vertieft. Sie treibt immer mehr Bürger in die Opposition. Manche träumen schon wieder von einem neuen Kaiserreich.« Er verstand nicht, was sein Vater damit sagen wollte, aber er erahnte, dass es nichts Gutes war. Dann kam diese politische Veränderung, welche die Erwachsenen als »Wende« bezeichneten. Von Erich Honecker hörte man plötzlich gar nichts mehr. Man sah nur noch diesen dicken Helmut Kohl im Fernsehen. Der wurde doch noch vor einem Jahr als Klassenfeind bezeichnet? Jedenfalls kamen nach dieser sogenannten Wende unheimlich viele neue Menschen in die ehemalige DDR, die plötzlich auch, wie der Klassenfeind, Bundesrepublik Deutschland hieß. Er verstand das damals alles noch nicht so richtig. Überall wurde plötzlich in neue Straßen und neue Gebäude investiert. Selbst die alten Straßenbahnen gab es nach einigen Jahren nicht mehr, in jeder Stadt fuhren bald nagelneue auf den Schienen herum. Gehörten die auch zu den blühenden Landschaften, die dieser dicke Helmut Kohl versprochen hatte? Wo kam denn plötzlich das viele Geld her? Aber es war nicht alles gut, was da plötzlich auf die Menschen in seiner Heimat zukam. Das sagten auch seine Eltern. Ein regelrechter Ansturm von Ausländern kam aus dem Westen, auch Schwarze, die in den Straßen und in den Parks herumlungerten. Es wurden im Laufe der Jahre immer mehr. Rauschgift machte die Runde. Sein bester Freund, Dieter Faustka, setzte sich den goldenen Schuss. Dieter wollte noch nicht sterben. Er war erst siebzehn Jahre alt und drogensüchtig. Der Reinheitsgrad des Stoffs war unerwartet hoch. Er war mit dabei, als Dieter starb, als er in Atemdepressionen verbunden mit einem Atemstillstand verfiel. Sein Herz blieb stehen. Das Heroin finanzierte Dieter durch Kleindiebstähle. Er hatte selten Geld. Sein Vater war Alkoholiker und arbeitslos. Seine Mutter verkaufte ihren ausgemergelten Körper an jeden, der dafür bezahlte, auch an Ausländer, wie die schwarzen Rauschgiftdealer, die ihren Sohn umgebracht hatten. Es war ihr einerlei. Ein Esser weniger. Dieter war schon seit vielen Jahren tot.
Seit diesem Erlebnis konnte er Türken und Neger nicht mehr leiden. Begeistert las er ein paar Monate vor der Wende in der Tageszeitung seiner Stadt vom Negerklatschen. Jugendliche Glatzköpfe hatten auf dem Rummelplatz einen Afrikaner verprügelt, der blutüberströmt in das Krankenhaus eingeliefert wurde. Dabei konnte sich Bernd Auerbach noch vage daran erinnern, dass es so etwas vor langer Zeit schon einmal gegeben hatte. Es musste im Jahr 1987 gewesen sein, wenn er sich recht an die Erzählungen seiner Eltern erinnerte. Damals veranstaltete eine Westberliner Punkband ein Konzert in der Berliner Zionskirche. Dreißig Skinheads stürmten das Konzert, riefen »Sieg Heil« und verprügelten auf dem Kirchenvorplatz Besucher der Veranstaltung. Er mochte diese Glatzköpfe zwar nicht, aber wo sie recht hatten, hatten sie recht.
Bernd Auerbach erlebte den Umbruch der ehemaligen DDR hautnah. Er sah das gigantische Investitionsvolumen, welches von Westen nach Osten strömte. Er erinnerte sich an die »blühenden Landschaften«, die Helmut Kohl vorausgesagt hatte. Er sah aber auch die Abwanderer, die in den Westen der Republik strömten und verlassene und marode Dörfer hinterließen. Kein Wunder, im Westen zahlten Arbeitgeber höhere Löhne. Er machte sich Sorgen über die hohe Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR und über die Verwahrlosung der ländlichen Regionen. Bernd Auerbach sah die vielen arbeitslosen Jugendlichen, die in den Städten lustlos herumlungerten, sich zusammenrotteten, bar jeder Hoffnung auf eine erstrebenswerte Zukunft. Er konnte für sich noch von glücklichen Umständen sprechen. Über Beziehungen fand er einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Die Stadtverwaltung Hoyerswerda bot ihm eine Ausbildung zum Verwaltungskaufmann an. Glücklich willigte er ein und landete im Ausländeramt. Fortan beschäftigte er sich nur noch mit den Bestimmungen des Ausländergesetzes, mit Visaangelegenheiten, Aufenthaltsberechtigungen und arbeitslosen Ausländern. Bald hasste er seinen Job. Er hasste den Mief und die Enge seines Büros. Zu viert saßen sie an einem Vierer-Schreibtisch-Block, eingepfercht auf weniger als fünfundzwanzig Quadratmetern und eingeengt von grauen, tristen Büromöbeln, die voll waren mit genauso uninteressanten farbigen Ordnern. Der kackbraune Fußboden glotzte ihn jeden Arbeitstag an, und die dreckigen Fenster gaben von seinem abgewetzten Bürostuhl aus einen faden Blick auf einen langweiligen Innenhof frei, der mit Müllcontainern vollgestellt war. Das Porträt der Bundeskanzlerin an der Wand kotzte ihn auch schon lange an. Genauso wie seine drei Kollegen, die mit ihm im Büro saßen. Er wusste genau, dass sein Büroleiter Siegbert Sauer, dieses faule Stück, mit seiner Frau in Scheidung lebte und seine Geliebte im Einwohneramt, nur ein Stockwerk über ihnen, bumste. So ein Schwein. Drei kleine Kinder hatte das Schwein zu Hause. Melissa Gumbert auf dem Bürostuhl rechts neben ihm, diese aufgetakelte Fregatte mit dem grellroten Karpfenmund und den lila geschminkten Glubschaugen, war eine Lesbierin. Bruno Seitz, den Lehrling mit seinem pickeligen Gesicht, hatte er schon häufiger beobachtet, wie er heimlich ins Pornokino schlich. Alle beherrschten das politische Taktieren bis zur Perfektion, wenn mal der Obermotz aus der vierten Etage ins Büro kam, um sich nach seinen Mitarbeitern umzusehen. Dann sprühten sie vor Belanglosigkeiten und Speichelleckerei und glaubten, auf ihrem Karrierehighway wieder ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Bernd Auerbach hatte für sich sehr schnell erkannt, dass er diese Gesellschaft auf Dauer nicht überleben würde. Lustlos und voller Langeweile erfüllte er seinen Job nach Vorschrift. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag – jeden Tag der gleiche Scheiß. Fast jeden Tag hatte er mit Flüchtlingen zu tun, wenn sie vor ihm saßen, mit ihren iPhones spielten,die Marlboro-Schachtel auf den Tisch legten, das Dupont-Feuerzeug daneben und nach finanzieller Unterstützung fragten. Oh ja, die Richtlinien legte er sehr erzkonservativ aus, wenn sie kamen, seine Lieblinge, die Schwarzafrikaner aus Ghana, die politisch verfolgten Tschetschenen und die Türken aus dem tiefsten Anatolien, ihre Anträge auf Unterhaltsvorschuss, auf Kindergeld und Hartz IV in den Händen. Die meisten kannten sich gut aus, welche Rechte ihnen das deutsche Sozialrecht bot. Wie viele Kinder die alle hatten und dafür Kindergeld kassieren wollten! Selbst für die Kinder zuhause in der Türkei, deren Existenz eh niemand überprüfen konnte. Müllmann? Nein, so eine Arbeit wäre nicht angemessen. Zu schmutzig. »Wissen Sie, ich habe zudem eine Müllallergie«. »Nein, ich suche keinen Arbeitsplatz, ich möchte nur Hartz IV beantragen«. Bernd Auerbach empfand seine Arbeit im Laufe der wenigen Jahre als immer schwachsinniger. Da verdiente er selbst eintausendfünfhundert Euro brutto im Monat und musste sich mit den überzogenen Forderungen dieses faulen Ausländerpacks auseinandersetzen, denen das deutsche System die Euros vorne und hinten nur so reinstopfte. Tag für Tag verwunderte ihn die Arroganz und das Wissen der Ausländer, womit sie glaubten, ihre Rechte einfordern zu können. Aber nicht mit ihm. Er machte ihnen das Leben schwer, wo und wie er auch immer konnte. Als ihn Thomas Keller das erste Mal kontaktierte, wusste er, dass sich sein Leben grundsätzlich ändern würde. Er hasste sie alle, diese ausländischen Betrüger und Schmarotzer.
Ein halbes Jahr vor seinem Umzug nach Röttenbach hatte er selbst so einem Nigger ordentlich die Fresse poliert. Schade, dass der Schwarze nicht abgekratzt war, sondern sich wieder erholte. Na ja, richtig gehen kann er auch heute noch nicht. Er humpelt immer noch auf Krücken herum. Es war ein spontanes Wutgefühl, das über Bernd Auerbach kam, damals vor fünfeinhalb Monaten, als ihm der Bimbo aus Ghana nachts um zwei Uhr gut gelaunt und ein Liedchen auf den Lippen entgegenkam. Er hätte ihn dabei nicht ansehen sollen, der Schwarze. Aber als Bernd in der Dunkelheit diese weißen Augäpfel und dieses Affengesicht sah, konnte er nicht mehr an sich halten. Er musste an seinen toten Freund Dieter denken. Es war einfach über ihn gekommen. Dieses Gefühl. Diese unbändige Wut. Ohne jegliche Vorwarnung stürzte er sich auf den Afrikaner und schmetterte ihm mit seinen Hammerfäusten zwei wohl platzierte Kinnhaken ins Gesicht. Von der Wucht der beiden Boxhiebe überrascht geriet der Ausländer ins Straucheln. Bernd Auerbach nutzte die Gunst der Situation und zog seinem Gegner die Beine weg. Der schlug mit seinem schwarzen Schädel hart auf der Bordsteinkante auf und stöhnte vor Schmerz. Sofort war der junge Einheimische über ihm und versetzte ihm mit seinen schweren Schuhen zwei Fußtritte gegen die rechte Schläfe und mitten ins Gesicht. Die wulstige Unterlippe des am Boden Liegenden platzte auf. Blut floss auf den Gehsteig. Dann, nach zwei weiteren Fußtritten gegen den Kopf und gegen die Rippen, verlor der Afrikaner das Bewusstsein. Bernd Auerbach hatte noch nicht genug. Aus dem Innern seiner Jacke zog er eine Stahlrute hervor und schlug damit wie wild auf die Beine seines Opfers ein. Dann trat er erneut mit seinen Schuhen zu. Er hörte das Brechen des rechten Oberschenkelknochens. Hätte die kühle Nacht nicht nahende Schritte an die Ohren des Schlägers getragen, wäre es um den Afrikaner wohl geschehen gewesen. Schnell trat er den Schwarzen ein letztes Mal in die Weichteile, bevor er eiligst in der Dunkelheit verschwand.
»Hallo, was ist mit Ihnen los? Können Sie mich hören? Brauchen Sie Hilfe?« Die Fragen kamen vom Ort des Überfalls. Dann gellten laute Hilferufe durch die Nacht.
Der Täter konnte nie ermittelt werden, und Bernd Auerbach, der kräftige junge Mann, der normalerweise immer innere Ruhe ausströmte und für seine Mitmenschen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in einer Person verbildlichte, hatte Blut geleckt. Niemand vermutete, dass sich hinter diesem attraktiven jungen Mann mit den strahlend blauen Augen und dem wie mit dem Lineal korrekt gezogenen Seitenscheitel ein Mensch mit so hohem Gewaltpotenzial versteckte. Bald würde er nun die Türken und Bimbos in Mittelfranken aufmischen. Diese Nichtsnutze. Er freute sich auf seine neue Aufgabe. Die Franken würden ihm insgeheim dankbar sein. Davon war er fest überzeugt.
Um zehn Uhr vormittags, am 2. September, trat Bernd Auerbach in das Bürgerbüro des Röttenbacher Rathauses ein. Vierzig Minuten später verließ er es wieder und hielt seine Gemeinde-Anmeldung und seinen Gewerbeschein in den Händen. »Beratertätigkeit« stand in dem Feld Beruf. Er würde oft unterwegs sein, um mit Thomas Keller »Beratergespräche« zu führen. Er machte sich auf den Weg zur örtlichen Sparkasse. Schließlich brauchte ein Beratungsunternehmen auch ein Geschäftskonto, auf welches seine Kunden die Gelder für seine Dienstleistungen überweisen konnten. Morgen würde er sich noch einen Laptop, einen Geschäftsstempel und Visitenkarten für seine Firma Auerbach-Asylberatung besorgen. Ach ja, zum Finanzamt Erlangen musste er auch, um eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer zu beantragen. Seine Finanzplanung für die nächsten drei Geschäftsjahre hatte er peinlichst genau vorbereitet. Alles musste seine Ordnung haben. Nur nicht negativ auffallen. Nur nicht gegen gültige Gesetze verstoßen, zumindest nicht nach außen hin. Immer schön den Schein wahren. Die Gespräche, die er bisher mit Thomas Keller geführt hatte, waren für ihn wie ein »Aha-Effekt«. Sie erweiterten seinen intellektuellen Horizont. Noch nie hatte er die Dinge so klar gesehen. Thomas Keller war ein kluger Kopf, reich an Erfahrung. Auch die Geschichte bestätigte, dass Veränderungen nur von wenigen, klugen Köpfen ausgingen. Er wollte ein Teil dieser Veränderungen werden, koste es, was es wolle.
4
Drei Wochen vergingen, und wieder einmal war es Zeit für die Röttenbacher Kirchweih. Die Kirchweihburschen trafen sich schon seit zwei Wochen regelmäßig beim Sauers-Wirt, um das lokale Großereignis vorzubereiten und dem Kirchweihablauf ein festes Programm zu verpassen. Auch Norbert Amon war, wie auch im letzten Jahr, wieder dabei.
»Wo ist denn der Walter?«, wollte der Müllers Luggi von ihm wissen, »kommt der nicht mehr? Ihr zwei seid doch die besten Freunde?«
»Keine Ahnung«, entgegnete der Gefragte lustlos, »hab ihn schon länger nicht mehr gesehn. Seit der mit der Türkin zamm ist, interessiert der sich nicht mehr für mich.« Norbert Amon antwortete oberflächlich und emotionslos, aber innerlich hatte ihn die Frage sehr aufgewühlt. Er war stinksauer auf seinen Freund Walter Fuchs. Walter war mit dieser geilen Türkin eine Beziehung eingegangen, ohne seiner bisherigen Freundin etwas davon zu sagen. Er hatte sie einfach links liegengelassen. Kein feiner Zug. Auch Akgüls bisheriger Freund, dieser Türke mit der Riesengurke im Gesicht, einer Nase die ihresgleichen suchte, wusste offensichtlich von nichts. Aber am meisten ärgerte er sich, dass Walter auch für ihn keine Zeit mehr hatte. Er rief nicht mal mehr an. Norbert Amon konnte nicht mehr an sich halten vor Wut, wenn er darüber nachdachte. Vor zwei Tagen griff er zum Erlanger Telefonbuch und suchte nach der Telefonnummer von Yilmaz Müselüm.
»Mit was für einer Türkin?”, wollte der Faulhammers Jupp wissen, der gerade seinen Bierkrug leerte und rülpsend auf den Tisch stellte. »Herbert, bring mir noch eins!«
»Herbert, bring uns noch fünf!«, schrie der Holzmanns Hanni, ein weiterer Kirchweihbursche, dem Wirt hinterher.
»Na, mit der Akgül aus der Amselstraß«, antwortete Norbert Amon widerstrebend, »und etz lass mir meine Ruh mit der Gschicht. Ich will nix mehr davon hörn!«
»Aber die hat doch einen türkischen Freund, den Müselüm«, wunderte sich Josef Faulhammer.
»Gehabt«, stellte Norbert Amon richtig. »Gehabt!«
»Oh weh«, äußerte sich der Holzmanns Hanni, »das gibt Ärger! Wenn der das erfährt …«
»Wenn er es nicht schon weiß, wenn er es nicht schon weiß”, orakelte Norbert Amon und stierte weiterhin finster vor sich hin.
»Wer?« Günther Siebenschläger war immer etwas schwer von Begriff.
»Na der Türke, der Müselüm.«
»Hast du es ihm wohl schon erzählt?«, mutmaßte der Faulhammers Jupp.
»Könnt schon sein«, brummte Norbert zurück.
»Dann gibts Mord und Totschlag!«
»Soll nicht meine Sorge sein und etz endgültig Schluss mit dem Thema.«
»Wenn das auffliegt, gibts noch einen viel größeren Ärger«, mischte sich nun auch der Wirt in die Unterhaltung ein, welcher der Diskussion der Kirchweihburschen zugehört hatte.
»Warum?«, kam es mehrstimmig zurück.
»Denkt doch mal nach«, forderte der Sauers-Wirt die Meute auf.
»Auweierla, die Doris!«, fiel es dem Jupp ein.
»Genau, die Doris!«, bestätigte der Wirt, und knallte fünf Steinkrüge, bis zum Rand mit seinem dunklen, süffigen Kellerbier gefüllt, auf die dicke, hölzerne Tischplatte. »Hoffentlich weiß die das noch nicht!«
»Aber die zwei sollen doch beim Betzn-Raustanzen mit dabei sein?« Günther Siebenschläger runzelte die Stirn, und blickte fragend in die Runde.
»Günther, bist bleed? Da wird doch nix mehr draus«, klärte ihn Jupp Faulhammer auf.
»Aber dann merkt die Doris das doch?«, ließ Günther Siebenschläger nicht locker.
»Hast du das auch schon geschnallt?«
5
Nicht nur im Kreise der Kirchweihburschen sorgte die vermeintliche neue Liebschaft für heftige Diskussionen. Auch im Familienkreis der Familie Özkan war Feuer unterm Dach. Vor vier Jahren waren die Özkans aus der südostanatolischen Stadt Urfa, vierzig Kilometer von der türkisch-syrischen Grenze entfernt, nach Deutschland gekommen. Nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in einem Asylantenheim in Niedersachsen wurde der Familie politisches Asyl gewährt. Vater Özkan konnte den deutschen Behörden gegenüber glaubhaft nachweisen, dass der syrische Geheimdienst, in seinem Fall die Abteilung für militärische Aufklärung, ihn massiv unter Druck gesetzt hatte, syrische Oppositionelle auf der türkischen Seite zu denunzieren. Nachdem seinem Asylantrag endlich stattgegeben wurde, machte ihn ein Bekannter, der schon längere Zeit in Deutschland lebte, auf eine Stellenausschreibung der Firma Schaeffler im fränkischen Herzogenaurach aufmerksam. »Du bist doch gelernter Maschinenschlosser«, ermunterte er ihn. Ahmet Özkan bewarb sich und wurde eingestellt. So kamen die Özkans vor drei Jahren nach Röttenbach und leben seitdem zurückgezogen in einem kleinen Häuschen in der Amselstraße. Anschluss an die einheimische Bevölkerung suchten sie nicht. Sie wollten lieber unter ihresgleichen bleiben. Ahmet Özkan war ein konservativer, frommer Muslim und wollte keinen zu nahen Kontakt zu den Ungläubigen. Das galt nicht nur für ihn, auch seiner Familie untersagte er diese Kontakte. Er vermisste die Moschee seiner Heimatstadt. Allah hatte ihm eine schwere Prüfung auferlegt, aber er würde nicht klagen. Nach dem Anruf von Müselüm, dem Freund seiner Tochter, war er regelrecht schockiert. Er glaubte ihm nicht und bezichtigte ihn der Lüge. »So etwas macht Akgül nicht«, hielt er ihm am Telefon vor. »Meine Tochter ist keine Hure.« Doch die Informationen, die sich sein Sohn Kemal daraufhin besorgte, deuteten auf eine eindeutige Situation hin. Er hatte tatsächlich eine Hure im Haus, in der eigenen Familie. Er verfluchte den Tag, an dem er entschieden hatte, mit der ganzen Familie nach Deutschland zu ziehen. Gut, er hatte Glück gehabt mit seinem Asylantrag, und einen gut bezahlten Job hatte er auch relativ schnell gefunden, aber das Leben hier in Deutschland hatte er sich ganz anders vorgestellt. Er verfluchte die vielen nackten Frauen im Fernsehen und auf den Titelblättern der Zeitungen. Selbst in dem kleinen Kaff Röttenbach liefen sie im Sommer halbnackt auf den Straßen herum. Er verehrte Karpfen als heilige Tiere. Hier wurden sie in viel zu engen Teichen gezüchtet. Und was machten die fränkischen Barbaren mit den heiligen Tieren? Sie töteten sie, und verspeisten die Fische mit einer abartigen und perversen Wolllust. Das Schlimmste aber waren die Demütigungen so mancher Dorfbewohner und Arbeitskollegen: »Du stinkst heut wieder. Schlimmer wie a ganze Odelgrubn.« »Hast dich in Knoblauch gwälzt, Ahmet?« »Stinkn alle Türkn so wie du?« Er hasste diese Deutschen. Wäre er doch nur in Urfa geblieben.
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Ahmets siebzehnjährige Tochter Akgül saß heulend und verängstigt in einem tiefen, roten Plüschsessel. Sie hatte gegen das ungeschriebene Gesetz der Özkans verstoßen, indem sie in kompromittierender, unzüchtiger Weise mit einem jungen, deutschen Mann gesehen worden war. Heiße Tränen rannen ihr ohne Unterlass aus ihren kohlschwarzen Augen. Ihr zarter, feingliedriger Körper bebte und wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Ihr gegenüber, auf dem roten Sofa, saßen ihr wutentbrannter Vater und ihr ebenso wütender zwanzigjähriger Bruder Kemal, der gerade heftig auf sie einredete.
»Was du glaubst du bist? Eine Hure! Bringst Schande über die ganze Familie und Schande über Müselüm. Muss Müselüm von Dorfburschen erfahren, dass du hast deutschen Freund? Ich dich schlagen tot, wenn nix ist Ruhe damit! Sieh an Vater Ahmet, wie traurig und wütend ist. Du bist Türkin und nix deutsches Mädchen. Nix deutsche Freund. Ist kein Moslem. Nix glauben an Allah und Propheten. Ist ungläubig. Was er haben gemacht mit dir?«
Bei diesen Worten zuckte Akgüls Oberkörper wieder wie unter Peitschenhieben zusammen. Mit tränenerstickter, leiser Stimme antwortete sie: »Nix gemacht mit Walter, nur geküsst.«
»Schweig«, herrschte sie nun ihr Vater an, »ich will nix hören Name von deutsche Teufel.
In der Küche brach nun auch Kamuran Özkan, Akgüls Mutter, in Tränen aus. Sie konnte die lauten, an ihre Tochter gerichteten Beschuldigungen deutlich vernehmen. Sie rückte ihr buntes Kopftuch zurecht und hielt die gefalteten Hände zur Decke gestreckt. »Allahu akbar«, betete sie innbrünstig. Im Wohnzimmer brüllten Vater Ahmet und Sohn Kemal weiter auf ihre Tochter ein.
»Und nun, was du machst nun?«, wollten sie von ihr wissen.
»Ich nix lieben Müselüm«, versuchte Akgül sich zu verteidigen, »Müselüm ihr habt ausgesucht für mich. Zu alt für mich und hässlich, hat Nase wie krumme Gurke. Immer ich soll machen, was er sagt. Sagt ich soll Kopftuch tragen. Ich bin schön und nicht will bedecken mein schönes Haar. Nicht leben wie in achtzehntes Jahrhundert, wie in Urfa.«
»Müselüm hat recht, du nicht gekleidet wie türkisches Mädchen«, brüllte sie ihr Bruder an, »Hose an Arsch zu eng und Bluse zu durchsichtig. Kann jeder sehen deine Unterwäsche durch Stoff. Kann nicht glauben, dass deutscher Freund da nicht schon hat hingelangt. Vielleicht auch schon anderswo? Vielleicht du bist schon geöffnet und keine Jungfrau mehr? Müssen gehen zu Arzt und feststellen.«
»Nein«, kreischte Akgül verzweifelt, »das nicht stimmen, was du sagen. Du bist türkisches Männer-Arschloch. Macho.«
Sie reagierte zu spät, als ihr Bruder, wie von der Tarantel gestochen, über den kleinen Couchtisch hechtete, sein Glas, gefüllt mit aromatischem Apfeltee, verschüttete, und ihr einen kräftigen Faustschlag auf die rechte Wange hieb. Sein schwerer Metallring, den er am rechten Mittelfinger trug, riss ihre feine bronzefarbene Gesichtshaut auf, und augenblicklich war ihre weiße Bluse mit dicken Bluttropfen besprenkelt. Akgül schrie vor Schmerzen auf, und ihre Mutter stürzte aus der Küche herbei, um ihre Tochter in die Arme zu nehmen und sie vor weiteren Angriffen zu schützen.
»Weib, geh in Küche, hier kein Platz für dich!«, herrschte sie ihr Ehemann an.
6
Doris Kunstmann lebte noch zuhause bei ihren Eltern, in Röttenbach, in der Weiherstraße. Die achtzehnjährige Blondine, mit den himmelblauen Augen und der kräftigen Oberweite bereitete sich auf das Abitur vor, welches sie im kommenden Jahr mit Bravour bestehen wollte. Im Moment stand ihr der Sinn allerdings nicht nach Lernen, und ihr Interesse an der Schule war gerade in weite Ferne gerückt. Ausgerechnet ihre Intimfeindin, diese flachbrüstige, krummbeinige Hannelore Adam – wie konnte man nur Hannelore heißen? – hatte ihr mit höchster Schadenfreude die neueste Nachricht verkündet, welche sie noch immer nicht so recht glauben wollte: Ihr Walter solle angeblich seit Neuestem mit dieser türkischen Schlampe aus der Amselstraße liiert sein, diesem geilen Miststück. Wie hieß sie doch noch gleich? Akgül! Da war ja sogar Hannelore ein schönerer Name. Im fernen Coburg hat man die beiden gesehen, wie sie innig miteinander knutschten. Sie glaubte kein Wort davon. Sie musste sich selbst Sicherheit verschaffen. Jetzt, sofort. Ihre Gedanken kreisten hin und her. Walter hatte ihr doch immer wieder seine Liebe erklärt. Erst kürzlich. Vor zwei Wochen. Aber was besagt das? Es stimmt schon, in letzter Zeit hatte er sich immer rarer gemacht.
»Wenn du im Moment keine Zeit net hast, ist‘s net so schlimm«, waren seine Worte. »Die Matheschulaufgab ist im Moment wichtiger für dich. Nimm dir nur Zeit zum Lerna. Wir treffn uns halt danach wieder.«





