Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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Damit bekunden sie nach seiner Überzeugung noch in ihren Lastern ihren „goût de l’infini“. „Le Goût de l’infini“ lautet denn auch der Titel dieses ersten Kapitels des Poème du hachisch, dessen Menschenbild zutiefst von der christlichen Vorstellung des Sündenfalls geprägt ist.
Baudelaire hat den „état exceptionnel“ wiederholt beschrieben und unterschiedlich benannt27. Außer den Wirkungen des Zustandes hat ihn vor allem interessiert, wodurch er ausgelöst wird. So hat er in den Paradis artificiels, den durch Wein, Haschisch oder Opium zu erlangenden „Künstlichen Paradiesen“28, ausführlich erörtert, wie die Glückseligkeit ‚aus der Apotheke‘ zu erlangen ist. Dabei hat er immer wieder Parallelen zwischen den durch Drogen bewirkten Rauschzuständen und dem ekstatischen Zustand des Dichters gezogen, denn als Dichter ging es ihm „letztlich […] um die Ergründung der äußersten Möglichkeiten eines ‚poetischen‘ Zustands“29. Daher hat man das Poème du hachisch als einen Kommentar zur dichterischen Erfahrung der Fleurs du mal lesen können30 und im „état exceptionnel“ geradezu das Herzstück der Baudelaireschen Poetik gesehen31.
In der neueren Literaturwissenschaft wird ein dem Baudelaireschen „état exceptionnel“ verwandtes Phänomen unter dem Begriff ‚Epiphanie‘ diskutiert. Dieser Begriff geht in seiner modernen Bedeutung auf James Joyce zurück, der die alte religiöse Bedeutung von ‚Epiphanie‘ als In-Erscheinung-Treten eines Gottes psychologisch und literarisch umgedeutet hat in dem Sinne, dass in gewissen Momenten die Dinge in ihrer Wesenheit erscheinen und zu erfassen sind und dass ein Autor dies zu vermitteln habe32. Als wesentliche Kriterien einer Epiphanie gelten die sinnenhafte Wahrnehmung eines alltäglichen Gegenstands oder einer alltäglichen Situation, Plötzlichkeit und Kürze der Empfindung sowie die erhellende Einsicht in eine unbekannte Wirklichkeit33. Seit der Romantik ist die Epiphanie ein Programmpunkt der Lyrik und im modernen Roman ist sie eine Konstante geworden34. Der romantische Ursprung der literarischen Epiphanie legt Verbindungslinien zu Baudelaire nahe, auch wenn die Hochgestimmtheit und das ekstatische Hochgefühl bei diesem ausgeprägter (und näher am religiösen Erleben) sind und er ausdrücklich den schöpferischen Enthusiasmus einbezieht.
In der theologischen und der künstlerischen Anthropologie waren Epiphanie und Ausnahmezustand bis in die Romantik als Enthusiasmus, als Ergriffensein vom Gott oder vom Göttlichen bekannt. Mit der Umschreibung „enthousiasme“35 schließt Baudelaire Poes „elevating excitement“ an diese ästhetische Diskussion an. In Frankreich hatte etwa Mme de Staël die Überzeugung geäußert, dass Dichtung und Kunst in der Lage seien, den flüchtigen Enthusiasmus im Menschen sowohl zu entwickeln wie auch zu bewahren:
On accuse l’enthousiasme d’être passager; l’existence serait trop heureuse si l’on pouvait retenir des émotions si belles; mais c’est parce qu’elles se dissipent aisément qu’il faut s’occuper de les conserver. La poésie et les beaux-arts servent à développer dans l’homme ce bonheur d’illustre origine qui relève les cœurs abattus, et met à la place de l’inquiète satiété de la vie le sentiment habituel de l’harmonie divine dont nous et la nature faisons partie.36
Vor allem die Lyrik kann den paradiesischen Zustand herstellen und ihm die gewünschte Dauer verleihen:
La poésie lyrique […] donne de la durée à ce moment sublime pendant lequel l’homme s’élève au-dessus des peines et des plaisirs de la vie.37
Denn der Lyriker versteht es, die tiefsten Empfindungen der Seele freizusetzen – „de dégager le sentiment prisonnier au fond de l’âme“38 – und sie durch Sprache auszudrücken. Die Bilder, die er zum poetischen Ausdruck oder „emblème“ dieser Empfindungen braucht, findet er in bestimmten Naturansichten, die von den Modernen dank ihrer „religion spiritualiste“ als erhaben empfunden werden:
Les modernes ne peuvent se passer d’une certaine profondeur d’idées dont une religion spiritualiste leur a donné l’habitude; et si cependant cette profondeur n’était point revêtue d’images, ce ne serait pas de la poésie: il faut donc que la nature grandisse aux yeux de l’homme pour qu’il puisse s’en servir comme de l’emblème de ses pensées. Les bosquets, les fleurs et les ruisseaux suffisaient aux poètes du paganisme; la solitude des forêts, l’Océan sans bornes, le ciel étoilé peuvent à peine exprimer l’éternel et l’infini dont l’âme des chrétiens est remplie.39
Mme de Staël befindet sich hier im Einklang mit Chateaubriand, der im Génie du Christianisme festgestellt hatte, dass die enthusiastische Naturerfahrung eine spezifisch christliche Errungenschaft sei:
Il y a dans l’homme un instinct qui le met en rapport avec les scènes de la nature. Eh! qui n’a pas passé des heures entières, assis sur le rivage d’un fleuve, à voir s’écouler les ondes! Qui ne s’est plu, au bord de la mer, à regarder blanchir l’écueil éloigné! Il faut plaindre les anciens, qui n’avaient trouvé dans l’Océan que le palais de Neptune et la grotte de Protée; il était dur de ne voir que les aventures des Tritons et des Néréides dans cette immensité des mers, qui semble nous donner une mesure confuse de la grandeur de notre âme, dans cette immensité qui fait naître en nous un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur.40
An seinem Beispiel lassen sich die typischen Züge eines ekstatischen Naturerlebnisses gewinnen: es geht von einer konkreten Landschaft („le rivage d’un fleuve“, „[le] bord de la mer“) aus, die von der Phantasie des Betrachters ins Unendliche („immensité“) erweitert wird und diesem eine „konfuse“ Selbsterfahrung („une mesure confuse de la grandeur de notre âme“) vermittelt, die in ein religiöses Vereinigungserlebnis bzw. eine Hoffnung auf ein solches mündet („un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur“)41. Chateaubriand hat auch die Naturschauspiele genannt, die für solche Erlebnisse in Frage kommen. Das eine ist der Anblick der „déserts de l’Océan“ unter einem nächtlichen Sternenhimmel, der den Menschen die Unendlichkeit des Universums und die Allmacht Gottes erfahren lässt; das andere ist eine „perspective terrestre“, die vom Mond beschienene Savannen- und Waldlandschaft der Neuen Welt, in der die Seele in die Weite der Wälder eintaucht („l’âme se plaît à s’enfoncer dans un océan de forêts“) und in der Einsamkeit Gott begegnet („à méditer au bord des lacs et des fleuves, et pour ainsi dire, à se trouver seule devant Dieu“)42.
Ekstatische Naturerlebnisse sind in der französischen Literatur seit Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire bekannt43. Rousseau hat in seiner „Septième Promenade“ beschrieben, wie er sich in der erzwungenen Einsamkeit beim Herborisieren in die Betrachtung der „trois règnes“ der Natur versenkt und mit einer „délicieuse ivresse“ in der Unendlichkeit dieses „beau sistême“ verloren habe:
Plus un contemplateur a l’âme sensible plus il se livre aux extases qu’excite en lui cet accord. Une rêverie douce et profonde s’empare alors de ses sens, et il se perd avec une délicieuse ivresse dans l’immensité de ce beau sistême avec lequel il se sent identifié. Alors tous les objets particuliers lui échappent; il ne voit et ne sent rien que dans le tout.44
In solchen Momenten fühlt sich der Betrachter mit dem ganzen Universum eins, und das Ich und alles Einzelne gehen im Ganzen auf. In der „Cinquième Promenade“ berichtet Rousseau von einem weiteren vollkommenen Glückszustand auf dem Bieler See. In einem Boot treibend oder am Ufer sitzend tauchte ihn die gleichförmige Bewegung des Wassers in „mille rêveries confuses mais délicieuses“ und ließ ihn das pure Gefühl seiner Existenz genießen:
[…] le bruit des vagues et l’agitation de l’eau […] suffisoient pour me faire sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser.45
Diese Empfindung des ‚sentiment de l’existence‘ lässt den Betroffenen wie Gott sich selbst genügen:
[…] tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu. (S. 1047)
Für solche Ekstasen bedarf es nach Rousseaus Überzeugung der persönlichen Disposition einer „âme sensible“ und der Hilfe der umgebenden Dinge durch eine maßvolle Bewegung zwischen Erregtheit und absoluter Ruhe. Ist die äußere Ruhe zu groß, muss die Phantasie zu Hilfe kommen und durch leichte und angenehme Gedanken innere Bewegung schaffen46. „Rêveries“ dieser Art sind nach seiner Überzeugung nicht nur in der Natur, sondern überall möglich, auch unter den widrigsten Bedingungen:
[…] j’ai souvent pensé qu’à la Bastille et même dans un cachot où nul objet n’eut frappé ma vue, j’aurois encor pu rêver agreablement. (S. 1048)
Wie man sieht, bieten die Rêveries du promeneur solitaire demjenigen, der an ekstatischen Zuständen interessiert ist, ein reichhaltiges Anschauungsmaterial, von dem die Romantik direkt und indirekt reichlich Gebrauch gemacht hat.
Für Baudelaire gehört die „rêverie“ vor der Natur lange Zeit zu den mächtigsten Stimuli ekstatischen Erlebens, wie mehrere Gedichte der Fleurs du mal bezeugen. Das bekannteste ist das Sonett Correspondances (Les Fleurs du mal IV), das Grundgedanken seiner poetischen Theorie enthält und viele Deutungen erfahren hat47. Es handelt von der allgemeinen Symbolhaltigkeit der Natur, in welcher der Mensch sich in einem Wald von vertrauten Symbolen bewegt und dunkle Worte hören kann und wo „[l]es parfums, les couleurs et les sons se répondent“ (V. 8). Diese Beziehungen der Dinge untereinander werden am Beispiel der Düfte beschrieben:
Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants,
Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,
– Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,
Ayant l’expansion des choses infinies,
Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens,
Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.
(V. 9–14)
Die im letzten Vers genannten „Verzückungen des Geistes und der Sinne“ sind erkennbar ekstatische Zustände, die durch die Synästhesien von Düften, Farben und Tönen hervorgerufen bzw. ausgedrückt werden. Der Gedichttitel spricht jedoch nicht von „synesthésies“, sondern von „correspondances“ und verwendet damit einen Begriff, der zusammen mit „analogies“ eine zentrale Rolle in Baudelaires ästhetischer Theorie spielt48. Die von dem Illuministen Emanuel Swedenborg und dem Sozialphilosophen Charles Fourier stammenden Begriffe benennen die Beziehungen zwischen den Dingen, auf denen die universale Harmonie und Einheit der Schöpfung beruht, die der Mensch im ekstatischen Zustand erfährt. Bei seiner Beschreibung des fortgeschrittenen Stadiums des Haschischrausches, wenn es zur „unio mystica“ mit allem Seienden kommt, verweist Baudelaire auf diese Lehre und ihre Begründer:
Cependant se développe cet état mystérieux et temporaire de l’esprit, où la profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples, se révèle tout entière dans le spectacle, si naturel et si trivial qu’il soit, qu’on a sous les yeux – où le premier objet venu devient symbole parlant. Fourier et Swedenborg, l’un avec ses analogies, l’autre avec ses correspondances, se sont incarné dans le végétal et l’animal qui tombent sous votre regard, et au lieu d’enseigner par la voix, ils vous indoctrinent par la forme et par la couleur.49
Swedenborg und Fourier, die er hier nicht ohne gewisse Ironie poetisch ins Bild setzt, haben sich mittels ihrer Begriffe Korrespondenz und Analogie in die Tier- und Pflanzenwelt inkarniert und sprechen statt mit menschlicher Stimme durch Form und Farbe. Denn alles in der natürlichen wie geistigen Welt ist bedeutungsvoll und verweisend: „tout, forme, mouvement, nombre, couleur, parfum, dans le spirituel comme dans le naturel, est significatif, réciproque, converse, correspondant. […]tout est hiéroglyphique“50, und es ist Aufgabe des Dichters, diese geheimen Übereinstimmungen des Universums zu entziffern. Daher sind Analogien und Korrespondenzen Grundmuster künstlerischen, insbesondere poetischen Denkens und Schaffens51 und jeder gute Dichter nimmt seine Bilder aus dem unerschöpflichen Fundus der „universalen Analogie“:
Chez les excellents poètes, il n’y a pas de métaphore, de comparaison ou d’épithète qui ne soit d’une adaptation mathématiquement exacte dans la circonstance actuelle, parce que ces comparaisons, ces métaphores et ces épithètes sont puisées dans l’inépuisable fonds de l’universelle analogie, et qu’elles ne peuvent être puisées ailleurs.52
Einen besonderen Fall von Analogien und Korrespondenzen stellt das im Zusammenhang mit ihnen erwähnte „symbole parlant“ dar, zu dem ein beliebiger Gegenstand – „le premier objet venu“ – werden kann, den das Individuum im ekstatischen Zustand vor Augen hat und der ihm die „profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples“ offenbart. Diese Beobachtung zur Symbolbildung war Baudelaire so wichtig, dass er sie in seinen privaten Aufzeichnungen noch einmal allgemeingültiger formuliert hat:
Dans certains états de l’âme presque surnaturels, la profondeur de la vie se révèle tout entière dans le spectacle, si ordinaire qu’il soit, qu’on a sous les yeux. Il en devient le symbole.53
Die „états de l’âme presque surnaturels“, von denen hier die Rede ist, sind künstlerische, um nicht zu sagen dichterische „états exceptionnels“54. Die „profondeur de la vie“, die sich dem Dichter in diesem Zustand in einem alltäglichen Schauspiel offenbart, ist die Summe der vielfältigen Analogien und Korrespondenzen, die er in seinem universalen Einheits- und Harmonieerlebnis wahrnimmt, und das Symbol, in dem er das Erlebnis festhält, hat die Aufgabe, als „symbole parlant“ auf eben diese universalen Beziehungen zu verweisen55.
In dem 1862 entstandenen Prosagedicht Le Confiteor de l’artiste (Spleen de Paris III) hat Baudelaire die Naturekstase noch einmal zu seinem Gegenstand gemacht und sie dabei problematisiert.
Le Confiteor de l’artiste
Que les fins de journées d’automne sont pénétrantes! Ah! pénétrantes jusqu’à la douleur! car il est de certaines sensations délicieuses dont le vague n’exclut pas l’intensité; et il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini.
Grand délice que celui de noyer son regard dans l’immensité du ciel et de la mer! Solitude, silence, incomparable chasteté de l’azur! une petite voile frissonnante à l’horizon, et qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence, mélodie monotone de la houle, toutes ces choses pensent par moi, ou je pense par elles (car dans la grandeur de la rêverie, le moi se perd vite!); elles pensent, dis-je, mais musicalement et pittoresquement, sans arguties, sans syllogismes, sans déductions.56
Die vorgestellte Situation ist eine „perspective marine“, ein Herbstabend am Meer, der beim Ich den Ausnahmezustand auslöst und es mit einem unbestimmten Glücksgefühl („certaines sensations délicieuses“) erfüllt. In der Weite des Himmels und der Unendlichkeit des Meeres „ertrinkt“ sein Blick. Ein kleines Segel am Horizont spiegelt ihm die Winzigkeit und Verlorenheit der eigenen Existenz inmitten der erahnten Unendlichkeit. Einsamkeit und Stille, das tiefe Blau des Himmels und das monotone Rauschen des Meeres versetzen es in eine „rêverie“, in der es eins wird mit den Dingen, „durch sie denkt“ und die Dinge „durch es denken“. Soweit zeigt das Gedicht die bekannten Phänomene einer Ekstase von der Steigerung der Sinneswahrnehmung über die Vorstellung der Unendlichkeit bis zur Identifikation und dem Einswerden mit den wahrgenommenen Dingen, wie es im Poème du hachisch beschrieben wird:
Il arrive quelquefois que la personnalité disparaît et que l’objectivité, qui est le propre des poètes panthéistes, se développe en vous si anormalement, que la contemplation des objets extérieurs vous fait oublier votre propre existence, et que vous vous confondez bientôt avec eux. Votre œil se fixe sur un arbre harmonieux courbé par le vent; dans quelques secondes, ce qui ne serait dans le cerveau d’un poète qu’une comparaison fort naturelle deviendra dans le vôtre une réalité. Vous prêtez d’abord à l’arbre vos passions, votre désir ou votre mélancolie; ses gémissements et ses oscillations deviennent les vôtres, et bientôt vous êtes l’arbre. De même, l’oiseau qui plane au fond de l’azur représente d’abord l’immortelle envie de planer au-dessus des choses humaines; mais déjà vous êtes l’oiseau lui-même. Je vous suppose assis et fumant. Votre attention se reposera un peu trop longtemps sur les nuages bleuâtres qui s’exhalent de votre pipe. L’idée d’une évaporation, lente, successive, éternelle, s’emparera de votre esprit, et vous appliquerez bientôt cette idée à vos propres pensées, à votre matière pensante. Par une équivoque singulière, par une espèce de transposition ou de quiproquo intellectuel, vous vous sentirez vous évaporant, et vous attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et ramassé comme le tabac) l’étrange faculté de vous fumer.57
Bei einem poetischen Gemüt führt dieser Zustand in der Regel zur Symbolbildung. In Le Confiteor de l’artiste könnte das Segel am Horizont zum Symbol werden, in dem das dichterische Ich den flüchtigen Moment seiner „unio mystica“ mit dem Geschauten festhält. Obwohl die Schiffsmetapher ein bekanntes Bild des Menschen- und besonders des Dichterlebens ist, ist die Symbolbildung hier aber gestört, da es bei der reinen „représentation“ des Ichs und seiner Befindlichkeit durch das Segel bleibt („qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence“58). Das Ich spricht im Weiteren sogar von einer unerträglichen Intensität des Erlebnisses:
Toutefois, ces pensées, qu’elles sortent de moi ou s’élancent des choses, deviennent bientôt trop intenses. L’énergie dans la volupté crée un malaise et une souffrance positive. Mes nerfs trop tendus ne donnent plus que des vibrations criardes et douloureuses.
Et maintenant la profondeur du ciel me consterne; sa limpidité m’exaspère. L’insensibilité de la mer, l’immuabilité du spectacle, me révoltent … Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau? Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil! L’étude du beau est un duel où l’artiste crie de frayeur avant d’être vaincu.
Seine übergroße Lust schlägt in Unwohlsein und Leiden um und seine Nerven vibrieren schmerzlich. Die Tiefe und Klarheit des Himmels bestürzen und erschrecken es, die „insensibilité de la mer“ und die „immuabilité du spectacle“ bringen es auf und bewirken, dass es ein Ende herbeiwünscht („Nature, […] laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil!“). Damit entlädt sich die eingangs festgestellte Spannung („il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini“) und die Meditation wird abgebrochen, ohne dass es zu einer umfassenden, das Erlebnis als Ganzes einschließenden poetischen Symbolbildung kommt.
Der Blick auf die Geschichte der neueren poetischen Naturerfahrung zeigt, dass ekstatische Naturerlebnisse problematisch verlaufen können und bei Baudelaire tun sie es besonders oft59. Das ist die Folge einer nicht mehr fraglosen Bewunderung der Natur und des Naturschönen, die er mit namhaften Zeitgenossen teilt60. Das Scheitern der dichterischen Ekstase in Le Confiteor de l’artiste ist dennoch nicht leicht zu verstehen. Denn die Intensität der Wahrnehmung und Empfindungen ist ja an sich ein Charakteristikum des gesuchten Ausnahmezustands, und das künstlerische Genie vermag sie nach Baudelaires Überzeugung auch auszuhalten. Selbst das Erschrecken über die „profondeur“ und „limpidité“ des Himmels muss einer Ekstase nicht im Wege stehen, gehört es doch zum Erlebnis des Erhabenen61. Erst die „insensibilité“ des Meeres, und die „immuabilité“ des Schauspiels, die das romantische Erlebnis einer gleichgestimmten Natur verhindern, lösen denn auch die „Revolte“ des Ichs aus, das sich darauf die Frage nach seinem Verhältnis zum Schönen stellt: „Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau?“, was hier selbstverständlich das Naturschöne meint. An Stelle einer direkten Antwort wendet das Ich sich an die Natur und weist die von ihr ausgehende „Versuchung“ zurück: „Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil!“ Versuchung und Zurückweisung einer Versuchung sind aber religiös konnotierte Handlungen, die in diesem Gedicht in eine weitere religiöse, genauer eine liturgische Handlung eingebaut sind, auf die der Titel Le Confiteor de l’artiste anspielt.
In der katholischen Liturgie ist das Confiteor das reinigende Schuldbekenntnis, das der Priester zu Beginn der Messfeier an den Stufen des Altars ablegt62. Baudelaire liebt es, in seinen Gedichten religiöse Redeformen aufzugreifen, etwa den Hymnus als Lob- und Preisgesang des Künstlers auf die Gottheit in Hymne à la Beauté oder die Offenbarungsrede der Gottheit selbst in La Beauté (Fleurs du mal XXI bzw. XVII). Mit dem Titel Le Confiteor de l’artiste präsentiert er sein Prosagedicht als eine Variante des liturgischen Schuldbekenntnisses, was zwangsläufig die Frage nach der Schuld aufwirft, die sein dichterisches Ich bekennen soll. Ist es das Scheitern der Ekstase oder das Scheitern des künstlerischen Ausdrucks derselben, ist es ein Sich-Verlieren an die „Formlosigkeit“ des Naturschönen oder, im Gegenteil, dessen nur ästhetische Würdigung, wie man angenommen hat63? Die Antwort, die der Text auf die Frage gibt, kann nur lauten, dass es die Versuchung durch die unbewegte, mitleidlose Natur und ihr verführerisches Schönes ist64. Demnach wäre der Dienst am Naturschönen die Verfehlung, von der das Ich sich durch sein Schuldbekenntnis reinigen will. Der Dienst am Schönen selbst stünde außer Frage, da das Ich, der Vorgabe des liturgischen Confiteor folgend, seine weitere Bereitschaft zu diesem bekundet65. Tatsächlich ist das wahre Schöne für Baudelaire, wie man weiß, das artifizielle Schöne, das vom Menschen gemacht und gedacht ist66, wozu noch das menschliche Schöne kommt. Das wird im Gedicht zwar nicht explizit gesagt, ist aber seiner Stellung zu entnehmen. Denn wie man von den Fleurs du mal und ihrer „architecture secrète“ weiß, hat Baudelaire seine Gedichte sehr bewusst angeordnet67. Le Confiteor de l’artiste am Anfang des Spleen de Paris68, der vom Großstadtschönen handelt, ist daher eine feierliche Absage an das Naturschöne und eine Einstimmung des Lesers auf die bevorstehende Feier des menschlichen Schönen in der Großstadt. Diesen programmatischen Wechsel bestätigt der Blick auf den Schönheitsbegriff Baudelaires.
b) Baudelaires Vorstellung vom Schönen
Im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire eine viel zitierte Definition des Schönen gegeben1. Seiner „théorie rationnelle et historique du beau“ zufolge hat das Schöne einen unveränderlichen ewigen und einen vergänglichen, von den Umständen abhängigen zeitgemäßen Teil. Ohne den zeitgemäßen Teil wäre der ewige Teil dem Menschen nicht zugänglich:
Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstantiel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’époque, la mode, la morale, la passion. Sans ce second élément, qui est comme l’enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la nature humaine. (S. 685)
Der veränderliche Teil des Schönen ist die „modernité“:
La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.2
Die „modernité“ zu entdecken ist mühsam, aber notwendig, wenn eine Epoche zu ihrer eigenen Kunst finden will:
[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse que la vie humaine y met involontairement en ait été extraite.3
Die Vorstellung eines zeitgemäßen ‚modernen‘ Schönen hat Baudelaire schon im Salon de 1846 vertreten. In dessen Schlusskapitel, das den Titel „De l’héroïsme de la vie moderne“ trägt, nennt er den vergänglichen Teil des Schönen die „beauté particulière“, die aus den jeweiligen „passions“ einer Epoche resultiere, und folgert: „comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté.“4 Als Beispiele für dieses Schöne der eigenen Zeit führt er dann Lebensformen und -gewohnheiten der Großstadt an wie den „suicide moderne“, das uniformierende und melancholische „habit noir“ der Gegenwart sowie generell „[l]e spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes qui circulent dans les souterrains d’une grande ville, – criminels et filles entretenues […]“; im Besonderen hebt er den „Heroismus“ eines willensstarken Politikers und eines ebensolchen Mörders hervor5. Kurz, das Pariser Leben sei voller poetischer und wunderbarer Gegenstände, die freilich nicht erkannt würden: