Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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Auch Baudelaire hat sich in einem Brief an seine Mutter auf den Wesenszug berufen und ihn seinen einzigen Stolz genannt:
Le propre des vrais poètes – pardonnez-moi cette petite bouffée d’orgueil, c’est le seul qui me soit permis – est de savoir sortir d’eux-mêmes, et comprendre une tout autre nature.34
Weniger philosophische und künstlerische Naturen erfahren dagegen im Rausch nur das eigene „tempérament physique et moral“, wie er zu betonen nicht müde geworden ist35. Daher bringt auch die Steigerung des Lebens- und Hochgefühls während eines festlichen Schauspiels oder in einer Menschenmenge, die auf der elementaren Wahrnehmung gleichgearteten Tuns und Erlebens beruht, keine qualitative Erweiterung des Ichs mit sich. Zu dieser ist allein der Dichter fähig, der im Enthusiasmus je nach Wunsch er selbst oder ein Anderer sein kann und für den daher die Vielfalt der vielen Einzelnen, die „multiplication du nombre“, ein „Vitalität“36 spendendes Bad ist. Das ist der tiefere Sinn der Metapher vom Bad in der Menge und der Rede von der „Kunst“ des Mengenerlebnisses.
Es wäre nun ein Irrtum, das Sich-Hineinversetzen des Dichters in Andere für einen philanthropischen oder gar sozialen Akt zu halten. Schon im Mangeur d’opium weist die Bezeichnung „dilettantisme dans la charité“ für das wiederholte, genussvolle Eintauchen des Erzählers in die ihm vertraute „foule de déshérités“ in eine andere Richtung. Im Poème du hachisch, wo Baudelaire die Deformation und Steigerung von Gefühlen und moralischen Maßstäben unter dem Einfluss der Droge beschreibt und in der vorletzten Phase des Haschischrausches eine „bienveillance singulière appliquée même aux inconnus, une espèce de philanthropie plutôt faite de pitié que d’amour“ diagnostiziert, entdeckt er darin den Ansatz zum „esprit satanique“37. Denn der Drogenberauschte sieht in diesem Zustand seine Person im Zentrum des Universums, er fühlt sich gottgleich und bezieht alles auf sich selbst:
[…] toutes ces choses ont été créées pour moi, pour moi, pour moi! Pour moi, l’humanité a travaillé, a été martyrisée, immolée, – pour servir de pâture, de pabulum à mon implacable appétit d’émotion, de connaissance et de beauté!38
Der Dichter, der denselben „implacable appétit d’émotion, de connaissance et de beauté“ besitzt, lebt den gottgleichen Zustand – den ‚En-thusiasmus‘ – in seinem Werk aus, das, wie die Fleurs du mal beweisen, satanische Züge tragen kann. Das zugegeben komplexe Verhältnis des Dichters zum (Mit)Menschen hat somit nichts mit Sozialromantik39, aber viel mit Inspiration und Ästhetik zu tun.
Die Gabe, er selbst oder ein Anderer zu sein, kann der Dichter nach seinem Belieben einsetzen, wann er will („quand il veut“) und wo er will („tout est vacant“). So wählt er aus und übergeht, was ihm nicht der Mühe wert erscheint: „si de certaines places paraissent lui être fermées, c’est qu’à ses yeux elles ne valent pas la peine d’être visitées.“ Das Wort „places“ ist dabei nicht zufällig gewählt, denn in der Großstadt finden Begegnungen mit Menschen, wie sich zeigen wird, vorzugsweise an viel besuchten „Orten“ statt. Hier meint es jedoch zunächst die Menschen, in die der Dichter sich gleich einer irrenden Seele, die einen Körper sucht, hineinversetzt: „[c]omme ces âmes errantes qui cherchent un corps“. Diese Äußerung impliziert die Aussage, dass die Empathie des Dichters mit dem menschlichen Gegenüber, sein „entrer dans le personnage de chacun“, die ihm eigentümliche Form des Enthusiasmus und der Inspiration und somit geradezu Voraussetzung für sein Schaffen ist. Daher verwundert es nicht, wenn das im Gedicht entworfene Bild des Dichters weitgehend mit der Selbstcharakteristik des Erzählers in Balzacs Facino Cane übereinstimmt, dessen Leidenschaft es ist, sich unerkannt unter die Bewohner des Faubourg zu mischen, ihre Sitten und Charaktere zu beobachten und sich in sie hineinzuversetzen, um ihr Leben zu leben:
Chez moi l’observation était déjà devenue intuitive, elle pénétrait l’âme sans négliger le corps; ou plutôt elle saisissait si bien les détails extérieurs, qu’elle allait sur-le-champ au-delà; elle me donnait la faculté de vivre de la vie de l’individu sur laquelle elle s’exerçait, en me permettant de me substituer à lui comme le derviche des Mille et Une nuits prenait le corps et l’âme des personnes sur lesquelles il prononçait certaines paroles.
[…] En entendant ces gens je pouvais épouser leur vie, je me sentais leurs guenilles sur le dos, je marchais les pieds dans leurs souliers percés; leurs désirs, leurs besoins, tout passait dans mon âme, ou mon âme passait dans la leur. C’était le rêve d’un homme éveillé. […] Quitter ses habitudes, devenir un autre que soi par l’ivresse des facultés morales, et jouer ce jeu à volonté, telle était ma distraction.40
Die gedanklichen und teils wörtlichen Parallelen in Balzacs Text41 – „épouser leur vie“, „vivre la vie d[’un autre]“, „l’ivresse des facultés morales“, „leurs désirs, leurs besoins, tout passait dans mon âme, ou mon âme passait dans la leur“, „jouer ce jeu à volonté“ – sind durchaus verblüffend. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied. Wenn Balzac seinen Erzähler die Leidenschaft für die „observation“ mit der Bemerkung „mais n’était-ce pas encore de l’étude?“ einordnen lässt42, so meint er damit das Ziel des Epikers, wie er es versteht, und das ein anderes ist als das des lyrischen Dichters, das Baudelaire seinem „poète actif et fécond“ setzt. Denn die Lyrik betrachtet Dinge und Personen nicht unter ihrem besonderen und individuellen Aspekt, sondern in ihren grundsätzlichen und allgemeinen, ja universalen Zügen; sie vermeidet die Einzelheiten, in denen der Roman schwelgt, und strebt nicht die Analyse, sondern die Synthese an. So jedenfalls hat Baudelaire sich im Artikel über Théodore de Banville geäußert:
[…] tout mode lyrique de notre âme nous contraint à considérer les choses non pas sous leur aspect particulier, exceptionnel, mais dans leurs traits principaux, généraux, universels. La lyre fuit volontiers tous les détails dont le roman se régale. L’âme lyrique fait des enjambées vastes comme des synthèses; l’esprit du romancier se délecte dans l’analyse.43
Die hier vermerkten „Sprünge“ der lyrischen Seele sind nichts anderes als das Ausmessen der „profondeur de la vie“ im enthusiastischen Zustand und die „Synthese“ ist das universale Einheitserlebnis des Lyrikers. Der Romancier hingegen lebt seine Lust am Fabulieren in der „Analyse“ aus, wozu er nach Balzac der genauen und umfassenden Beobachtung der Menschen und ihrer Gewohnheiten im konkreten Umfeld bedarf, die auch die Identifikation mit ihnen einschließen kann44.
In den beiden folgenden Abschnitten von Les Foules wird die ekstatische Steigerung des dichterischen Lebensgefühls in der Menschenmenge gefeiert. Baudelaire steigert dabei die gewohnten Ausdrücke durch zusätzliche Adjektive – „des jouissances fiévreuses“, „une singulière ivresse“, „mystérieuses ivresses“ – und hebt ihre Einzigartigkeit durch Vergleiche hervor („dont seront éternellement privé l’égoïste, fermé comme un coffre, et le paresseux, interné comme un mollusque“). Die Bereitschaft und die Begeisterung, mit der sich der Dichter der Menge hingibt, und seine ekstatische Selbstentäußerung im Anderen veranschaulicht er durch erotisch-sexuelle, familiäre, ja religiös konnotierte Metaphern wie die einer „universelle communion“ mit der Menge, die an die Forderung des Erzählers im Mangeur d’opium erinnert, dass ein „Philosoph“ im Umgang mit den Anderen „un être vraiment catholique“ sein müsse:
[…] le philosophe ne doit pas voir avec les yeux de cette pauvre créature bornée qui s’intitule elle-même l’homme du monde, remplie de préjugés étroits et egoïstiques, mais doit au contraire se regarder comme un être vraiment catholique, en communion et relation égales avec tout ce qui est en haut et tout ce qui est en bas, avec les gens instruits et les gens non éduqués, avec les coupables comme avec les innocents.45
Um die folgenden Metaphern „cette ineffable orgie“ und „cette sainte prostitution“ zu verstehen, muss man wissen, dass für Baudelaire Liebe und Kunst gleichermaßen auf der „prostitution“ gründen:
L’amour, c’est le goût de la prostitution. Il n’est même pas de plaisir noble qui ne puisse être ramené à la Prostitution.
[…]
Qu’est-ce que l’art? Prostitution.46
„Prostitution“ ist als Hingabe an den Anderen sogar ein „sentiment généreux“:
L’amour peut dériver d’un sentiment généreux: le goût de la prostitution; mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété.47
Das erklärt ihre Aufwertung in dem Satz: „Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible comparé à cette ineffable orgie, à cette sainte prostitution de l’âme […].“ Wegen seiner unerschöpflichen Liebe zu jeder Kreatur spricht Baudelaire die Prostitution sogar Gott zu:
L’être le plus prostitué, c’est l’être par excellence, c’est Dieu, puisqu’il est l’ami suprême pour chaque individu, puisqu’il est le réservoir commun, inépuisable de l’amour.48
In der Kunst ist Prostitution von besonderer Art, weil der „homme de génie“ nicht sein Ich „im Fleische“ vergessen will wie der gewöhnliche Mensch:
Goût invincible de la prostitution dans le cœur de l’homme, d’où naît son horreur de la solitude. – Il veut être deux. L’homme de génie veut être un, donc solitaire.
La gloire, c’est rester un, et se prostituer d’une manière particulière.
C’est cette horreur de la solitude, le besoin d’oublier son moi dans la chair extérieure, que l’homme appelle noblement besoin d’aimer.49
Vielmehr geht es ihm trotz Selbstentäußerung und Hingabe an den Anderen darum, sich selbst zu bewahren: „La gloire, c’est rester un […].“50 Die Selbstentäußerung kann vor allem dem Dichter zum Problem werden51, weil sie bei ihm stärker ist als bei anderen Künstlern. In Les Foules scheint die Balance zwischen Hingabe und Selbstbewahrung aber zu gelingen, denn der Dichter kann sich frei zwischen „moi“ und „non-moi“ entscheiden: „Le poète […] peut à sa guise être lui-même et autrui“, und seine Hingabe hat den Charakter der geistlich-philanthropischen caritas und der „charité“ des „mangeur d’opium“: „[…] l’âme se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe“. „Poésie“ dürfte dann für die „concentration productive“ des Dichters stehen52.
Im vierten Abschnitt wird mit der Wendung „Le promeneur solitaire et pensif“ innerhalb weniger Zeilen ein zweites Mal auf Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire Bezug genommen, deren Beschreibungen ekstatischer Zustände und ihres Zustandekommens Baudelaire offensichtlich sehr beeindruckt haben. Zeitweise trug er sich sogar mit dem Gedanken, seiner Sammlung von Prosagedichten den Titel Le Promeneur solitaire zu geben53. In beiden Fällen hat er allerdings den Ausdruck „rêverie“ vermieden, der ihm möglicherweise zu sehr auf die Naturekstase festgelegt schien. Die Formulierung „Le promeneur solitaire et pensif“ bewahrt dennoch das Wesentliche des Rousseauschen Titels durch ihren Zusatz „et pensif“, der die Rousseausche rêverie und dazu Baudelaires eigene Vorstellung der „imagination active“ abdeckt. Die Wendung „solitaire et pensif“ zitiert zudem die Formel, mit der in der europäischen Lyrik jahrhundertelang die Themen Natureinsamkeit, Liebe und Melancholie angesagt wurden. Ausgehend von Francesco Petrarcas Sonett „Solo e pensoso …“ (Rime XXXV) bezeichnet das Adjektiv „pensoso“ bzw. „pensif“ darin die Haltung des grübelnden Melancholikers in der Natureinsamkeit, die vor allem seit dem Wiederaufleben der Säfte- und Temperamentenlehre in der Renaissance zu einem festen Bestandteil der Selbstdarstellung des Lyrikers geworden war54. Auch Baudelaire hat sich in dieser Tradition als Melancholiker verstanden und stilisiert, ja er hat die melancholische Seelenlage als poetische Inspirationsquelle verstanden und gegebenenfalls künstlich erzeugt55. Mit der Wendung vom „promeneur solitaire et pensif“56 propagiert er die melancholische Haltung auch für das poetische Erlebnis der großstädtischen Menschenmenge – mit Recht, da der Dichter, der alles annimmt, was ihm der Zufall beschert, in den „professions“, „joies“ und „misères“ der Großstadt zahlreiche Anlässe für eine melancholisch gegründete Inspiration findet. Damit tritt die Großstadt die Nachfolge der traditionellen melancholischen Inspirationsquellen Liebesunglück und Natureinsamkeit an und die Großstadtdichtung wird in der Lyriktradition verortet.
Der letzte Abschnitt von Les Foules handelt von weiteren Menschenmengen, genauer von Anderen, die ebenfalls im Umgang mit Menschenmengen ein Glück finden, von dem die „heureux de ce monde“ in ihrem törichten Stolz keine Vorstellung haben: von den „fondateurs de colonies“, den „pasteurs de peuples“ und den „prêtres missionaires exilés au bout du monde“. Sie alle erleben, wenn sie Menschen in ein Land führen, ihnen einen Glauben oder eine politische Überzeugung vermitteln, ähnliche Ekstasen wie der Dichter („connaissent sans doute quelque chose de ces mystérieuses ivresses“) und lachen im Glück ihrer Vereinigung mit der Menge über jene, die sie wegen ihres beschwerlichen und entsagungsvollen Lebens bedauern57.
Mit der Entdeckung der ekstatischen „multiplication de l’individualité“ in der Menschenmenge, wie sie in den Journaux intimes festgehalten ist, hatte Baudelaire einen wichtigen Schritt zum poetischen Großstadterlebnis getan, auch wenn der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Erlebnis der Menge und demjenigen des Dichters, wie es in Les Foules gepriesen wird, unübersehbar ist. Erst im poetischen Enthusiasmus, wenn der Dichter sich die Freuden und Leiden aneignet, die ihm in der Großstadt begegnen, kommt es zur Ich-erweiternden ‚Fremderfahrung‘ und zu einem vertieften Einheitserlebnis, das sein „sentiment de l’existence“ auf beglückende Weise steigert und ihm hilft „à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis.“58 Tatsächlich hat Baudelaire sich in den Großstadtgedichten nur an Individuen und Menschengruppen inspiriert, die seinen persönlichen Vorstellungen vom Schönen entsprachen, an den Kranken und Sterbenden in Le Crépuscule du soir, den Petites Vieilles und den Veuves in den Gedichten dieses Namens oder den „exilés“ in Le Cygne. Einzig in Le Vieux Saltimbanque ist er vom Erlebnis einer Menschenmenge in Feststimmung ausgegangen und hat die Begegnung mit dem alten Gaukler im schmerzlichen Kontrast zur allgemeinen Festfreude sich entwickeln lassen59. Im Ganzen gesehen ist es ihm aber gelungen, seinen dichterischen Enthusiasmus auch in der Großstadtmenge auszuleben und sie zu einem Ort dichterischer Erfahrung zu machen, was er bis zur Abfassung von Les Foules schon mehrfach bewiesen hatte.
d) Ein Beispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt: Le Peintre de la vie moderne
In der Exposition universelle (1855) war Eugène Delacroix als der Maler gewürdigt worden, der Baudelaires Vorstellungen von Kunst verwirklichte, weil seine Bilder zu historischen, religiösen und literarischen Themen die „beaux jours de l’esprit“ spiegelten und den „surnaturalisme“ offenbarten1. Die Darstellung der Großstadt und des modernen Lebens sah Baudelaire wenige Jahre später bei dem Graphiker und Maler Constantin Guys verwirklicht.
Seit 1859 arbeitete er an einem Essay über Constantin Guys, ausweislich seiner Korrespondenz besonders intensiv im Spätsommer und Herbst 18612, als das Prosagedicht Les Foules entstand, weshalb es zahlreiche Übereinstimmungen zwischen beiden Texten gibt, die sich gegenseitig erhellen. Der Essay, den er im Laufe von fast vier Jahren erfolglos verschiedenen Zeitungen anbot und wiederholt umschrieb, sollte nach seinen Plänen auch „peintres de mœurs“ des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts behandeln. Während der Umarbeitungen beschränkte er sich jedoch bald auf Guys, und als endlich Ende November/Anfang Dezember 1863 die definitive Fassung im Figaro erschien, wo man ein „manuscrit ayant trait surtout aux mœurs parisiennes“ gewünscht hatte3, trug sie den Titel Le Peintre de la vie moderne4. In ihr weist Baudelaire im Rahmen seiner Theorie von der „modernité“ des Schönen am Beispiel von Guys nach, dass es einen modernen künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt gibt.
Nach einer grundsätzlichen Einleitung mit seinen jüngsten Überlegungen zum „beau éternel“ und zur „modernité“ erörtert er zunächst die für die Genreskizze („croquis de mœurs“) erforderlichen schnellen Techniken und geht dann zur Charakterisierung des dazugehörigen Künstlertyps über. Dieser „peintre de mœurs“ ist nach seiner Überzeugung ein „génie d’une nature mixte“ mit einem großen Anteil an literarischem Verstand („une bonne partie d’esprit littéraire“), der sich manchmal als Dichter („poète“) erweist, öfter aber dem Romancier oder Moralisten nahesteht, weil er ein „observateur, flâneur, philosophe“ ist, oder wie immer man ihn nennen wolle. Unter der Kapitelüberschrift „L’artiste, homme du monde, homme des foules et enfant“ folgt sodann das Idealporträt des Künstlers Guys5.
M.G., wie Baudelaire ihn auf eigenen Wunsch nennt, ist kein ausschließlich auf sein Metier ausgerichteter Künstler, sondern ein „homme du monde“, ein Vielgereister, der an allem interessiert ist, was auf der Welt geschieht, ein wahrer „citoyen spirituel de l’univers“6. Seine Kunst nimmt ihren Ausgang von der Wissbegier und der Neugier auf den Menschen und die Welt: „la curiosité peut être considérée comme le point de départ de son génie“7. Um seinen Wissensdurst und seine Aufgeschlossenheit zu illustrieren, greift Baudelaire zu Poes Erzählung The Man of the Crowd, deren Erzähler und Protagonist nach schwerer Krankheit mit neu erwachtem Interesse das Leben um sich herum wahrnimmt und schließlich einem Unbekannten folgt, dessen Gesicht ihn fasziniert hat:
Derrière la vitre d’un café, un convalescent, contemplant la foule avec jouissance, se mêle, par la pensée, à toutes les pensées qui s’agitent autour de lui. Revenu récemment des ombres de la mort, il aspire avec délices tous les germes et tous les effluves de la vie; comme il a été sur le point de tout oublier, il se souvient et veut avec ardeur se souvenir de tout. Finalement, il se précipite à travers cette foule à la recherche d’un inconnu dont la physionomie entrevue l’a, en un clin d’œil, fasciné. La curiosité est devenue une passion fatale, irrésistible.8
Die Rekonvaleszenz der Poeschen Figur wird zum Schlüsselbegriff, mit dessen Hilfe Baudelaire den Geisteszustand M.G.s und des künstlerischen Genies überhaupt darlegt.
Rekonvaleszenz sei wie eine Rückkehr zur Kindheit, erklärt er, denn jemand, der, von schwerer Krankheit genesen, sich wieder dem Leben und der Welt zuwende, empfinde wie ein Kind:
[…] la convalescence est comme un retour vers l’enfance. Le convalescent jouit au plus haut degré, comme l’enfant, de la faculté de s’intéresser vivement aux choses, même les plus triviales en apparence. (S. 690)
Für das Kind ist alles neu, weshalb es ständig „trunken“ ist und sich von Natur aus in einem ekstatischen Zustand befindet:
L’enfant voit tout en nouveauté; il est toujours ivre. […] C’est à cette curiosité profonde et joyeuse qu’il faut attribuer l’œil fixe et animalement extatique des enfants devant le nouveau, quel qu’il soit, visage ou paysage, lumière, dorure, couleurs, étoffes chatoyantes, enchantements de la beauté embellie par la toilette. (Ebd.)
Das Neue und Andere bewirkt nämlich ein intensives Erleben und eine geschärfte Wahrnehmung ganz wie im „état exceptionnel“. Der Freude, mit der das Kind Formen und Farben aufnimmt, gleicht aber die Inspiration des Künstlers9, ja, die Kreativität des künstlerischen Genies ist für Baudelaire die willentlich wiedergefundene Erlebnisfähigkeit der Kindheit:
[…] le génie n’est que l’enfance retrouvée à volonté, l’enfance douée maintenant, pour s’exprimer, d’organes virils et de l’esprit analytique qui lui permet d’ordonner la somme de matériaux involontairement ramassée. (Ebd.)
Beim Künstler gesellt sich zur Intensität des Erlebens eine entwickelte und starke Vernunft und eine ebensolche Ausdrucksfähigkeit, die ihm eine geordnete Wiedergabe seiner Wahrnehmungen ermöglichen. Constantin Guys ist für Baudelaire in diesem Sinne ein beständiger „Rekonvaleszent“ und zugleich ein „homme-enfant“, der die Fähigkeit besitzt, das Leben jederzeit in seiner ganzen Ursprünglichkeit in sich aufzunehmen:
Je vous priais tout à l’heure de considérer M.G. comme un éternel convalescent; pour compléter votre conception, prenez-le aussi pour un homme-enfant, pour un homme possédant à chaque minute le génie de l’enfance, c’est-à-dire un génie pour lequel aucun aspect de la vie n’est émoussé. (S. 691)
Nach dieser viel zitierten Definition Baudelaires ist das Genie von Natur aus im höchsten Maße interessiert und offen für die Welt in allen ihren Erscheinungsformen und bezieht aus der besonderen Intensität dieses Erlebens seine künstlerische Kreativität. Seine Empfänglichkeit für Sinneseindrücke aller Art ist der des Rekonvaleszenten und des Kindes vergleichbar, die die Dinge mit wieder erwachter Lebensfreude und mit Neugier betrachten und aus diesem intensiven Erleben ein besonderes Glücksempfinden ziehen. Dieser Feststellung liegt die Erfahrung zugrunde, dass unsere Wahrnehmung durch Gewöhnung an Intensität verliert. Das künstlerische Genie ist aufgrund seiner Anlage davon ausgenommen und es ist imstande, die ursprüngliche Lebendigkeit der Wahrnehmung auch beim Rezipienten wiederherzustellen. Diese ungewöhnliche Begriffsbestimmung, die sich perfekt in Baudelaires ästhetisches System des künstlerischen „état exceptionnel“ einfügt, hat ihren Ursprung in der empiristischen englischen Literaturkritik, für die insbesondere Coleridge steht.
Coleridge hat wiederholt die Fähigkeit des Dichters hervorgehoben, mit seiner Phantasie den alltäglichen, farb- und glanzlosen Anblick der Welt zu überwinden und alles in einem neuen Licht erstrahlen zu lassen. In seiner Biographia literaria beschreibt er, auf welche Weise ihn in seiner Jugend ein Gedichtvortrag von Wordsworth beeindruckt habe:
It was the union of deep feeling with profound thougt; the fine balance of truth in observing with the imaginative faculty in modifying the objects observed; and above all the original gift of spreading the tone, the atmosphere and with it the depth and height of the ideal world around forms, incidents, and situations, of which, for the common view, custom had bedimmed all the lustre, had dried up the sparkle and the dew drops.10
Und weiter schildert er das geniale poetische Vorgehen von Wordsworth:
„To find no contradiction in the union of old and new; to contemplate the Ancient of days and all his works with feelings as fresh, as if all had then sprang forth at the first creative fiat; characterizes the mind that feels the riddle of the world, and may help to unravel it. To carry on the feelings of childhood into powers of manhood; to combine the child’s sense of wonder and novelty with the appearances, which every day for perhaps forty years had rendered familiar;
With sun and moon and stars throughout the year,
And man and woman;
This is the character and privilege of genius, and one of the marks which distinguish from talents. […]“ (S. 80f.)
Altes und Neues zu verbinden, das im Alltag Verbrauchte mit den frischen Gefühlen des ersten Tages zu betrachten, in der Stärke des Erwachsenen kindliches Fühlen wieder aufleben zu lassen, lang vertrauten Dingen mit dem Staunen und der Neugier des Kindes zu begegnen – das macht für ihn das Genie aus im Unterschied zum bloßen Talent. Der Gedanke vom ‚kindlichen Blick auf die Welt‘ war eine von Coleridges Lieblingsideen, die er mehrfach geäußert hat11. Er fährt dann fort und erläutert die angestrebte „freshness“ der Eindrücke mit der Situation der – geistigen wie körperlichen – Rekonvaleszenz:
„And therefore is it the prime merit of genius and its most unequivocal mode of manifestation, so to represent familiar objects as to awaken in the minds of others a kindred feeling concerning them and that freshness of sensation which is the constant accompaniment of mental, no less than of bodily, convalescence. […]“ (S. 81)






