"Nicht ohne den Mut zum Wagnis ..."

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Wenn im Folgenden von Jugendseelsorge gesprochen wird, dann bezieht sich dies auf die Jugend im engeren Sinne, die Altersgruppe zwischen 14 und maximal 25 Jahren. Da sich aber eine Abgrenzung der Jugendseelsorge zur Kinderseelsorge in der SBZ/DDR erst in den sechziger Jahren herausbildete, werden in dieser Arbeit hin und wieder Themen erfasst, die beide Bereiche betreffen. Auf den Teil der Kinderseelsorge wird aber nicht näher eingegangen, auch wenn damit Ansätze wie die „Religiösen Kinderwochen“ (RKW) unbearbeitet bleiben müssen.18 Auch der Religionsunterricht, der anfangs an Schulen und später nur noch in der Gemeinde möglich war, wird nur am Rande Thema dieser Arbeit sein, was sich neben dem Umfang auch aus der Thematik der Arbeit ergibt. Da bis zur Umsetzung der zehnklassigen Schule in der DDR die kirchliche Jugend hauptsächlich erst nach der Schulentlassung angesprochen wurde, ist die Problematik des Religionsunterrichtes vor allem in den Anfangsjahren im Bereich der Kinderseelsorge anzusiedeln.
Eine Vereinfachung hinsichtlich der Begrifflichkeit wurde im Rahmen dieser Arbeit vorgenommen: Ohne damit kirchenrechtliche Themen anzuschneiden, werden die Administratoren, Kapitelsvikare oder Kommissare, die auf dem Gebiet der SBZ/DDR wirkten, mitunter vereinfachend Bischöfe bzw. Ordinarien genannt.19
Quellen
Eine erhebliche Schwierigkeit für diese Arbeit ergab sich aus der Quellenlage. Nur wenig internes Material ist für den fraglichen Zeitraum überhaupt noch vorhanden. Entweder wurden die entsprechenden Unterlagen nicht archiviert, oder aber sie sind aus Angst vor staatlichen Nachforschungen vernichtet worden. Selbst im damaligen Archiv des Kommissariates Magdeburg wurden aus Sorge vor staatlichen Überprüfungen immer wieder Kassationen durchgeführt.20 Das wenige heute noch vorhandene Material ist meist verstreut in den entsprechenden kirchlichen Archiven und öffentlich nur bedingt zugänglich.
Zu den einzelnen Kapiteln der Arbeit ergab sich somit eine sehr unterschiedliche Datenlage. Selbst durchgängig angelegtes Quellenmaterial wie die Akten der Ordinarienkonferenzen oder der Arbeitsgemeinschaft der Jugendseelsorger standen nicht komplett zur Verfügung und waren nur bedingt verwertbar, weil sich in den Protokollen von Arbeitsgemeinschaften und Bischofskonferenzen nur geglättet und nur zum Teil widerspiegelt, was besprochen wurde. Da z. B. die Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der Jugendseelsorger teilweise nicht mehr bzw. nur als Zusammenfassung vorhanden sind, musste diese Arbeit mit einem recht lückenhaften archivarischen Materialbestand auskommen und mit einer recht heterogenen Zusammensetzung der schriftlichen Quellen vorlieb nehmen.
Die Verfügbarkeit von mündlichen Quellen, Aussagen und Berichten von Zeitzeugen zum Thema ist begrenzt und ebenfalls recht unterschiedlich. Viele der damals Verantwortlichen in der Jugendseelsorge leben nicht mehr. Andere fanden sich für ein Gespräch zur Jugendseelsorge nicht mehr bereit. Es sei all meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern als den damaligen Verantwortlichen in der Jugendseelsorge gedankt, die mir mit ihrer Gesprächsbereitschaft und durch Einblick in ihre privaten Unterlagen halfen, diese Lücken, wenn auch nur begrenzt, zu schließen.
1R. Kunze, Brief mit blauem Siegel, Leipzig 1974, 57.
2Der Führerbegriff entstammt der Sprache der bündischen Jugend. Er war in Abgrenzung von der nationalsozialistischen Sprache später in der DDR verpönt. Trotzdem wurde er von der FDJ vereinnahmt, während er in der BRD noch bis in die 60er Jahre hinein üblich war. Einzig in der Diözese Dresden wurde der Begriff des Jugendführers beibehalten. Persönliche Mitteilung von H. Donat vom 23. 04. 2009.
3J. Garstecki, Sieben Jahre Aufbruch – Jugendseelsorgeamt Magdeburg 1961 - 1968, Paderborn 1999, 85.
4Vgl. hierzu E. Gatz/L. Ulrich, Grundsätzliches zur Minderheitensituation der katholischen Christenheit, Freiburg, Br. 1994, 19-36.
5S. G. Lange/U. Pruß, An der Nahtstelle der Systeme. Dokumente und Texte aus dem Bistum Berlin 1945 - 1990. Erster Halbband 1945 – 1961, Leipzig 1996.
6S. M. Schulze, Bund oder Schar - Verband oder Pfarrjugend, Paderborn 2001, 18f.
7Bischöfliche Anweisungen für die kirchliche Jugendseelsorge in der Deutschen Demokratischen Republik. G. Lange et al, Katholische Kirche – Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen, Leipzig 1993, 419-421.
8S. hierzu H. Hobelsberger, Art. Jugendseelsorge, Lexikon für Theologie und Kirche 5, Freiburg, Br. 2006, 1068f.
9S. hierzu H. Halbfas, Handbuch der Jugendseelsorge und Jugendführung, Düsseldorf 1960. Bei R. Bleistein/G. Casel, Lexikon der kirchlichen Jugendarbeit, München 1985, ist dieser Begriff nicht mehr aufgeführt.
10S. hierzu G. Biemer, Der Dienst der Kirche an der Jugend. Grundlegung und Praxisorientierung. Handbuch kirchlicher Jugendarbeit Bd. 1, Freiburg, Br. 1985.
11S. hierzu M. Lechner, Pastoraltheologie der Jugend. Geschichte, theologische und kairologische Bestimmung der Jugendpastoral einer evangelisierenden Kirche, München 1996.
12S. zum Begriff der Jugendpastoral, H. Hobelsberger, Art. Jugendpastoral, Lexikon für Theologie und Kirche 5, Freiburg, Br. 2006, 1066f.
13Für Magdeburg u. a. B.Börger/K. Kröselberg, Die Kraft wuchs im Verborgenen. Katholische Jugend zwischen Elbe und Oder 1945 – 1990, Düsseldorf 1993 oder H. Spring, „Herolde sind Boten eines großen Herrn.“, Paderborn 1999.
14C. Herold, Als katholischer Seelsorger in der DDR, Magdeburg 1998; A. Funke, Die Petersberg-Wallfahrt am 17. Juni 1973. Katholische Jugendarbeit im Visier von SED und MfS, Magdeburg 2002.
15R. Kochinka, „Der Ring“ - Eine Möglichkeit zur Bildung eines Gemeindekerns, Leipzig 1999; M. Müller, Jugendmusikarbeit im Bistum Dresden-Meißen, Dresden 1999; A. Schneider, „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“. Jugendarbeit auf dem Gebiet des heutigen Bistums Görlitz von 1949 – 1989, Münster 2003.
16U. a. Th. Raabe, SED-Staat und katholische Kirche. Politische Beziehungen 1949 – 1961, Paderborn 1995; B. Schäfer, Staat und katholische Kirche in der DDR, Köln 1998; A. Hoffmann, „Mit Gott einfach fertig“: Untersuchungen zu Theorie und Praxis des Atheismus im Marxismus - Leninismus der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig 2000; W. Tischner, Katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945 – 1951. Die Formierung einer Subgesellschaft im entstehenden sozialistischen Staat, Paderborn 2001; R. Grütz, Katholizismus in der DDR-Gesellschaft 1960 – 1990, Paderborn 2004; Ch. Kösters/W. Tischner, Katholische Kirche in SBZ/DDR, Paderborn 2005 oder M. Ehm, Die kleine Herde – die katholische Kirche in der SBZ und im sozialistischen Staat DDR, Berlin 2007.
17Für Magdeburg stellvertretend C. Brodkorb, Bruder und Gefährte in der Bedrängnis – Hugo Aufderbeck als Seelsorgeamtsleiter in Magdeburg. Zur pastoralen Grundlegung einer „Kirche in der SBZ/DDR“, Paderborn 2002 und Th. Thorak, Wilhelm Weskamm. Diasporaseelsoger in der SBZ/DDR, Würzburg 2009.
18Zur Geschichte der RKW s. W. Ipolt, Katechese in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Erfurt 1991, 88 – 105.
19S. dazu K. Hartelt, Die Entwicklung der Jurisdiktionsverhältnisse der katholischen Kirche in der DDR von 1945 bis zur Gegenwart, Leipzig 1992 sowie J. Pilvousek, „Innenansichten". Von der „Flüchtlingskirche" zur „katholischen Kirche in der DDR", Baden-Baden 1995 und ders., Gesamtdeutsche Wirklichkeit - Pastorale Notwendigkeit. Zur Vorgeschichte der Ostdeutschen Bischofskonferenz, Leipzig 1996.
20Persönliche Mitteilung von D. Lorek vom 15. 01. 1998.
I DER AUFBAU DER JUGENDSEELSORGE IN DER SBZ NACH DEM KRIEG (1945 – 1949)
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Aufteilung des Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen ergaben sich vollkommen neue Strukturen im Nachkriegsdeutschland. Nicht nur die politische Landschaft veränderte sich, die Besetzung des Deutschen Reiches durch die Alliierten hatte auch bedeutende Folgen für den innerkirchlichen Bereich. Dies betraf insbesondere Mitteldeutschland, wo sich neue kirchliche Strukturen für die Ordinariatsbezirke ergaben. Aus den territorialen Umstrukturierungen, der politischen Trennung vom Heimatbistum, bzw. dem Verlust von Teilen des Bistums resultierten ganz neue kirchenrechtliche Konstellationen und veränderte Verwaltungsstrukturen.21 Es entstanden neue Kommissariatsbezirke, bzw. schon bestehende erhielten eine weitgehende Eigenständigkeit, in deren Fortführung sie sich langsam von den Mutterbistümern lösen mussten. Deren Oberhirten fanden sich im Laufe der ersten Nachkriegsjahre zur Ostdeutschen, später Berliner Ordinarienkonferenz zusammen. Seit dieser Zeit sah sich auch der Bereich Paderborn-Ost gezwungen, sich vom Erzbistum Paderborn zu lösen und sich zum Kommissariat Magdeburg zu verselbständigen.
Die Nachkriegszeit in der SBZ, bezogen auf die Jugendseelsorge, umfasst für die vorliegende Arbeit den Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Anfangsphase der neu gegründeten DDR, genauer bis zu jenem Zeitpunkt, an dem der erste hauptamtliche Jugendseelsorger für das Kommissariat Magdeburg ernannt worden ist. Die Veränderungen in diesem Zeitraum stellte die Seelsorge als Ganzes wie auch in ihren Teilbereichen vor eine außergewöhnliche Bewährungsprobe. Diese Zeitspanne war gekennzeichnet durch das Sammeln entwurzelter Jugendlicher, deren Beheimatung in den Gemeinden oder besser in den Jugendgruppen, sowie das Herausbilden einer neuen Identität katholischer Jugendlicher in der Spannung zwischen der zahlenmäßig weit überlegenen Jugend unter den Vertriebenen aus den Ostgebieten und der teilweise zahlenmäßig verschwindenden, aber verwurzelten einheimischen Jugend.
Die richtungsweisenden Entscheidungen für die Jugendseelsorge in der SBZ wurden bereits in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg grundgelegt. Mit den „Richtlinien über die katholische Jugendseelsorge“ der Fuldaer Bischofskonferenz von 1936 wurde das grundsätzliche Primat der Pfarrjugendseelsorge durch die deutschen Bischöfe festgeschrieben.22 In diesen Richtlinien wurde die Jugendseelsorge dem Bereich der ordentlichen Pfarrseelsorge zugewiesen.23 Unter den Schutz bischöflicher Autoritäten gestellt, eröffnete sich dadurch die Möglichkeit, Jugendseelsorge zumindest in den Räumen der Kirche weiterhin durchführen zu können. Damit hatten die katholischen Jugendlichen einen Bereich, in dem sie sich als Gruppe „organisieren“ konnten, und deren Führern war es möglich, weiterhin in der staatlich nicht erfassten „Jugendarbeit“ tätig zu bleiben. Wie richtig diese Neuorientierung kirchlicher Jugendseelsorge damals war, wurde spätestens durch das im Dezember 1936 erlassene „Gesetz über die Hitlerjugend“ bestätigt. Mit diesem Gesetz wurde den katholischen Jugendverbänden endgültig die Existenzgrundlage entzogen. Mit dem Schrittweisen Verbot der katholischen Verbände richtete sich die katholische Jugendseelsorge als pfarrliche ein und konnte so die Zeit des Nationalsozialismus überdauern. Zugleich eröffneten sich ihr trotz dieser Einschränkung neue Erfahrungsmöglichkeiten.
Mit dem Ende des Nationalsozialismus wurde für die Verantwortlichen in der Jugendseelsorge wiederum eine Neuorientierung notwendig, der allerdings eine Bestandsaufnahme vorauszugehen hatte. Was hatte sich in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur an jugendseelsorglichen Elementen entwickelt? Worauf konnte aufgebaut werden? Welche Bedeutung hatten die politischen Veränderungen nach dem Krieg für den Bereich der Seelsorge?24 Jugendliche Laien trugen in dieser Übergangsphase mehr als jemals zuvor und danach die Hauptlast der Jugendseelsorge. Weil aus der Not der engagierten Laienarbeit eine Tugend wurde, übernahmen die Jugendlichen als Führer bzw. Helfer wichtige Aufgaben in der Seelsorge, bis schon bald die staatlichen Sanktionen dies erschwerten und für einige zum riskanten Engagement werden ließen. Sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren ständig mit dem sozialistischen Staat auseinandersetzen zu müssen, erschwerte einerseits die Arbeit der kirchlichen Jugendseelsorge. Andererseits verhalf ihr dies, in der notwendigen Abgrenzung zur staatlichen Jugendarbeit, klare Konturen zu gewinnen. Indem eine Abteilung Jugendseelsorge im Seelsorgeamt Magdeburg entstand, bildeten sich erste Elemente einer jugendseeseelsorglichen Infrastruktur heraus.
Das Kriegsende brachte für die Seelsorge nicht nur kirchenpolitische Veränderungen. Die Kapitulation des Deutschen Reiches war für die Jugendlichen auch eine gravierende Zäsur in Bezug auf ihre Weltbilder. Mit dem Zusammenbruch des so genannten „Dritten Reiches“ wurden vielen der aktiven katholischen Jugendlichen alte Ideale genommen, die sie teilweise noch bis in die letzten Kriegsmonate mit aufrechter Überzeugung gelebt hatten. Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts gelebte Verbindung von bündischen und nationalen Elementen in der Jugendseelsorge war spätestens mit dem Kriegsende als gescheitert anzusehen. Die von den katholischen Jugendlichen geträumte Idee vom dreifachen Reich: dem Reich Christi, dem Reich der Jugend und dem Deutschen Reich,25 musste mit der Niederlage des letzteren begraben werden.26 Dieser inneren Orientierungslosigkeit der Jugend wurde durch die Kriegsfolgen noch eine äußere hinzugefügt.27 Die ehedem in der Diaspora28 beheimaten älteren Jugendlichen kamen als Kriegsheimkehrer in ihre zerstörten Städte zurück. Der weitaus größere Teil der sich nun in Mitteldeutschland einfindenden Jugendlichen aber waren Flüchtlinge oder Vertriebene, die ihrer katholischen Heimat verlustig geworden waren. Sie mussten versuchen, in der Fremde, zum Teil gegen den Widerstand der Eingesessenen, Fuß zu fassen.
Die Zäsur des Kriegsendes ließ aber auch trügerische Hoffnungen aufkommen. Es wurde bei den Seelsorgern in der Diaspora die Erwartung geweckt, durch den Zustrom der katholischen Vertriebenen einen nicht nur zahlenmäßigen Impuls für das Wiedererstarken der katholischen Kirche in der Diaspora des mitteldeutschen Raumes zu erhalten. Zum Anderen keimte die zaghafte Hoffnung auf, durch die sich wandelnden politischen Verhältnisse einen neuen Freiraum für die kirchliche Arbeit außerhalb der Pfarrgemeinde zugesprochen zu bekommen. Doch der Aufschwung katholischen Lebens nach dem Krieg erfolgte in der SBZ nur zögerlich. Der bald enger werdende politische Rahmen ließ eine öffentliche Entfaltung des Religiösen auf Dauer immer weniger zu. Auch die Flüchtlinge und die Vertriebenen, die ihre christlich geprägte Heimat verloren hatten, entwickelten nicht automatisch das Bedürfnis, in der „Fremde“ den Aufschwung des Katholischen initiieren zu wollen. Sie, obwohl sie die Mehrzahl der Katholiken in Mitteldeutschland stellten, konnten nicht den katholischen Aufschwung im Land der Reformation herbeiführen. Dies enttäuschte die teilweise hochgesteckten Erwartungen der Kirchenführer. Denn sie wollten den unerwarteten zahlenmäßigen Zustrom durch die katholischen Vertriebenen für eine Rekatholisierung der Diaspora des „Ostens“ nutzen.29 Diese beiden Haltungen prallten aufeinander und mussten Ernüchterungen zur Folge haben, als dem plötzlichen, heftigen Zustrom von Katholiken ein sich bis 1961 hinziehender Wegzug aus der SBZ/DDR, wenn auch ganz unterschiedlich motiviert, folgte.30 Dazu kam ein langsamer, lautloser aber stetiger innerer Auszug derer aus der Kirche, die sich mit dem sozialistischen System arrangierten und dafür ihre christlichen Wertvorstellungen aufgaben. Dieser lautlose Auszug aus der Kirche hatte verschiedene Gründe. Einer der Gründe war die Tatsache, dass die vertriebenen Katholiken in die Gemeinden der neuen Heimat nicht sogleich beheimatet werden konnten und weiter Richtung „Westen“ zogen. Weiterhin konnte der nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Druck die Gläubigen von der ehemals beheimatenden Kirche entfremden. Aber auch die sich verschlechternden beruflichen und gesellschaftspolitischen Perspektiven für engagierte Christen in der SBZ führten zu einem oft lautlosen Auszug aus der katholischen Kirche. Aus diesen Gründen befand sich die katholische Kirche in Mitteldeutschland in den ersten Nachkriegsjahren in einer Zeit zwischen Hoffnung und Desillusionierung.
Zu den bereits angeführten Überlegungen kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Die Seelsorge in Deutschland und damit auch die Jugendseelsorge waren nach der Unterdrückung während der NS-Zeit von einem gewissem Rigorismus geprägt, der aus der Erfahrung der vorangegangenen Jahre gelernt hatte, welche Folgen ein Rückzug auf den religiösen Bereich haben konnte. Diese Art von gesellschaftlicher Ausgrenzung sollte sich nach dem Kriegsende nicht wiederholen. Einerseits hatte die katholische Kirche durch die Unterdrückung in der Zeit der Nationalsozialisten eine gesellschaftliche Marginalisierung erlitten. Andererseits wurde durch den äußeren Druck der nationalsozialistischen Diktatur eine Differenzierung eingeleitet, zwischen dem auf rituelles Tun beschränkten Teil der Katholiken und denen, die unter den schwerer werdenden Bedingungen aus ihrem Verständnis von christlicher Nachfolge heraus sich mehr und mehr als Minderheit erlebten und zum Widerstehen verpflichtet fühlten. Dieser Teil war unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen gegebenenfalls zum Widerstand auch gegen das sich einrichtende sozialistische Gesellschaftssystem bereit. Ähnliches traf auch für die katholischen Jugendlichen der Diaspora zu. Das gelebte Katholische „in der Fremde“ verlangte ein stärkeres persönliches Engagement, um „in der Zerstreuung“ überleben zu können. Überdies gab es bei den Jugendlichen noch eine stärkere Identifizierung mit Idealen der katholischen Jugend aus der Zeit des Deutschen Reiches, die getragen wurde vom Engagement einzelner, der so genannten „Elite“,31 mit dem Wissen, dass die katholische Kirche in der Diaspora nur als engagierte und nicht,32 im Kontrast zum dominant evangelisch geprägten Umfeld, als volkskirchliche eine Chance hatte.33 Ganz im Gegensatz dazu stand die Hoffnung auf die Wiederherstellung Weimarer Verhältnisse und das Erstarken des Katholischen in Mitteldeutschland bei den Ordinarien. Beide Strömungen prallten in der sich konstituierenden Jugendseelsorge Mitteldeutschlands aufeinander und mussten von ihr als zusätzliche Hypothek bewältigt werden.
1 Der politische Rahmen in der SBZ
Der Zeitraum zwischen 1945 und 1950 war einerseits durch das Kriegsende und andererseits durch den Beginn des Kalten Krieges und die Zeit des sich anbahnenden „Kirchenkampfes“ bestimmt. In dieser Zeit ging es den Siegermächten und deren Verbündeten zunächst vor allem darum, das Macht- wie auch das geistige Vakuum im Nachkriegsdeutschland auszufüllen. Auch die katholische Kirche sah darin für sich eine wichtige Aufgabe. Wegen ihrer zum Teil kritischen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten sprach ihr die Besatzungsmacht in der SBZ zunächst einen relativ großen Gestaltungsspielraum zu, auch wenn dieser schon kurze Zeit später durch die gleichgeschaltete Politik von SMAD und KPD bzw. SED wieder beschnitten wurde. So bekamen die Rekatholisierungshoffnungen im Nachkriegsdeutschland nur im Westen Deutschlands durch die einsetzende Demokratisierung neue Nahrung. Im „Osten“ wurden diese Hoffnungen durch die Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzung und der neuen Regierung sehr schnell gedämpft. Denn schon bald war offensichtlich, die eigentlichen Motive der SMAD und der kommunistischen Kader für die Annäherung an die Kirchen lagen darin begründet, diese politisch instrumentalisieren zu wollen.34 Daher kamen die alten „Feindbilder“ bald wieder zum Tragen. Ein ausgewiesener Antibolschewismus hatte bereits in der Zeit der Weimarer Republik die Position der katholischen Kirche gegenüber der atheistischen Sowjetunion geprägt.35 Dieser verfestigte sich nach dem Krieg, als nicht nur die Kirchen in der SBZ eine „Bolschewisierung“ durch die sowjetische Besatzung erfahren mussten.36 Ab 1945 lebte die Bevölkerung in der SBZ unter dem direkten Einfluss des „Bolschewismus“, was bei vielen Katholiken eine großen Angst vor „den Russen“, der Verkörperung des „Antichristen“, auslöste. Diese Angst war speziell bei den Vertriebenen oft mit persönlichen Erfahrungen aus den letzten Kriegsmonaten unterlegt.37 Durch die tagtäglichen Erfahrungen willkürlicher Entscheidungen der sowjetischen Besatzungsmacht und mit den Übergriffen der Soldaten bekam dieses Gefühl ständig neue Nahrung.38
Die Skepsis gegenüber „den Russen“ übertrug sich auch auf die von den sowjetischen Behörden eingesetzten und unterstützten Funktionäre, die mit Aufnahme ihrer politischen Arbeit an ihren Ziel, dem Aufbau einer neuen „Staatspartei“, keinen Zweifel aufkommen ließen.39 Daher waren die Funktionäre bestrebt, die „Jugend nicht durch Popen verwirren [zu] lassen.”40 Sie versuchten den gesellschaftlichen Einfluss der Kirche zu minimieren und „durch schnelles Handeln die Jugend für sich zu gewinnen, galt diese doch gemeinhin als ‚orientierungslos’ und ‚suchend’“.41 An der grundsätzlichen Gegnerschaft zwischen Kirche und Kommunisten, egal ob sowjetischer oder deutscher Herkunft, bestand also von Anfang an kein Zweifel.42 Bereits zu Beginn des Aufbaus neuer gesellschaftlicher Strukturen im Nachkriegsdeutschland war dies der Grund für die Skepsis, mit der sich die katholischen Vertreter bei aller Aufbruchsstimmung und Loyalität in den neu entstehenden Jugendgremien eher zurückhielten. Trotzdem gab es Seelsorger und Jugendliche, die sich in den neu gebildeten politischen Gremien in der SBZ bis hin in die Leitungsebene engagierten.43 Unbeschadet vieler Vorbehalte wurde seitens der Ordinarien die Mitarbeit der Jugendvertreter in den staatlichen Jugendgremien zunächst grundsätzlich bejaht. Von 1945 bis zum III. Parlament der FDJ 1949 war die katholische Kirche unter anderem im Zentralen Jugendausschuss und in der FDJ-Leitung vertreten. Auch wenn es heute in Vergessenheit geraten zu sein scheint, dass unter den Mitunterzeichnern der Gründungsurkunde der FDJ die Namen des katholischen Jugendführers M. Klein44 und des katholischen Jugendseelsorger R. Lange aus Berlin stehen, war diese Tatsache für die ersten Nachkriegsjahre für beide Seiten von außerordentlicher Bedeutung. Bereits kurze Zeit später sollte diese Kooperation der katholischen Kirche nichts mehr nutzen, die FDJ begann sie zu vertuschen.45
Aufgrund der unterschiedlichen Interessen gab es innerhalb der Zweckbündnisse zwischen Kirche und Kommunisten von Anfang an Spannungen in den verschiedenen Gremien, so z. B. bereits bei der Zusammenarbeit im Zentralen Jugendausschuss.46 Trotzdem wurde das Miteinander seitens der katholischen Kirche solange als möglich aufrechterhalten. Denn für den Aufbau einer eigenen Jugendseelsorge war die katholische Kirche vom Wohlwollen der staatlichen Stellen abhängig. Diese Möglichkeit wollten die Verantwortungsträger der Kirche durch eine grundsätzliche Verweigerung der Kooperation nicht aufs Spiel setzen. Über die Art und Weise der Zusammenarbeit mit der staatlichen Jugendorganisation gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine einheitliche Auffassung innerhalb der katholischen Kirche.47 Die katholischen Vertreter standen zunächst dem Einheitsgedanken mit einer zentralen Jugendorganisation nicht unbedingt ablehnend gegenüber.48 Tendenziell sollte aus Sicht der ostdeutschen Ordinarien zu keinem Zeitpunkt eine eigene katholische Jugendorganisation in der SBZ aufgebaut werden. Denn schon früh war abzusehen, dass eine katholische Jugendorganisation unter den Bedingungen der SBZ keine Chance haben würde. Noch weniger sollte Arbeit an der katholischen Jugend der FDJ überlassen bleiben. Vielmehr war es das Anliegen der Ordinarien, die noch nicht flächendeckend vorhandenen Strukturen der Pfarrjugendseelsorge von den Städten auf die gesamte SBZ auszuweiten.
Wenn noch der Befehl Nr. 2 der SMAD vom 10. Juni 194549 die Bildung von antifaschistischen Organisationen verschiedenster Arten und damit implizit auch von verschiedenen Jugendorganisationen zuließ, so schloss bereits der Aufruf der sowjetischen Militärverwaltung vom 31. Juli 1945 zur Bildung von Jugendausschüssen in Städten explizit andere als antifaschistische Jugendorganisationen aus.50 Antifaschistisch wurde in der Folgezeit aber immer enger im Sinne von „einheitssozialistisch“ interpretiert. Die häufig gemachte Erfahrung der katholischen Kirche, von den staatlichen Stellen vereinnahmt oder zurückgedrängt zu werden, traf auch für den Bereich der Jugendarbeit zu.51 Dabei wurde anfangs von sowjetischer Seite sogar noch regulierend eingegriffen. Vor allem dann, wenn eingesetzte KPD/SED-Funktionäre zu radikal bei der Gleichschaltung aller „antifaschistischen” Kräfte vorgingen.52 Die Gestaltungsmöglichkeiten der kirchlichen Vertreter in den staatlichen Jugendgremien aber blieben von Anfang an begrenzt. Bemühten sich die Kirchen, den ihnen eingeräumten Handlungsspielraum zu erhalten, wurde von der staatlichen Seite aus versucht, die Kirchenpolitik für ihre eigenen Interessen zu funktionalisieren. Sie war vor allem Mittel zu dem Zweck, möglichst alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens kontrollieren zu können.








