Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz

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Die Überschuldungsprüfung erfordert nach Auffassung des IDW in aller Regel ein zweistufiges Verfahren, wobei zunächst auf der ersten Stufe die Überlebenschancen des Unternehmens und auf der zweiten Stufe – im Falle einer negativen Fortbestehensprognose – Vermögen und Schulden des Unternehmens in einem stichtagsbezogenen Status zu Liquidationswerten gegenüberzustellen sind.80
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Bei einer positiven Fortbestehensprognose liegt keine Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO vor. Im Falle einer negativen Fortführungsprognose sind Vermögen und Schulden des Unternehmens gegenüberzustellen. Ist das sich aus dem Überschuldungsstatus ergebende Reinvermögen negativ, liegt eine Überschuldung vor.81
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Zur Feststellung der Fortführungsfähigkeit eines Unternehmens ist für den Prognosezeitraum eine Fortbestehensprognose darzustellen. Das IDW versteht unter der Fortbestehensprognose das wertende Gesamturteil über die Lebensfähigkeit des Unternehmens in der vorhersehbaren Zukunft. Die Fortbestehensprognose wird auf Grundlage des Unternehmenskonzepts und des auf der integrierten Planung abgeleiteten Finanzplans getroffen.82
71 So Uhlenbruck/Pape, InsO, § 1 Rn. 2. 72 So Uhlenbruck/Pape, InsO, § 1 Rn. 2. 73 So BGH, Urt. v. 6.12.2012 – IX ZR 3/12, ZIP 2013, 228ff. = ZVI 2013, 65ff. = NZI 2013, 140ff., dazu EWiR 2013, 175f. (Bremen); BGH, Urt. v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, ZIP 2006, 2222ff. = ZVI 2006, 577ff., dazu EWiR 2007, 113f. (Wagner); BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134ff. = ZIP 2005, 1426 (m. Bespr. Hölzle, ZIP 2006, 101) = ZVI 2005, 408 = WM 2005, 1468ff., dazu EWiR 2005, 767f. (Bruns). 74 So BGH, Beschl. v. 21.5.2019 – II ZR 337/17, ZIP 2019, 1719ff.; dazu EWiR 2019, 551f. (Baumert). 75 So BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283ff. = EWiR 2018, 179f. (Karsten Schmidt) = NZI 2018, 204ff. mit Anm. Haneke; vgl. Mylich, ZIP 2018, 514ff. 76 BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283ff. = EWiR 2018, 179f. (Karsten Schmidt) = NZI 2018, 204ff. mit Anm. Haneke; vgl. Mylich, ZIP 2018, 514ff. 77 So BGH, Urt. v. 12.12.2006 – IX ZR 3/12, ZIP 2013, 228ff. = ZVI 2013, 65ff. = NZI 2013, 140ff. Rn. 20, dazu EWiR 2013, 175f. (Bremen); BGH, Urt. v. 29.3.2012 – IX ZR 40/10, WM 2012, 998f. = NZI 2012, 663f. Rn. 11; BGH, Urt. v. 30.6.2011 – IX ZR 134/10, ZIP 2011, 1416ff. = ZVI 2011, 452ff. Rn. 13, dazu EWiR 2011, 571f. (Henkel). Hilfreich in diesem Zusammenhang ist auch der IDW Standard: Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11) v. 22.8.2016, IDW Life 3/2017, 332ff.; vgl. zu der Vorgängerversion Frystatzki, NZI 2014, 840ff.; Schmittmann, StuB 2014, 607ff. 78 Vgl. BGH, Beschl. v. 21.8.2013 – 1 StR 665/12, NZI 2013, 970ff. = ZIP 2013, 2469, dazu EWiR 2014, 121f. (Floeth); BGH, Urt. v. 29.3.2012 – IX ZR 40/10, WM 2012, 998f. = NZI 2012, 663f.; BGH, Urt. v. 14.2.2008 – IX ZR 38/04, ZIP 2008, 706ff. = NZI 2008, 299ff., dazu EWiR 2008, 533f. (Dörnscheidt); BGH, Beschl. v. 13.6.2006 – IX ZB 238/05, ZIP 2006, 1457ff. = NZI 2006, 591f. = NJW-RR 2006, 1422f.; Schmittmann/Theurich/Brune, Das insolvenzrechtliche Mandat, § 2 Rn. 48. 79 So IDW Standard: Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11) vom 28.8.2016, IDW Life 2017, 332ff. Rn. 93. 80 So IDW Standard: Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11) vom 28.8.2016, IDW Life 2017, 332ff. Rn. 54. 81 So IDW Standard: Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11) vom 28.8.2016, IDW Life 2017, 332ff. Rn. 543. 82 So IDW Standard: Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11) vom 28.8.2016, IDW Life 2017, 332ff. Rn. 59.
I. Stellung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters
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Nach Eingang des Antrags prüft das Insolvenzgericht vorab, ob der Insolvenzantrag zulässig ist, § 20 Abs. 1 Satz 1 InsO. Mit der Feststellung der Zulässigkeit des Insolvenzantrags beginnt für den Schuldner die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht. Das Insolvenzgericht hat gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 InsO alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich erscheinen, um bis zur Entscheidung über den Antrag eine den Gläubigern nachteilige Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners zu verhüten.
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Das Gericht kann gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellen und gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 1.Alt. InsO dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegen oder gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 2.Alt. InsO anordnen, dass Verfügungen des Schuldners nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam sind. Diese unterschiedlichen Formen des vorläufigen Insolvenzverwalters werden als sog. „starker“ und „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter bezeichnet.
1. Stellung des vorläufigen Insolvenzverwalters
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In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist zwischen dem sog. „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter und dem „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter zu unterscheiden.
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Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter ist Vermögensverwalter i.S.v. § 34 Abs. 1 und Abs. 3 InsO (vgl. im Einzelnen Rn. 100).
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Der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter ist nicht Vermögensverwalter i.S.v. § 34 Abs. 1 und Abs. 3 InsO (vgl. im Einzelnen Rn. 102).
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Der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter begründet für alle Steuerarten Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 4 InsO, der gemäß Art. 103e EGInsO für alle Insolvenzverfahren gilt, die ab dem 1.1.2011 beantragt worden sind.
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In Insolvenzverfahren, die nach dem 31.12.2020 beantragt worden sind, gilt gemäß Art. 103m EGInsO § 55 Abs. 4 InsO in folgender Fassung:
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„Umsatzsteuerverbindlichkeiten des Insolvenzschuldners, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder vom Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden sind, gelten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit. Den Umsatzsteuerverbindlichkeiten stehen die folgenden Verbindlichkeiten gleich:
1. sonstige Ein- und Ausfuhrabgaben,
2. bundesgesetzlich geregelte Verbrauchsteuer,
3. die Luftverkehr- und die Kraftfahrzeugsteuer und
4. die Lohnsteuer.“
2. Stellung des Insolvenzverwalters
183
Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht gemäß § 80 Abs. 1 InsO das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über.1
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Vom Übergang des Verwaltungs- und Verfügungsrechts ist das gesamte insolvenzbefangene Vermögen des Schuldners einschließlich des im Ausland belegenen Schuldnervermögens sowie der Neuerwerb erfasst; nicht hingegen das insolvenzfreie Vermögen sowie die nicht vermögensrechtlichen und höchstpersönlichen Rechte des Schuldners.2
185
Die handels- und steuerrechtlichen Pflichten des Schuldners zur Buchführung und zur Rechnungslegung bleiben gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 InsO unberührt. In Bezug auf die Insolvenzmasse hat der Insolvenzverwalter gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO diese Pflichten zu erfüllen.
186
Die steuerrechtliche Pflicht zur Buchführung durch den Insolvenzverwalter besteht nicht nur gegenüber der Finanzverwaltung, sondern auch grundsätzlich gegenüber dem Verfahrensschuldner.3
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Die Pflicht erwächst aus der Amtsstellung des Insolvenzverwalters, die schutzwürdige Interessen des Schuldners unmittelbar berührt.4
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Das Insolvenzverfahren lässt die handelsrechtlichen Buchführungspflichten und damit auch die steuerlichen Buchführungspflichten gemäß § 140 AO unberührt. Den Insolvenzverwalter treffen gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO sämtliche Buchführungs- und Bilanzierungspflichten.5
189
Die Regelung des § 155 InsO bezieht sich nur auf die handels- und steuerrechtliche Rechnungslegungspflicht. Neben diese Pflicht tritt die Pflicht, die der Insolvenzverwalter als Vermögensverwalter gemäß § 34 Abs. 3 AO i.V.m. §§ 140 bis 148 AO hat.6
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Der Insolvenzverwalter ist verfahrensrechtlich Vermögensverwalter i.S.v. § 34 Abs. 3 AO und hat daher gemäß § 34 Abs. 1 AO die steuerlichen Pflichten des Insolvenzschuldners im Insolvenzverfahren zu erfüllen.7
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Die Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters berechtigen und verpflichten den Insolvenzschuldner persönlich, da dieser steuerrechtsfähig bleibt.8
192
Der Insolvenzschuldner bleibt auch verfahrensrechtlich Beteiligter i.S.v. § 78 AO. Der Schuldner verliert allerdings mit Insolvenzeröffnung die nach § 79 AO erforderliche Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Insolvenzmasse.9
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Der Insolvenzverwalter hat insbesondere die sich aus den §§ 90, 93ff., 137ff., 140ff. und 149ff. AO ergebenden Pflichten zu erfüllen.10
194
Daher ist der Insolvenzverwalter dafür verantwortlich, die laufenden und die noch ausstehenden Steuererklärungen auch für Zeiträume vor Insolvenzeröffnung zu erstellen und abzugeben. Diese Pflichten ergeben sich aus den § 34 Abs. 3 AO, § 155 InsO i.V.m. §§ 140, 141 AO, §§ 25 EStG i.V.m. § 56 EStDV, 31 KStG, § 18 UStG, § 14a GewStG.11
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Die steuerlichen Erklärungspflichten des Insolvenzverwalters umfassen nicht die insolvenzunabhängigen Aufwendungen, wie beispielsweise die Sonderausgaben gemäß § 10 EStG und die außergewöhnlichen Belastungen gemäß § 33 EStG, und nicht das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners.12
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Die Steuererklärungspflicht obliegt dem Insolvenzschuldner in den Fällen der Freigabe einer selbstständigen Tätigkeit – § 35 Abs. 2 InsO – und in den Fällen der Eigenverwaltung – §§ 270ff. InsO.13
197
Sofern der Insolvenzschuldner deshalb neben der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit keine weitere vom Insolvenzbeschlag betroffene Tätigkeit ausübt, und somit keine weiteren Einkünfte i.S.d. §§ 13–22 EStG erzielt, gehört es zum Pflichtenkreis des Insolvenzschuldners, die Einkommensteuererklärung und die Gewinnermittlung – § 60 Abs. 4 EStDV, § 5b EStG – bei der Finanzbehörde einzureichen.14
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Die Steuererklärungspflicht besteht für den Insolvenzverwalter, sofern der Insolvenzschuldner neben der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit noch weitere steuerrelevante Tätigkeiten ausübt. Der Insolvenzschuldner muss bei Vorliegen dieser Konstellation die im insolvenzfreien Bereich verwirklichten Steuertatbestände mitteilen und an der Erstellung der Steuererklärung mitwirken. So muss er beispielsweise für die Zwecke der Einkommensteuer die Gewinnermittlung fertigen und elektronisch einreichen.15
199
In der Situation, dass der Insolvenzschuldner Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit erzielt, ist zu differenzieren, ob aus der Einkommensteuerveranlagung eine Einkommensteuerschuld entsteht oder ein Erstattungsanspruch. Die Einkommensteuerschuld ist keine Masseverbindlichkeit, sondern eine Forderung gegen das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners, sodass die Erklärungspflicht dem Insolvenzschuldner obliegt. Der Erstattungsanspruch aus der Einkommensteuerveranlagung ist hingegen nicht dem insolvenzfreien Vermögen, sondern der Insolvenzmasse zuzurechnen, sodass die Pflicht zur Abgabe der Erklärung den Insolvenzverwalter trifft.16
200
Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Personengesellschaft wird diese zivilrechtlich grundsätzlich aufgelöst, steuerrechtlich besteht sie zunächst fort. Die Pflicht zur Abgabe der Feststellungserklärung obliegt gemäß § 181 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AO weiterhin den Feststellungsbeteiligten. Die Begründung ist darin zu sehen, dass die Erklärungspflicht zu den insolvenzfreien Angelegenheiten der Gesellschaft gehört. Sie berührt die persönliche Sphäre der Gesellschafter und nicht die der Gesellschaft.17
201
Der Insolvenzverwalter ist zur Abgabe der Feststellungserklärung verpflichtet, wenn er der Insolvenzverwalter eines Beteiligten ist, über dessen Vermögen gleichzeitig das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, beispielsweise Komplementär-GmbH bei einer GmbH & Co. KG, und die Beteiligung an der Personengesellschaft zur Insolvenzmasse gehört. Sofern ein Erklärungspflichtiger eine vollständige Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung beim Finanzamt einreicht, führt dies dazu, dass die weiteren Beteiligten von ihrer Erklärungspflicht gemäß § 181 Abs. 2 Satz 3 AO befreit sind.18
202
Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Personengesellschaft obliegt die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärungen für die betrieblichen Steuern dem Insolvenzverwalter. Die Abgabepflicht umfasst die Zeiträume vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens als auch die Zeiträume nach der Eröffnung.19
203
Sofern über das Vermögen eines Gesellschafters das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, besteht regelmäßig lediglich die Pflicht zur Abgabe der Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung gemäß § 181 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO. Aufgrund der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Gesellschafters ist der Insolvenzverwalter gemäß §§ 34 Abs. 3, 181 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zur Abgabe der Steuererklärung verpflichtet. Der Insolvenzverwalter wird gemäß § 181 Abs. 2 Satz 3 AO von der Erklärungspflicht befreit, wenn einer der übrigen Gesellschafter der Erklärungspflicht nachkommt.20
204
Die Einbindung des Insolvenzverwalters in das Steuerschuldverhältnis ist von einer eventuellen Masseunzulänglichkeit unabhängig.21
205
Wird das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Steuerpflichtigen aufgehoben, so erlangt dieser als Insolvenzschuldner kraft Gesetzes seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen wieder zurück. Ab diesem Zeitpunkt kann vom Insolvenzverwalter nicht mehr die Erfüllung steuerlicher Pflichten verlangt werden.22 Nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens kann das FA den Steuerbescheid nicht mehr dem Insolvenzverwalter bekannt geben. Mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens endet das Amt des Insolvenzverwalters, und die Verfügungsbefugnis über die (verbleibende) Masse fällt an den Schuldner zurück (§ 259 Abs. 1 InsO). Es gibt keine vermögensrechtlich verselbstständigte Masse i.S. des § 35 InsO) mehr.23
206
Die Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Erledigung der steuerlichen Angelegenheiten besteht allerdings fort, wenn das Gericht eine Nachtragsverteilung angeordnet hat. Daraus ergibt sich auch die Prozessführungsbefugnis des früheren Insolvenzverwalters.24
207
Mit der Anordnung einer Nachtragsverteilung tritt ein erneuter Insolvenzbeschlag ein.25
208
Im Übrigen entfällt mit Beendigung des Insolvenzverfahrens neben der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis zugleich die Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters.26
3. Stellung des (vorläufigen) Sachwalters
209
Im Falle der Eigenverwaltung ist der Schuldner gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 InsO berechtigt, unter Aufsicht eines Sachwalters die Insolvenzmasse zu verwalten und über sie zu verfügen. Der Sachwalter ist nicht Vermögensverwalter i.S.d. § 34 Abs. 3 AO.27
210
Der Sachwalter hat daher die steuerlichen Pflichten des Schuldners nicht zu erfüllen.28
211
Der Sachwalter kann gemäß § 275 Abs. 2 InsO vom Schuldner verlangen, dass alle eingehenden Gelder nur vom Sachwalter entgegengenommen und Zahlungen nur vom Sachwalter geleistet werden. In diesem Falle handelt es sich um einen „Sachwalter mit Kassenführungsbefugnis“. Der Sachwalter handelt bei der Entgegennahme und bei der Leistung von Zahlungen nach Übernahme der Kassenführung für den Schuldner als dessen gesetzlicher Vertreter.29
212
Mit der Übernahme der Kassenführung wird der Sachwalter gleichwohl nicht Vertreter i.S.v. § 34 Abs. 3 AO. Der Sachwalter kann aber zum Verfügungsberechtigten gemäß § 35 AO werden. Dann hat der Sachwalter die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann.
213
Im Falle der Übernahme der Kassenführung besteht für den Sachwalter die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit, Zahlungen an die Finanzverwaltung zu bewirken, wobei die Verteilungsreihenfolge gemäß § 209 InsO nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit gemäß § 286 InsO zu berücksichtigen ist.30
214
In dieser Lage fallen die Erklärungspflicht, die beim Schuldner verbleibt, und die Zahlungspflicht, die dem Sachwalter mit Kassenführungsbefugnis obliegt, auseinander. Dies erfordert in der Praxis ein besonderes Maß an Zusammenarbeit.
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Für den vorläufigen Sachwalter im Eröffnungsverfahren gelten gemäß § 270b Abs. 1 InsO die vorstehenden Ausführungen sinngemäß.
1 Vgl. Hess, in: Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 24 Rn. 1; Brete/Raik, Beratungs- und Haftungsrisiken in der Krise, S. 17. 2 Vgl. Sternal, in: K. Schmidt, InsO, § 80 Rn. 4. 3 So Schmittmann, in: K. Schmidt, InsO, § 155 Rn. 65. 4 Vgl. BGH, Urt. v. 29.5.1979 – VI ZR 104/78, BGHZ 74, 316ff. = ZIP 1980, 25ff. (m. Anm. Kilger, S. 26); BGH, Urt. v. 10.7.2008 – IX ZR 118/07, ZIP 2008, 1685ff. = ZVI 2008, 530ff.; BGH, Urt. v. 6.9.2010 – IX ZR 121/09, BFH/NV 2011, 189ff. = ZIP 2010, 2164ff. = NZI 2010, 955ff., dazu EWiR 2010, 827 (H.-F. Müller); OLG Koblenz, Urt. v. 9.4.1992 – 5 U 471/91, ZIP 1993, 52ff., dazu EWiR 1993, 67ff. (App). 5 Vgl. Rüsken, in: Klein, AO, § 140 Rn. 15; OFD Hannover v. 27.1.2003, AO-Kartei ND Anhang D Karte 3; Birk, ZInsO 2007, 745ff.; Hess, in: Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 24 Rn. 101; Bales, ZInsO 2010, 2078. 6 So BFH, Beschl. v. 12.11.1992 – IV B 83/91, BStBl. II 1993, S. 65ff. = ZIP 1993, 374ff., dazu EWiR 1993, 219f. (App); so BFH, Urt. v. 5.6.2003 – IV R 36/02, BStBl. II 2003, S. 871ff.; vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 165; Schmittmann, NZI 2014, 596, 597. 7 So BFH, Beschl. v. 15.9.2010 – II B 4/10, BFH/NV 2011, 2f. 8 So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 482; Schmittmann, in: K. Schmidt, InsO, Anhang Steuerrecht Rn. 13. 9 So Schmittmann, in: K. Schmidt, InsO, Anhang Steuerrecht Rn. 13. 10 So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 514. 11 So grundlegend BFH, Urt. v. 10.10.1951 – IV 144/51 U, BStBl. III 1951, S. 212ff.; BFH, Beschl. v. 12.11.1992 – IV B 83/91, ZIP 1993, 374ff. = FR 1993, 309ff.; so BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 143/92, ZIP 1994, 1969ff., dazu EWiR 1995, 165ff. (Braun); vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 165; BFH, Beschl. v. 19.11.2007 – VII B 104/07, BFH/NV 2008, 334ff.; vgl. Hess, in: Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 33 Rn. 2; Krüger, ZInsO 2010, 164ff. 12 Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 498; Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 165. 13 Vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 151, 153; vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 484. 14 Vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 166. 15 Vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 166. 16 So BFH, Urt. v. 24.2.2011 – VI R 21/10, ZIP 2011, 873ff. = DZWiR 2011, 321f., dazu EWiR 2011, 427 (Onusseit); BFH, Urt. v. 27.7.2011 – VI R 9/11, ZIP 2011, 2118ff.; BFH, Beschl. v. 29.1.2010 – VII B 188/09, ZInsO 2010, 768ff.; vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 166. 17 Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 499. 18 Vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 171. 19 So BFH, Urt. v. 10.10.1951 – IV 144/51 U, BStBl. III 1951, S. 212ff.; BFH, Beschl. v. 12.11.1992 – IV B 83/91 FR 1993, 309f.; BFH, Beschl. v. 19.11.2007 – VII B 104/07, BFH/NV 2008, 334f.; vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 501. 20 Vgl. Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 171. 21 So BFH, Urt. v. 6.11.2012 – VII R 72/11, BFHE 239, 15ff. = ZIP 2013, 83ff. = ZVI 2013, 148ff. = BStBl. II 2013, S. 141f.; Schmittmann, StuB 2013, 67f. 22 Vgl. BFH, Beschl. v. 22.10.2007 – VIII B 55/07, BFH/NV 2008, 187 Rn. 18. 23 So BFH, Urt. v. 2.4.2019 – IX R 21/17, Rn. 19 BFHE 264, 109ff. = BStBl. II 2019, S. 481ff. = BFH/NV 2019, 880ff. = ZIP 2019, 1333ff. = EWiR 2019, 471f. (Schmittmann) = NZI 2019, 674 mit Anm. Hoffmann = Verbraucherinsolvenz aktuell 2020, 15 mit Anm. Harder = BB 2019, 1767 Rn. 19; Busch/Winkens/Büker, Insolvenzrecht und Steuern visuell, S. 155. 24 So BFH, Urt. v. 6.7.2011 – II R 34/10, BFH/NV 2012, 10f. = NZI 2011, 911f. 25 So BFH, Urt. v. 6.7.2011 – II R 34/10, BFH/NV 2012, 10f. = NZI 2011, 911f.; BGH, Beschl. v. 12.1.2006 – IX ZB 239/04, ZIP 2006, 340ff. = ZVI 2006, 58ff., dazu EWiR 2006, 245f. (Beck). 26 So BFH, Urt. v. 6.7.2011 – II R 34/10, BFH/NV 2012, 10f. = NZI 2011, 911f.; BFH, Beschl. v. 23.8.1993 – V B 135/91, BFH/NV 1994, 186ff.; BGH, Urt. v. 10.12.2009 – IX ZR 206/08, ZIP 2010, 102ff. = ZVI 2010, 269ff., dazu EWiR 2010, 193f. (Rendels/Körner). 27 Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rn. 484, BFH, Urt. v. 18.5.1988 – X R 27/80, BFHE 153, 299ff. = ZIP 1989, 123ff. = BStBl. I 1988, S. 716ff. zu § 92 VerglO. 28 So Roth, Insolvenz – Steuerrecht, Rn. 3.24; Schmittmann, in: K. Schmidt, InsO, Anhang Steuerrecht Rn. 16. 29 So Undritz, in: K. Schmidt, InsO, § 276 Rn. 7. 30 So Undritz, in: K. Schmidt, InsO, § 276 Rn. 7.
II. Problemfelder aus dem Zeitraum vor Insolvenzantragstellung bzw. vor Anordnung von Sicherungsmaßnahmen
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Der Zeitraum vor Insolvenzantragstellung bzw. vor Anordnung von Sicherungsmaßnahmen bedarf der sorgfältigen Beachtung durch den Insolvenzverwalter.
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Die Insolvenzantragstellung selbst führt nicht zu Einschränkungen in der Handlungsfähigkeit des Schuldners bzw. seiner Organe. Gleichwohl ist der Eingang des Insolvenzantrags beim Insolvenzgericht keinesfalls unbeachtlich, da eine Reihe von Insolvenzanfechtungstatbeständen, §§ 129ff. InsO, an die Insolvenzantragstellung anknüpft. Dies betrifft die Anfechtung kongruenter Deckungen gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO, die Anfechtung inkongruenter Deckungen gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO, die Anfechtung unmittelbar nachteiliger Rechtshandlungen gemäß § 133 Abs. 1 Nr. 2 InsO, die Vorsatzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO sowie die Anfechtung im Zusammenhang mit Gesellschafterdarlehen gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO.
218
Verfügungsbeschränkungen treten durch die Insolvenzantragstellung nicht ein.
219
Maßgeblich ist der Eingang des Insolvenzantrags beim Insolvenzgericht. Auf den Eingang beim Amtsgericht kommt es nicht an.31
1. Verfahrensrecht
220
In steuerverfahrensrechtlicher Hinsicht hat die Stellung eines Insolvenzantrags keine Bedeutung. Auch die Bestellung eines Gutachters durch das Insolvenzgericht ist unbeachtlich. Maßgebliche Rechtsfolgen ergeben sich erst dann, wenn das Insolvenzgericht Sicherungsmaßnahmen anordnet, insbesondere einen sog. „starken“ oder „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt.
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Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, die rückständigen Steuererklärungen, auch aus der Zeit vor Insolvenzantragstellung bzw. Eröffnung des Insolvenzverfahrens anzufertigen und einzureichen. Die Regelung des § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO betrifft auch die vom Schuldner bislang nicht erfüllten Verpflichtungen. Da der Insolvenzverwalter nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 148 Abs. 1 InsO das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen sofort in Besitz und Verwaltung zu nehmen hat (§ 148 Abs. 1 InsO), hat er auch die der Rechnungslegung dienenden Unterlagen des Schuldners gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 InsO, nachdem die besondere Verwertungsvorschrift des § 117 Abs. 2 KO weggefallen ist, in Besitz zu nehmen.32